Wer jemals auf einer Webseite auf ein Link geklickt hat wie dieses, weiß, wie man mit Hypertext (englische Aussprache hier) umgeht. Wie legt man ein solches Link an? Die Erklärung ist vielleicht etwas trocken, aber sie erleichtert es zu verstehen, um was es sich bei Hypertext handelt.

Die meisten Webseiten sind in HTML geschrieben, einem Code zum Verfassen von Hypertext. Bei einem HTML-Dokument wie dem, das ich hier gerade schreibe, stellt der Browser Code wie den folgenden als Link (oder Hyperlink) dar:

<a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext"
title="Hypertext – Wikipedia">dieses</a>

Das Wort dieses ist mit zwei Tags — das sind die Zeichenketten in den Spitzklammern, englische Aussprache hier — als Links ausgezeichnet oder markiert. Die hintere Auszeichnung, das Schlusstag </a>, sagt nur, dass der markierte Bereich zu Ende ist. Die vordere Auszeichnung, das Starttag, hat mehrere Funktionen. Der Buchstabe a (eigentlich ein Elementnamen), sagt, dass es sich bei dem markierten Textteil dieses um ein Link handelt, eine Verknüpfung mit anderen Informationen. Ein Webbrowser gibt ein solches Link in der Regel farbig und unterstrichen wieder; wenn man mit der Maus darüberfährt, verändert sich der Cursor in eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. (Das a steht für das englische Wort anchor, Anker.) Die beiden Zeichenketten href="http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext" und title="Hypertext – Wikipedia" sind Attribute. Der Wert des ersten Attributs — die Zeichenkette http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext" — bezeichnet eine bestimmte Ressource im Web; nämlich den Artikel über Hypertext in der deutschsprachigen Wikipedia. Wenn ich im Browser auf das Link klicke, öffnet sich dieser Artikel. Der Wert des zweiten Attributs — Hypertext – Wikipedia — sagt mir, um welche Ressource es sich handelt. Wenn ich das Link mit der Maus überfahre, öffnet sich ein ganz kleines Fenster und gibt mit diesen Titel an. Die Buchstabenkette href, der Name des ersten Attributs, steht für hyper reference, deutsch: Hyper-Verweis. Ein Webbrowser, also die Software, mit der ich ein HTML-Dokument lese, ist dazu in der Lage, diesem Verweis zu folgen und sein Ziel darzustellen, im selben oder in einem anderen Browserfenster. Dazu braucht er natürlich sehr viel Infrastruktur, um die es hier jetzt nicht geht.

Ein HTML-Dokument — also ein Text, der in der Hypertext Markup Language geschrieben ist — wird durch Links zu Hypertext. Hypertext ist nicht einfach Text, der mit anderem Text verknüpft ist. Jeder Text bezieht sich auf andere Texte; die Intertextualität ist ein altes Thema in Sprachwissenschaft, Linguistik und Philosophie. Das Besondere an Hypertext ist, dass ich der Verknüpfung sofort folgen kann, dass ich die Verweise nicht nur in meinem Kopf realisiere — eventuell mit Hilfe von Büchern oder anderen Texten, die ich mir besorgt habe. Mit Hypertext habe ich es zu tun, wenn ich — z.B. indem ich auf ein Link klicke — direkt von dem Text, den ich lese, zu einem anderen Text übergehen kann, auf den der erste Text verweist. Aber auch diese Übergangsmöglichkeit reicht eigentlich nicht aus, um Hypertext zu definieren: Zwei Texte die aufeinander verweisen und die nebeneinander vor mir auf dem Tisch liegen, machen noch keinen Hypertext. Zum Hypertext gehört, dass der eine Text die Verbindung zum anderen (das Link) in sich enthält. Goethes Werther ist kein Hypertext, weil ich auf ihn verlinke; aber dieses Link macht meinen Text hypertextuell.

Hypertext ist Text, der mir als Leser die technische Möglichkeit bietet, die Lektüre sofort durch andere Texte, Textpassagen oder Informationen als die unmittelbar benachbarten fortzusetzen. Dabei verknüpft die Autorin nur bestimmte Teile eines Texts mit bestimmten Zielen. Als Leser kann ich diese Verknüpfungen realisieren, muss es aber nicht. Hypertext ist interaktiver Text; ich kann, über das Lesen hinaus, etwas mit ihm machen, Informationen mit ihm ansteuern. Ein Hypertext-Dokument kann ich — selbst wenn es nur ein einziges Link enthält — nicht nur lesen, sondern als Anwendung oder Programm benutzen.

Die Ausdrücke Anwendung und Programm stammen aus der Informatik; Hypertext wird mit Computern (im weitesten Sinn) geschrieben und rezipiert. Das bedeutet aber nicht, dass es sich bei Hypertext um so etwas wie Computertext handelt; Computer werden dazu benutzt, um Hypertexte zu verwirklichen, so wie sie auch dazu benutzt werden, Berechnungen durchzuführen. Hypertexte sind Texte, die die Möglichkeit bieten, mit Informationen zu interagieren, die mit Computern (und Netzwerken) in Echtzeit produziert oder bereitgestellt werden.

Noch zwei Hinweise:

Den Ausdruck Hypertext hat Ted Nelson in der 60er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt. Das Konzept selbst ist älter; oft wird Vannevar Bushs Aufsatz As We May Think von 1945 als erste Beschreibung eines Hypertext-Systems genannt. Durchgesetzt hat sich Hypertext durch das World Wide Web, das nichts anderes ist als ein weltweites Hypertext-System auf der Basis des Internet. (Das Internet ist mit dem World Wide Web nicht identisch; Email ist zum Beispiel auch ein Teil des Internet, hat aber mit dem WWW ursprünglich nichts zu tun.) Im World Wide Web wurde bei weitem nicht alles verwirklicht, was Ted Nelson und andere Vordenker des Hypertexts entworfen haben. Umgekehrt bestimmt vor allem die Entwicklung des WWW, was heute Hypertext ist. Zur Zeit wird die fünfte Version von HTML definiert; HTML ist nach wie vor das wichtigste technische Format für Hypertext, aber nicht das einzige.

Formulierungen wie As we may think oder Ted Nelsons Motto SOMEBODY’S GOT TO DISAGREE legen es nahe: Hypertext ist eine Sache der Leute, die Jean-Pol Martin Weltverbesserer nennt. So wie der Buchdruck eine Kulturrevolution ausgelöst hat, tut es heute der Hypertext — und dieser Wirkung haben seine Vordenker beabsichtigt. Links unterstützen vernetztes, nichtlineares Denken; sie verbinden nicht nur Texte, sondern auch Menschen. Das Video The Machine is Us von Michael Wesh beschwört das utopische Potenzial, das der Hypertext noch nicht verloren hat:

[Erste Version dieses Textes: 23.7.2008]

Heute habe ich (als Gast) eine Doppelstunde Medienethik unterrichtet. Nicht ungern, denn ich kann dabei an mein — unterbrochenes — Philosophiestudium anschließen. Ich glaube allerdings nicht, dass es so etwas wie eine eigene Medienethik gibt. Wenn man überhaupt ethische Regeln begründen kann, gelten sie überall, schon der Ausdruck Medienethik gehört für mich in eine gemeinsame Schublade mit Sexualmoral, Grundwerten und anderern Verlegenheitskomposita.
Trotzdem habe ich versucht, den Studenten so etwas wie Richtlinien oder Werte für soziale Medien vorzuschlagen. Ich bin allerdings nicht sicher, ob es sich dabei überhaupt um ethische Begriffe handelt, und vielleicht gehören sie auch nicht auf dieselbe Ebene. An drei ethischen Prinzipien kann man sich möglicherweise bei Webmedien orientieren:

  1. Transparenz
  2. Dialogbereitschaft
  3. Respekt

Keiner dieser Werte betrifft nur Online-Medien (aber woher sollten auch eigene Werte für Online-Medien stammen?) Aber alle drei gehen Online-Medien in einer besonderen Weise an.

Transparenz ist ein Wert, der bei anderen Medien und jenseits anderer Medien nur bedingt gilt, weil dort schlicht begrenzt ist, wieviel publiziert werden kann. In einer Zeitung erwarte ich keine Fussnoten; es ist auch nicht möglich, dass eine Journalistin alle Details ihrer Recherche publiziert. Online ist es dagegen möglich, die Genese einer Publikation mitzupublizieren, und auch wenn sich dafür nur wenige interessieren werden — es gibt keine Grund sie nicht zu veröffentlichen. So haben alle Leser/User wenigstens eine Gelegenheit nachzuvollziehen, wie ein bestimmtes Ergebnis zustande gekommen ist. Erst recht ist bei einem Online-Medium zu erwarten, dass alle möglichen Befangenheiten einer Autorin offen gelegt werden.

Dialogbereitschaft gehört wahrscheinlich zu jeder Form von Ethik; sie ist eine Voraussetzung ethischen Argumentierens. Soziale Medien bauen aber direkt auf ihr auf. Dialogbereitschaft bedeutet dabei, dass es immer möglich sein muss, dass Leser und Betroffene antworten. Ich muss also so arbeiten, dass ich dem anderen seine Fähigkeit zu antworten nicht nehme oder abspreche, etwa durch verletzende Polemik. Die Dialogbereitschaft kann erst aufhören, wo der Adressat nicht zum Dialog willens oder fähig ist. Soziale Medien sollten also vorsichtiger sein als herkömmliche Massenmedien, die nicht auf Antworten ihrer Nutzerinnen angelegt sind; bashing ist in ihnen mindestens schlechter Stil, auch wenn sie dadurch gegenüber der älteren Konkurrenz an Prägnanz verlieren.

Respekt ist für mich der schwierigste der drei Begriffe, aber der entscheidende. Mit Respekt meine ich Rücksicht auf die Bereitschaft oder Fähigkeit, Publikationen über sich zu ertragen. Warum ist es verwerflich, Hinrichtungsvideos zu publizieren oder anzusehen? Es wird dabei etwas veröffentlicht, das nicht öffentlich gemacht werden soll, die Publikation ist ein Teil der Entwürdigung, die das eigentliche Ziel jeder Hinrichtung ist. Es wird ein Tabu gebrochen — vielleicht geht es hier um einen Bereich jenseits oder diesseits einer rationalen ethischen Argumentation. Respektlos ist es aber auch — um ein viel alltäglicheres Beispiel zu nennen –, in Konversationen einzugreifen, um ein Produkt zu verkaufen. Die Frage des Respekts stellt sich bei Online-Medien besonders heftig, weil sie die tradionellen Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem verschieben oder sogar aufheben. Schon die Publikation eines Namens oder Bildes kann respektlos sein.

Sicher kann man Transparenz, Dialogbereitschaft und Respekt nicht voneinander trennen. Die Perspektive ist bei diesen drei Prinzipien aber unterschiedlich: Transparenz betrifft die Autorin selbst, Dialogbereitschaft ihr Verhältnis zu ihrem Publikum und Respekt die Beziehung zu Dritten, über die publiziert wird. Vielleicht forden sich die drei Werte deshalb gegenseitig.

[Letzte Version: 7.6.2007]

Am Dienstag bin ich mit dem Zug von München nach Graz gefahren. Ich habe keine UMTS-Karte und war offline — eine Gelegenheit, mir Gedanken über das Thema zu machen, auf das der Untertitel dieses Blogs hinweist: Bildung im Web, online-literacy oder — für mich die beste Alternative: network literacies. Was ist mit literacy im Web gemeint? Ich bin mit dem Thema noch lange nicht fertig; ich habe eine page dafür angelegt, die ich gelegentlich aktualisieren möchte, und ich bitte um Kommentare: Wozu network literacies?

network literacies sind eine Form der Bildung, und Bildung bedeutet immer Teilhabe an Kommunikation. Wer nicht genug gebildet ist, kann an Kommunikation, die für ihn wichtig sein könnte, nicht oder nicht ausreichend teilnehmen. Wer nicht humanistisch gebildet ist, findet keinen Zugang zu einem Teil der literarischen Tradition. Selbst der altertümliche Ausdruck Herzensbildung meint die Teilhabe an der Gefühlen anderer, die durch Erfahrung und Erziehung kultivierte Fähigkeit, sich in andere einzufühlen.

Bildung als Teilhabe

Wer nicht über network literacies verfügt, kann die Netzmedien, kann das Internet und die mit ihm amalgamierten mobilen Medien nicht ausreichend nutzen, um an wichtigen Gebieten der gesellschaftlichen und privaten Kommunikation teilzuhaben. Umgekehrt: network literacies sind die Fähigkeiten oder die Kompetenzen, die man benötigt, um an der auf dem Internet und mobiler Kommunikation beruhenden aktuellen Zivilisation teilzunehmen. Der Ausdruck meint also einerseits technische Fähigkeiten. Andererseits bezieht er sich aber auf die Kompetenz, diese Fähigkeiten kommunikativ zu verwenden. Das lässt sich durch eine Analogie mit der humanistischen Bildung verdeutlichen. Zur humanistischen Bildung gehören technische Fähigkeiten, z.B. ein gewisses Maß an Kenntnis antiker Sprachen. Die humanistischen Bildung besteht aber nicht in diesen technischen Fähigkeiten sondern in der Kompetenz, sie situationsbezogen zu benutzen. Und diese Kompetenz, sie situationsbezogen zu benutzen, hängt von einem sozialen Wissen um das, was möglich und angemessen ist, ab.

Eine Umwelt mit einem Netzwerk teilen

Wer network literacies besitzt, kann Situationen so übersetzen, dass er als Angehöriger einer im Netz kommunizierenden Gruppe mit ihnen umgehen kann. Christoph Chorherr hat gezeigt, dass er die Ausgangssituation der Grünen im österreichischen Wahlkampf so interpretieren kann, dass eine im Netz kommunizierende Gruppe, nämlich die österreichische Blogger-Szene, produktiv an ihr mitarbeitet. Dazu gehören technische Kenntnisse: Chorherr weiß, wie man ein Weblog schreibt. Diese technische Fähigkeit allein reicht aber nicht, um andere Blogger dazu zu bringen, Ideen für den grünen Wahlkampf zu entwickeln. Chorherr verwendet seine technischen Fähigkeiten, um mit anderen ein Problem zu lösen — anders gesagt: um eine Situation in ein mit anderen lösbares Problem zu verwandeln. Die Situation wird damit zur Umwelt eines Netzwerks (Netzwerk hier verstanden als eine Form der sozialen Organisation), und das Netzwerk verändert sich, indem es sich auf diese Umwelt bezieht.

Technisches und soziales Wissen

Wenn diese Überlegung richtig ist, gehören zu den network literacies zwei Komponenten: einerseits technische (zu denen ich auch die sprachlichen und gestalterischen rechne) und andererseits soziales Wissen. Das soziale Wissen besteht in der Fähigkeit, in einer online kommunizierenden Gruppe auf Situationen zu reagieren bzw. darin, Situationen in einer online kommunizierenden Gruppe zu interpretieren. Geht man von Clay Shirkys Stufen der Gruppenbildung aus — Teilen, Kollaboration, kollektive Aktion — dann beginnen network literacies mit der Fähigkeit, Informationen online so zu teilen, dass die Möglichkeiten der Gruppenmitglieder gesteigert werden. Sie setzen sich fort in den Fähigkeiten, gemeinsam etwas zu schaffen und gemeinsam Ziele zu erreichen, z.B. politisch zu agieren.

Probleme lösbarer machen

Was erspare ich Menschen, denen ich network literacies vermittele? Sie können spezifische Probleme leichter lösen, weil sie von Gruppen unterstützt werden, mit denen sie online (aber meist nicht nur online) verbunden sind. Sie werden nicht versuchen, auf Situationen, die sich in die Umwelt einer online agierenden Gruppe übersetzen lassen, zu antworten, indem sie sich individuell anstrengen oder Organisationsformen aus der analogen Welt anwenden. Sie nutzen die Ressourcen online kommunizierender Gruppen und stellen ihre Ressourcen einem Netzwerk zur Verfügung zu stellen. Ich nehme meine eigene Situation als Lehrender als Beispiel: auf network literacies greife ich in dem Maß zurück, in dem ich Situationen, die ich im Unterricht bewältigen muss, in die Umwelt der online vernetzten learning community des Studiengangs, in dem ich arbeite, übersetze; zu ihr gehören viele Studierende und eine hoffentlich wachsende Zahl von Lehrenden. Die Studenten untereinander und ich als Lehrender können uns über Lernziele, Probleme, Bedarf nach zusätzlichen Informationen und wichtige Nachrichten auf dem Laufenden halten und uns gegenseitig unterstützen. Eine zweite — mit der ersten verschränkte — Gruppe bilden die Menschen außerhalb des Studiengangs, mit denen ich via Blog, Twitter oder Facebook in Verbindung stehe. Auch mit ihnen teile ich Fragestellungen, Interessen und Probleme. Um die Ressourcen beider Gruppen zu nutzen und ihnen meine Ressourcen zur Verfügung zu stellen, reicht technisches Wissen allein nicht aus. Ich muss besondere, individuelle Situationen in und für ein Netzwerk interpretieren.

[Letzte Version: 17. Juli 2008]

Die Synapsen des World Wide Web heißen Links. Von den Servern über die Browser bis zu den Suchmaschinen hat die Infrastruktur des Web nur einen Sinn: An jedem Ort der Welt kann jede Nutzerin jedem Verweis folgen — verwiesen wird auf Texte, auf Medien und immer mehr auch auf Personen, Orte, Institutionen und Dienste.

Verlinkter Text, Hypertext lässt Bibliotheken in der Vorgeschichte verschwinden, so wie er die gedruckten Lexika überflüssig gemacht hat. Links sind zum wichtigsten Hilfsmittel für den Austauch, die Vermittlung und die Erweiterung des Wissens geworden: ohne Links keine Wikipedia und kein Google.

Warum schreibe ich diese Binsenweisheiten: Weil ich auf drei Texte gestoßen bin, die angehenden Journalistinnen vermitteln können, wie und vor allem warum man Links setzt. In meinem Unterricht werde ich sie zur Pflichtlektüre erklären.

Am detailreichsten Burkhard Schröder in der Telepolis: Project Xanadu, reloaded. Mit deutscher Gründlichkeit und auch mit deutschem Ernst führt er in die Kunst des Verlinkens journalistischer Text ein und hält zugleich ein Plädoyer: Zu berichten, ohne auf online erreichbare Belege und Erklärungen zu verweisen, verstößt nicht nur gegen die Regeln der journalistischen Professionalität, sondern auch gegen die journalistische Ethik. Wer nicht oder schlecht verlinkt, erklärt seine Leserinnen für dümmer als sich selbst.

Fast so pointiert wie ein Katechismus: Christiane Schulzki-Haddouti, Die Linkrevolution. Sie beschreibt, wie sich die soziale Rolle von Journalistinnen durch Links verändert. Hypertext-Autoren schreiben nicht nur anders als ihre Print-Kollegen; sie begeben sie sich in andere Verbindungen zu Lesern, Kollegen und Konkurrenten. Durch Links verknüpfen sie ihre Arbeit mit den Texten professioneller und nicht professioneller Schreiber; Links verdanken sie ihre Relevanz und ihre Reputation.

Wer die Texte von Burkhard Schröder und Christiane Schulzki-Haddouti kennt, wird von Robert Niles (How, and where, to hyperlink within a news story) nicht viel Neues lernen. Lesenswert ist sein Artikel trotzdem, weil er außer attribution, der Angabe von Quellenangaben, und context, der Herstellung von Zusammenhang, noch eine dritte Aufgabe der Links betont: in ihnen sind easter eggs versteckt. Links machen einen Text und seine Autorin nicht nur glaubwürdiger und inhaltsreicher: sie schenken den Lesern etwas, stoßen sie auf auf Unerwartetes, laden sie zu neuen Beziehungen ein. Den Klick auf ein Link diktiert das Lustprinzip nicht weniger als das Realitätsprinzip.

Christoph Chorherr ruft zum Crowdsourcing für den grünen Wahlkampf im Sommer auf; Helge unterstützt ihn als erster aktiv. Ein paar weitere Plakatentwürfe gibt es schon — siehe die Kommentare zu Christoph Chorherrs Post. Wer Ideen und grafisches Geschick hat: bitte mitmachen! Österreich hat bessere Kampagnen verdient — und eine Regierung mit grüner Beteiligung.

Es geht nicht nur um Plakate, sondern auch um andere Medien, die man im Wahlkampf verwenden kann, z.B. Blogs. In einem Mail hat mich Chorherr gebeten:

auf Ihrem blog einen Hinweis z.B. über „wie
können blogs im Wahlkampf genutzt werden“

zu bringen. Max Kossatz hat gerade sehr gut beschrieben, wie er sich einen grünen Internetwahlkampf vorstellt. Ich bin mit meinen Ideen für Blogs und soziale Medien im grünen Wahlkampf noch nicht so weit. Ein paar Vorschläge — hoffentlich nicht zu akademisch:

Supporter-Blogs

Blogs funktionieren nur, wenn jemand authentisch spricht und etwas zu sagen hat. Sie sind als reines Instrument nicht gut geeignet, weil der Zweck der Authentizität schadet. Blogs kommen im Wahlkampf in Frage, wenn Menschen, die sich zur Wahl stellen, in ihnen mit potenziellen Wählern sprechen und sich auch in Frage stellen lassen. Sie müssen in ihren Blogs politisch diskutieren; es reicht nicht, ein Weblog als Sprachrohr zu benutzen und es nach der Wahl zu Datenmüll werden zu lassen.

Wenn ein Spitzenpolitiker nicht schon bloggt, wird er es nicht in den nächsten Wochen lernen. Aber es wäre ja auch möglich, dass Nichtpolitiker politische Blogs schreiben. Grüne Supporter-Blogs wären interessant; sie dürften nicht zensiert werden, und grüne Berufspoltiker sollten sich in ihnen, z.B. durch Kommentare, der Diskussion stellen. (Vielleicht funktionieren Social Media am besten, wenn sie von Supportern entwickelt werden, die nicht von den vorhandenen Parteistrukturen abhängen. Die Kampagnen für Dean und Obama in den USA waren ja auch keine offiziellen Parteikampagnen.)

Zielgruppen-Blogs

Social Media wie Blogs sind keine Massenmedien; sie sind nur selten dazu geeignet, die so genannten großen Themen zu behandeln — also die Themen, die zu einem guten Teil eben von den Massenmedien gemacht werden. Mit Blogs und anderen sozialen Medien können Teilöffentlichkeiten, kleine und kleinste Gruppen kommunizieren und sich organisieren. In einer Kampagne kann man sie benutzen, um politische Ziele mit solchen Gruppen zu diskutieren und sich dann auch zu verpflichten, diese Diskussionen in die parlamentarische Arbeit einzubringen. Ich versuche, ein Beispiel aus meinem eigenen Erfahrungsbereich zu formulieren:

Ich bin Lehrender an einer Fachhochschule. Die rechtliche Basis für die österreichischen Fachhochschulen ist das Fachhochschulstudiengesetz; es soll bald novelliert werden. Bei dieser Novellierung geht es unter anderem darum, wie die akademische Selbstverwaltung an den Fachhochschulen in Zukunft aussehen wird, und welche Rechte die Betreiber haben werden. Für die Lehrenden und für die Studierenden an den FHs sind das wichtige Fragen. Bisher werden sie nur in kleinen Zirkeln diskutiert; Politiker, Lobbyisten und Bürokraten dürften versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Wenn es ein grünes Blog oder ein ähnliches Medium speziell zum Thema Fachhochschulen und Fachhochschulstudiengesetz gäbe, könnte man die Studenten und die Lehrenden an den FHs gezielt ansprechen und ihnen die Möglichkeit geben, ihre Ideen zu artikulieren.

Grüner Ideensturm

Die Grünen haben nur dann eine Chance, in die nächste Regierung zu kommen, wenn sie ihre Wählerschaft verbreitern (auch wenn Fachleute für Politmarketing davon ausgehen, dass es in einem Wahlkampf vor allem darauf ankommt, die eigenen Anhänger zu mobilisieren). Deshalb müsste man überlegen, wo man mit Webmedien Menschen erreichen kann, die nicht zur traditionellen grünen Klientel gehöre. Das bekannteste Webmedium ist wahrscheinlich YouTube, hier müsste man also vor allem präsent sein. Lisa Rücker hat im letzten Grazer Wahlkampf Videointerviews mit Bürgern geführt; das könnte viele interessieren, wenn die Interviews nicht gefakt wirken.

Vorstellen könnte ich mir auch Ratings/Umfragen, in denen Bürgerinnen die Qualität ihrer Umwelt oder ihre soziale Lage beurteilen, und in denen sie Wünsche an die Politik formulieren. Die Befragungen müssen nicht online vorgenommen werden, aber die Ergebnisse sollten immer im Netz stehen. Die Partei müsste damit zeigen, dass sie sich nicht nur durch Meinungsumfagen, Experten und Parteimitglieder über die Interessen der Wählerinnen informiert, sondern dass sie die Wähler selbst zu Wort kommen lässt — und sich an die Aufträge der Bürgerinnen auch gebunden fühlt.

Helge schreibt:

let’s blogstorm,

und es liegt wirklich nahe, so etwas wie den IdeaStorm von Dell aufzugreifen und eine Plattform für konkrete politische Vorschläge von Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen. Die Teilnehmer können die Vorschläge bewerten, und die grünen Mandatare müssen sich verpflichten, sie zumindest aufzunehmen. Missbrauch kann man dadurch vorbeugen, dass man vorab Spielregeln definiert: Kein Rassismus, keine Diffamierungen, keine Vorschläge ohne Finanzierungskonzept.

Es ist nicht dasselbe, etwas theoretisch zu erfassen oder es praktisch zu erfahren. In den vergangenen Tagen habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass soziale Medien für die Öffentlichkeitsarbeit der Hochschule, an der ich arbeite, die Hauptrolle spielen — auch wenn es Lehrende und PR-Abteilung noch nicht wissen.

Aufnahmegespräche

Gestern und vorgestern habe ich an den Aufnahmegesprächen für unseren Studiengang teilgenommen. In diesem Jahr haben sich über 180 junge Leute für ein Studium bei uns beworben; etwa 120 wurden zum Aufnahmeverfahren eingeladen. Entscheidend dafür ist die Qualität der eingereichten Mappe mit Texten. Die eingeladenenen Bewerber nehmen dann an einem Studierfähigkeitstest teil, schreiben eine Klausur und führen ein Gespräch mit dem Studiengangsleiter, einer Psychologin und einer oder einem weiteren Lehrenden. Für jeden dieser Teile erhalten sie Punkte; aufgenommen werden dann die Bewerberinnen mit der höchsten Punktzahl.

Eine Bemerkung vorab: Die Bewerber, die wir bei aufnehmen, haben ein hohes Niveau. Wir können junge Leute aussuchen, die sehr begabt wirken und hohes Interesse für die Arbeit in einem Medienberuf zeigen. Wir haben da sicher einen Vorteil gegenüber den Universitäten; für viele unserer Bewerberinnen ist ein Universitätsstudium die zweite Option, falls sie von uns nicht genommen werden. Hoffentlich geben wir auch unseren Unterricht auf einem Niveau, das über dem Durchschnitt liegt!

Was haben die Profs zu bieten? Informationsquelle StudiVZ

Sehr interessant fand ich, wie sich die Bewerber über unseren Studiengang informiert hatten. Ich habe viele von ihnen danach gefragt. Für die meisten war – außer natürlich der Website der Fachhochschule – das StudiVZ eine der wichtigsten Informationsquellen. Wir wissen auch aus Gesprächen mit unseren Studierenden, wie viele Anfragen von Bewerbern sie erreichen, nicht nur im StudiVZ sondern auch über Email. Dabei geht es natürlich nicht nur um Formalia wie den Ablauf des Studiums. Die Bewerberinnen informieren sich auch detailliert über den Unterricht und auch über die einzelnen Lehrenden. Mit anderen Worten: Wir unterrichten in einer Öffentlichkeit, die vielen von uns sicher noch gar nicht als solche bewusst ist.

Unsere PR-Abteilung sind die Studenten

Soziale Netzwerke wie das StudiVZ sind erst in den vergangenen zwei Jahren so wichtig für die Studierenden geworden. Vor einem Jahr lief die Kommunikationen über die geplante Verlagerung unseres Studiengangs in eine Kleinstadt ebenfalls zu einem großen Teil in diesem Medium. Inzwischen dürfte es für die PR unseres Studiengangs wichtiger sein als alle offiziellen Kanäle — jedenfalls was die Kommunikation mit Schülern und potenziellen Bewerbern angeht.

Das bedeutet auch, dass die Studierenden die PR für unseren Studiengang machen, und zwar in einer Weise, die wir nicht korrigieren können, weil wir nicht einmal Einsicht in sie haben. Natürlich handelt es sich dabei nicht um etwas grundsätzlich anderes als die herkömmliche Mund-zu-Mund Propaganda, aber diese Mund-zu-Mund Propaganda findet nun in einem anderen Medium statt und kann sehr schnell eine große Zahl von Menschen erreichen, während sie früher nur unter persönlichen Bekannten funktionierte. Damit haben die Studierenden eine Macht, die wahrscheinlich den meisten Lehrenden und vermutlich auch vielen Studenten selbst noch gar nicht bewusst ist.

Unterrichts-Feedback im Blog

Zufällig bin ich dann am Nachmittag nach meinem letzten Aufnahmegespräch auf einen Blog-Eintrag gestossen, indem ein Student — Michael Thurm — über einige leider eher negative Erfahrungen in unserem Unterricht berichtet. Auch hier handelt es sich um eine Form der Öffentlichkeit, die sich von der Institution selbst nicht kontrollieren (jedenfalls nicht kommandieren) lässt, und die ein enormes Potenzial hat. Wir lernen — und lehren — nicht mehr in geschlossenen Räumen. Wir arbeiten in einer Öffentlichkeit, die bereits zu einem großen Teil im Netz stattfindet. Wir müssen unseren Unterricht und auch unseren Umgang mit den Studenten daran anpassen, wenn wir nicht den Kredit bei unseren Zielgruppen verspielen wollen.

Die Öffentlichkeit löst sich auf

Ich möchte noch einen Gedanken anschließen, der sich nicht nur auf die Kommunikation an der Hochschule bezieht (und mit dem ich den Nordpol neu entdecke). Ich denke immer noch ausgehend von einem Gegensatz zwischen öffentlicher und privater Sphäre und berücksichtige zu selten, dass es dazwischen eine Vielfalt unterschiedliche Öffentlichkeiten gibt. Interessant an den neuen Form der Öffentlichkeit im Web ist vielleicht gar nicht so sehr, welche neuen Gegenstücke zu den Massenmedien sich dort entwickeln — so wichtig dass auch ist. Interessant ist vor allem, wie sich ganz neue Formen der Kommunikation in und zwischen Ziel- oder Bezugsgruppen unterschiedlichster Art entwickeln, die sich vielfach erst über das Web als Gruppen formieren können. Letztlich dürfte diese Kommunikationen in kleineren und vielfach — wie beim StudiVZ durchaus exklusiven — Gruppen folgenreicher sein als das Ersetzen von Medien wie Zeitung und Fernsehen durch Angebote im Netz.

Am Wochenende habe ich einige österreichische Blogs nachgelesen. Nicht wenige beschäftigten sich mit dem jüngsten Schwenk der SPÖ und mit dem Brief Gusenbauers und Faymanns an den Herausgeber der Krone. Es ist bemerkenswert, dass der Schwenk der Partei in allen Blogs deutlich kritisiert wird. Mehrere Blogs loben dagegen die Kritik der österreichischen Außenministerin am Versuch Dichands, Politik in der Nachfolge eines Hugenberg oder auch Berlusconi zu machen. (Ein paar Links: Beindruckend Unbeindruckt, Plassnik bissig. Chapeau!, SPÖ macht Rechnung ohne Polit-Blogger.)

Manchmal frage ich mich, ob der populistische Schwenk der SPÖ nicht ein weiteres Signal dafür ist, dass die Sozialdemokratie insgesamt gesellschaftspolitisch nicht mehr viel zu sagen hat, dass sie, wenn man ehrlich ist, am Ende — dass sie überflüssig geworden ist. Mit ihrem Brief zeigen die Vorsitzenden der SPÖ, dass es überhaupt keine ideologische Position mehr gibt, die sie nicht bereit wären, über den Haufen zu werfen, wenn es der Machterhaltung in einer verzweifelten Situation dient. Dass sich die SPÖ an das Lager der Europa-Skeptiker anbiedert, und dass sie vor einer immer wieder mit rechtsradikalen Klischees operierenden Boulevard-Zeitung zu Kreuze kriecht, ist um so bedenklicher, als sie keinen anderen politischen Willen zu erkennen gibt als die Absicht, Wählerstimmen zur Amtserhaltung zu gewinnen. Opportunismus nicht als Schwäche, sondern als Programm.

Das Problem der Sozialdemokratie besteht darin, daß sie zum Gegenteil einer Partei der Besserverdienenden geworden ist. Die SPÖ vertritt die Interessen sozialer Gruppen, die zu den Verlierern der Entwicklung zur Netzwerkgesellschaft — oder wie immer man die neu entstehenden soziale Formationen bezeichnet — gehören. Aus diesem Grunde schließt sie sich an populistische Parteien — die FPÖ und das BZÖ — an. Sie betreibt eine Politik, die zumindest nach außen nur noch als defensiv präsentiert wird und im Kern etatistisch ist. Sie verteidigt die vorgeblichen Interessen der „kleinen Leute“ und tut diese auf Kosten der wirtschaftlichen und technischen Modernisierung. Tatsächlich trägt sie damit zum weiteren wirtschaftlichen Abstieg der Gruppen, die sie vertreten will, bei. Der Wechsel der Position in der Europapolitik ist dafür ein Symbol. Symbolisch für die aktuelle Situation der Sozialdemokratie ist er wohl auch darin, daß er zwar lautstark nach außen verkündet wird, ihn aber kaum eine tatsächliche Europa-kritische Haltung bei der Mehrheit der Funktionäre entsprechen dürfte.

Eine an Gerechtigkeit orientierte Politik müsste ganz anders aussehen als die Verteidigung der Restbestände sozialdemokratischer Idyllen gegen anonyme Mächte wie die europäische Bürokratie oder auch die kalten Neoliberalen. Sie müßte sich um aktive Partizipation der Gruppen bemühen, die von den laufenden Modernisierungprozessen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sie müsste ein Motto formulieren wie das Yes, We Can der Obama-Kampagne, statt einem alten Rattenfänger nachzulaufen, der sich als Cato vermummt. Es gibt in der europäischen Sozialdemokratie durchaus Bewegung in diese Richtung, ausgehend z.B. von Anthony Giddens. Die SPÖ hat den entgegengesetzten Weg eingeschlagen.

PS: Inzwischen ist die österreichische Bundesregierung zerbrochen, und der Provinz-Boulevard wird die Schlammschlacht bekommen, die er mit Schlagzeilen wie Tag des Verrats an Österreich herbeigeschrieben hat.

Ich versuche, für eine Lehrveranstaltung über Medientheorie grundlegende Texte zum Web zusammenzustellen. Damit meine ich Texte, die erklären, was das Web ist und warum es relevant ist — auch wenn sie sich nicht ausdrücklich mit dem Web beschäftigen. Ich suche nach Texten, die kostenlos online zugänglich sind, und die jeweils einen wichtigen Aspekt des Webs betreffen. Derzeit bin ich bei folgenden Titeln:

Die Texte sind unterschiedlich spezifisch und unterschiedlich schwierig — einige muss ich selbst noch komplett lesen, einige verstehe ich nur zum Teil. Aber ich werde versuchen, mich an ihnen zu orientieren und sie zu didaktisieren.

PS: Für alle gilt wohl Luhmanns Satz:

Guter Geist ist trocken.

Am Montag habe ich endlich Clay Shirkys Buch Here Comes Everybody ausgelesen. Ich habe bereits vor und während der Lektüre darüber gebloggt. Hier noch ein paar Bemerkungen:

Ich empfehle das Buch vor allem Leuten, die nicht jeden Tag mit sozialen Medien umgehen, aber wissen wollen, warum es sich dabei um ein wichtiges Thema handelt. Lehrer, Politiker oder Medienprofis erfahren von Shirky, dass Webmedien nicht ein Hobby von ein paar ausgeflippten Spinnern sind, sondern neue Kommunikationsformen, die die politischen und wirtschaftlichen Institutionen radikal verändern werden. Dabei predigt Shirky nicht, was er wünscht, sondern er verlässt sich auf ökonomische und soziologische Forschungen, die sich nur schwer angreifen lassen. Shirky ist kein Idealist, gegen Ende des Buches schreibt über die Dilemmas jeder Vergesellschaftung, etwa das Gefangenendilemma oder die einfache Tatsache, dass die Erleichterung der Gruppenbildung auch antisoziale Gruppen begünstigt. Soziale Medien sind Antworten auf diese Dilemmas, können sie aber nicht aufheben. Shirky ist nicht technophil: Für ihn erweisen sich die sozialen Folgen von Innovationen erst, wenn die Technik trivial geworden ist.

Ohne Markt und Firma

Shirky stützt sich vor allem auf Yochai Benklers Analysen der Transaktionskosten von Online-Organisationen. Online-Kommunikation verringert den Aufwand für Organisation und Administration radikal; völlig neue Formen der Kommunikation und Kooperation werden konkurrenzfähig. So behauptet sich die commons based peer production wirtschaftlich gegen die Arbeit von zentralisierten Organisationen oder die Akquise von Leistungen auf dem Markt. Weitere Ausgangspunkte bilden Erkenntnisse zur Mathematik kleiner und großer sozialer Gruppen. Shirky zeigt Zwangsläufigkeiten auf; er sucht nach Gesetzen oder Regeln, die sozialen Phänomenen zugrundeliegen. Er diskutiert aber nicht diese Gesetze selbst, sondern stellt ihre Folgen in allgemeinverständlicher Form dar. So hat er ein exzellentes wissenschaftsjournalistisches Buch geschrieben. Über seine Gewährsleute hinaus geht er darin, wie er unterschiedliche Erkenntnisse zu einem weitreichenden Konzept der Möglichkeiten von Online-Organisationen kombiniert.

Vom Teilen über die Kollaboration zur kollektiven Handlung

Shirky entwickelt ein Dreistufenmodell für soziale Praxis oder Gruppenbildung mit sozialen Medien (Web und Mobilkommunikation). Stufe 1 bildet das Teilen von Informationen, Stufe 2 das kollaborative Erstellen von Werken oder Software, Stufe 3 bilden kollektive Handlungen. (Surowiecki spricht zu Beginn von Wisdom of Crowds von drei Ebenen der kollektiven Intelligenz: Kognition, Koordination und Kooperation.) Beispiele für die Stufe 1 sind flickr und del.icio.us, Beispiele für die Stufe 2 Linux oder die Wikipedia. Beispiele für die Stufe 3 sind politische Aktionen, die über das Web organisiert wurden, z.B. Flashmob-Demonstrationen in Weißrussland oder die Durchsetzung einer bill of rights für Flugpassagiere in den USA. Auf allen drei Ebenen werden durch Online-Kommunikation hocheffiziente Organisationen möglich, die völlig unabhängig von bestehenden sozialen Verbänden, z.B. Parteien und Verlagen, sind und mit ihnen nur wenig Gemeinsamkeiten haben. Der Untertitel von Shirkys Buch drückt das aus: The Power of Organizing without Organizations.

publish, then filter und freedom to fail

Zu einer interessanten Lektüre machen Here Comes Everybody (der Titel stammt aus Finnegans Wake) nicht die theoretischen Konzepte, sondern viele Beispiele und Shirkys Fähigkeit zu pointierten Formulierungen. In seinen Fallstudien beschäftigt er sich vor allem damit, wie normale Menschen, nicht etwa Web-Experten, soziale Medien verwenden, um Gruppen zu bilden und ihre Ziele durchzusetzen: Stay at Home Moms verabreden ihre Treffen über Meetup; als Voice of the Faithful schließen sich katholische Laien online erfolgreich dagegen zusammen, dass die Amtskirche den Missbrauch von Kindern durch Geistliche vertuscht. Wie Shirky Dinge auf den Punkt bringt, zeigt die Überschrift seines Kapitels über die redaktionelle Kontrolle in Online-Medien: publish, then filter. Zu den Highlights des Buchs gehören für mich die Abschnitte über die Chancen des Scheiterns (freedom to fail): Gerade weil eine Unmenge von Online-Projekten daneben geht, kommt es zu Vorhaben, die die gesellschaftlichen Möglichkeiten deutlich erweitern — die Mutationsrate ist bei Online-Projekten weit höher als in der realen Welt. Im Gedächtnis bleiben wird mir auch, dass durch die Online-Medien Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit miteinander verschmelzen.

Ich wünsche mir auch, dass meine Studenten das Buch lesen. Ihr Berufsleben wird sich nicht mehr in einer Medienwelt abspielen, die durch den Mangel an Publikations- und Vertriebsmöglichkeiten bedingt war. Von Shirky könnten sie es lernen.