Einen Leser, der Lost and Found seit Jahren verfolgt und—meist mündlich—kommentiert, begrüße ich heute persönlich: meinen Vater, der an diesem 11. Juni seinen neunzigsten Geburtstag feiert.
Smugshot_4761665Ich möchte ihm hier danken, für das regelmäßige Lesen und vor allem dafür, dass er mich überhaupt zum Schreiben und zur Beschäftigung mit den Themen, die mich hier interessieren, gebracht hat. Das sind nur wenige der Dinge, für die ich ihm dankbar bin—aber alles andere kann ich ihm zum Glück gleich beim Feiern sagen.

Wenn ich meinen Vater wie in einem BarCamp in drei Tags öffentlich vorstellen müsste, würde ich Engagement, Offenheit und Bildung wählen. Es gäbe auch noch andere, vielleicht wichtigere, aber über die würde mein Vater wahrscheinlich ungern in einem Blogpost seines Sohns nachlesen. Ich hoffe, dass ihm nicht schon dieses Post hier zu aufdringlich ist, denn er stellt sich nicht gerne als Person in den Mittelpunkt. Aber wenn man 90 wird, muss man so etwas ertragen. Die drei Stichwörter stehen für eine Haltung, die ich als Kind und auch später als vorbildlich erfahren habe. Damit will ich nicht sagen, dass ich diesem Vorbild gerecht werde, sondern nur, dass ich mich daran orientiere.

Mit Engagement meine ich den Willen und die Fähigkeit, öffentlich Position zu beziehen und für oder gegen etwas einzutreten, auch wenn es unbequem ist. Mein Vater war immer politisch aktiv. Hintergrund dafür waren Erfahrungen, die er in der Nazizeit und während des Kriegs gemacht hatte. Er hatte ein Franziskanergymnasium in Watersleyde in den Niederlanden besucht, und er war dadurch und durch den Einfluss seiner überzeugt katholischen Eltern immun gegen die Naziideologie. Von den Erlebnissen, die er aus der Kriegszeit erzählt hat, sind mir am nachhaltigsten Erinnerungen an einen sadistischen Kompaniechef im Gedächtnis geblieben, der ihn vor der Truppe als „Französling“ demütigte und ihn mit der Frage quälte, ob er einen abgeschossenen englischen Piloten auf Befehl erschießen würde. Mein Vater hat das Ende des Krieges und die Möglichkeit, dann endlich zu studieren, als Befreiung erlebt, und immer prowestliche, proeuropäische Positionen vertreten. Er hat sich der CDU angeschlossen, war Stadtverordneter in Mülheim und auch danach, nach dem Umzug nach Warburg in Ostwestfalen, kommunalpolitisch aktiv. Er hat Bürgerinitiativen mitgegründet und ist noch, als er schon über 80 war, in Parteiversammlungen erfolgreich für Kandidaten eingetreten, die er für fähig hielt. Er hat seine Meinung immer und gern öffentlich vertreten und diskutiert—auch mit mir, wobei er es allerdings nie geschafft hat, mich von seinen parteipolitischen Positionen zu überzeugen.

Offenheit: Mein Vater war immer, und er ist ein neugieriger Mensch, vor allem bei politischen Themen. Ich weiss nicht, ob ich ihn je an einem Tag erlebt habe, an dem er nicht die Zeitung gelesen hat (und die Zeitung war immer vor allem die Frankfurter Allgemeine). Heute liest er sie täglich mit meiner Mutter zusammen, mit der er jedes politische und theologische Thema bespricht. Er hat sich immer mit aktueller politischer Literatur beschäftigt, und er hat immer auch versucht, Originalquellen zu lesen, z.B. Bundestagsdebatten in der Zeitung „Das Parlament“. Indirekt hat er damit dazu beigetragen, dass ich selbst in der Nach-Achtundsechziger-Zeit eine politische Haltung entwickelt habe, die seiner in vielem entgegengesetzt war. Zu den ersten politischen Büchern, die ich zuhause las, weil sie einfach da waren, gehörte eine Che Guevara-Biografie und das grüne Vietnam-Buch von Gäng und Horlemann. Ich musste und muss mir sehr viel Mühe geben, um gegen ihn in Diskussionen zu bestehen, aber er hat mir nie übelgenommen, dass ich eine andere Meinung vertreten habe. Seit er für sich das Netz entdeckt hat—wir haben ihn zum 85sten Geburtstag einen Computer geschenkt, mit dem er sich inzwischen fast so häufig informiert wie mit der Zeitung—weist er mich auf netzpolitische Artikel und Themen hin, und zwar oft auf Dinge, auf die ich ohne ihn nicht gestoßen wäre. Seit einem Jahr verfolgt er @peteraltmaier und @RegSprecher auf Twitter, und inzwischen twittert er als @heinwitt auch selber. Die Offenheit und Neugierde sind —außer einer erfüllten Ehe— sicher einer der wichtigsten Gründe dafür, dass er mit 90 noch körperlich und geistig fit ist.

Bildung: Mein Vater hat Latein und katholische Theologie studiert, unterrichtet und später das Warburger Gymnasium Marianum geleitet, das in einer humanistisch-katholischen Tradition stand. Meine eigene Vorstellung von Bildung habe ich ausgehend von dem Modell entwickelt, das er—zusammen mit meiner Mutter—für uns als Kinder verkörpert hat: Bildung als etwas, das mit persönlicher Auseinandersetzung verbunden ist und mit der Fähigkeit, sich auszudrücken und mit anderen zu kommunizieren. Meine Elten sind keine Bildungsbürger, die sich auf geistigen Besitz berufen oder mit Traditionen protzen. Sie waren beide die ersten Kinder in ihren Familien, die das Abitur gemacht haben und studieren konnten—unter großen Opfern ihrer Eltern im Ruhrgebiet in der Wirtschaftskrise und der Vorkriegszeit. Zu lernen haben sie ihren Kindern als einen der wichtigsten Lebensinhalte (und eine der wichtigsten Lebensufgaben!) vermittelt, und sie haben sich intensiv um die Bildung ihrer Kinder bemüht. Das bedeutete zum Beispiel stundenlanges, allerdings selten langweiliges, Lateinüben vor Klassenarbeiten, verbunden mit Gesprächen über die römischen Autoren und ihre Zeit. Noch lange nach dem Abitur hat mein Vater manchmal lateinische Gedichte mit mir übersetzt. Er hat mir ein rhetorisch geprägtes, „lateinisches“ Bildungverständnis vermittelt, bei dem Bildung mit öffentlicher Rede und Debatte verbunden ist und auch mit der Lust daran, Inhalte elegant und witzig zu präsentieren. Meinen Vater faszinieren sprachliche und literarische Formen, bis heute schreibt er Gedichte. Zur Bildung gehörte für meine Eltern immer ein Bezug zur Antike und zu Rom, wo sie geheiratet haben.

Ich möchte mich hier bei meinem Vater auch dafür bedanken, dass er seine Kinder mit allen diesen Einflüssen nicht erdrückt hat. Er hat es meiner Schwester und mir überlassen, vieles zu entdecken, und uns nichts aufgedrängt. Dabei haben ihm seine Bescheidenheit und sein Humor geholfen, eine Selbstzurücknahme, die ich mit seiner Jugend in den Niederlanden und—historisch sicher nicht ganz richtig—mit dem Begriff devotio moderna verbinde. In seiner Behutsamkeit und seinem Witz bleibt er für mich ein unerreichbares Vorbild. Ich hoffe, dass er seine Familie noch lange daran teilnehmen lässt.

4 Kommentare zu “Papa

  1. Jugendliche Kinder erziehen ihre Eltern durch Widerspruch,-erwachsene anscheinend lieber, indem sie Idealbilder von ihnen entwerfen.
    Danke Dir, lieber Heinz, für beide Weisen der Zuwendung!
    Papa

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