Silvester habe ich mich für eine Woche vom Internet getrennt, und das heißt für mich vor allem: Ich habe auf die Nutzung von sozialen Medien verzichtet.

Ich bin nicht zu einem Social Media-Verweigerer geworden. Aber diese Woche hat mich in der Entschlossenheit bestärkt, mit sozialen Medien und Inhalten im Web anders umzugehen: ihre Nutzung auf ein Minimum zu beschränken, statt so viel wie möglich zu konsumieren. Im Dezember bin ich auf E.F. Schumachers Idee einer buddhistischen Ökonomie gestoßen. Schumacher bezeichnet die buddhistische Ökonomie als systematisches Streben danach, gegebene Ziele mit einem Minimum an Mitteln zu erreichen. 1 Dabei gehe es darum, die menschliche Zufriedenheit durch das optimale Muster für den Konsum zu maximieren, während die moderne Ökonomie darauf abzielt, den Konsum durch das optimale Muster der produktiven Anstrengung zu maximieren. 2 Dieses Konzept kann man nicht nur auf materielle Güter anwenden kann, sondern auch auf Medien und Inhalte.

Relevanz

Was habe ich in der Woche ohne soziale Medien vermisst? Wenn ich ehrlich bin: Fast nichts—obwohl ich mich erst überwinden musste, bei meinen Geräten die Verbindung zum WLAN und zum automatischen Datenaustausch zu kappen. Am Silvestertag habe ich mir, als ich schon offline war, zusammen mit Ana auf ihrem Telefon noch das Interview von Armin Wolf mit Hugo Portisch angesehen. Zwischendurch, das muss ich zugeben, haben wir im Auto auch manchmal auf Anas Telefon nach dem richtigen Weg gesucht. Aber von meinen vielen Kontakten auf Social-Media-Plattformen habe ich zwischen 31.12. und 7.1. nichts erfahren, ich habe auch nicht in meine Mails hineingeschaut oder irgendwelche Blogposts gelesen.
Vermisst haben ich nur Nachrichten und Blogposts von einigen Freunden, von denen ich regelmäßig via Social Media etwas erfahre. Ich habe weniger die Medien vermisst als das Soziale, das mit sozialen Medien verbunden ist. Stattdessen habe ich in einer Geschichte Dubrovoniks gelesen, nicht allzu viel, denn wir waren auf Familienbesuch und auch etwas auf Urlaub. Außerdem habe ich konzentrierter als in den Monaten davor kroatisch gelernt. In der Zeit, die ich sonst damit verbringe, mir meine Newsfeeds anzusehen, habe ich kroatische Deklinationen wiederholt. Oft habe ich auch nur in meine Umgebung geschaut.
Silvester haben wir überlegt, was im vergangenen Jahr wichtig war, was uns im Gedächtnis geblieben ist. Von der Unmenge an Informationen, die ich über soziale Medien aufgenommen habe, ist nicht viel übrig. An die wenigen Bücher, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe, kann ich mich weit besser erinnern, und über sie denke ich noch immer nach. Auch die Tagung über Harold Garfinkel, die ich im Herbst besucht habe, ist mir viel lebendiger im Gedächtnis geblieben als alles, was ich über Facebook und Co erfahren habe. Übrigens gilt fast dasselbe für meine Arbeit. Auch nur weniges von dem, was ich beruflich gemacht habe, bleibt mir im Nachhinein als besonders wichtig in Erinnerung.
Daraus muss ich schließen, dass die sozialen Medien für mich vor allem eine Ablenkung sind, bequem, aber größtenteils Zeitverschwendung. Um zu den wenigen Inhalten zu kommen, die ich aus ihnen destilliere, habe ich enorm viel Zeit dafür aufgewendet, von einem Post zum nächsten zu hüpfen, mich kurz zu ärgern, mich für einige Minuten für ein paar Sätze zu interessieren und dann zum nächsten irgendwie auch interessanten Eintrag weiterzuspringen. Ich kann aus meinem kurzen Selbstversuch nur den Entschluss ableiten, mich in Zukunft nur eine ganz kurze Zeit am Tage mit sozialen Medien beschäftigen, gerade so viel, wie ich brauche, um Informationen zu bekommen, die ich anders nicht erhalte, auf die ich aber angewiesen bin, und solange, wie es nötig ist, um mit mir wichtigen Menschen Kontakt zu halten.

Aufmerksamkeit

Der Hauptgrund dafür, dass ich auf soziale Medien verzichtet habe, war, dass es mir immer schwieriger gefallen ist, konzentriert zu bleiben. In der Woche ohne soziale Medien hatte ich den Eindruck, dass es mir leichter fiel, aufmerksam zu bleiben und meine alltägliche Umgebung wahrzunehmen. Ich habe mich noch nie mit Theorien über Aufmerksamkeit oder mit Forschungen dazu auseinandergesetzt. Aber ich bin mir ziemlich sicher: Die Menge der Aufmerksamkeit, über die man verfügt, ist begrenzt. Aufmerksamkeit, die in sozialen Medien verpufft, kann man nicht für andere Dinge verwenden.
An dieser Stelle muss ich von einer anderen Erfahrung sprechen, die für mich in den letzten Jahren wichtig geworden ist: die Erfahrung der Meditation. Bei der Meditation, wie ich sie kennengelernt habe oder wie ich sie übe, kommt es darauf an, sich nicht von seinen Gedanken ablenken zu lassen, die Aufmerksamkeit zurückzunehmen. Zugrunde liegt die Erfahrung, dass die permanent aufeinanderfolgenden Gedanken letztlich unbefriedigend sind, dass jeder dieser aufeinanderfolgenden Gedanken und Eindrücke zu einer Enttäuschung führt. Meditation erleichtert das Aufwachen aus der Trance der Gedanken (Tara Brach). Durch Konzentration, durch Wahrnehmung des Hier und Jetzt bzw. durch den Versuch, alles andere sein zu lassen, gelangt man in einen wacheren, befriedigenderen Zustand. Zur Beschäftigung mit Meditation gehört die Einsicht, dass davon, wie man mit seinen Gedanken, seiner Aufmerksamkeit und seinen Vorstellungen umgeht, abhängt, wie glücklich man sich fühlt. Die sozialen Medien wirken genau in der entgegengesetzten Richtung: Sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und leiten sie permanent von einem Eindruck oder von einem Gegenstand zum nächsten weiter. Sie erschweren es, auf die eigene Aufmerksamkeit zu achten und Abstand von den Dingen zu halten, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Ich habe vor drei Jahren auch mit dem Meditieren begonnen, um gegenüber der Informationsüberflutung, der ich mich schon beruflich über Jahre ausgesetzt habe und noch immer aussetze, Abstand zu gewinnen, und um mich selbst nicht zu sehr oder soweit wie unbedingt nötig von diesen Informationen abhängig zu machen. Die Erfahrung der Meditation hat für mich aber jetzt dazu geführt, dass mir die mediale Umwelt, fragwürdiger wird, dass ich nicht nur meditiere, um leichter mit ihr zurechtzukommen, sondern dass ich Erfahrung mache, durch die ich mich von meiner bisherigen Praxis im Umgang mit Social Media weiter entferne. Deshalb hat es mich angesprochen, als ich gelesen habe (PDF), dass E.F. Schumacher durch Meditationsübungen in Klöstern in Birma zu seiner Kritik an der Fixierung der westlichen Ökonomie auf ein Maximum an Konsum gekommen ist.

Konformismus

Eine dritte Erfahrung, die ich auch schon aus der der Zeit vor meinem kurzen Experiment kannte, hat sich durch eine Woche ohne meine normale Online-Nutzung weiter bestätigt hat: die Erfahrung, dass soziale Medien mit einem großen—ständig weiter steigenden—Maß an Konformismus verbunden sind. Letztlich beruhen die großen Social-Media-Plattformen auf dem Prinzip, ihren Nutzerinnen und Nutzern permanent vorzuschlagen, was andere interessant finden. Das kollaborative Filtern besteht darin festzustellen, was ähnliche Menschen interessiert und daraus abzuleiten was mich nicht nur interessieren könnte, sondern auch interessieren sollte. Mit der Angst, sonst etwas zu verpassen, konsumiert man das an Informationen, was alle anderen auch konsumieren. Dieser Wunsch, nichts zu verpassen, ist nicht für soziale Medien typisch sondern überhaupt für den permanenten Medienkonsum. Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten war eine Apotheose dieses Konformismus. Auf soziale Medien zu verzichten oder wenigstens asketisch mit ihnen umzugehen bedeutet auch sich stattdessen auf eigene Erfahrungen und auf eigene Gedanken zu verlassen, davon auszugehen, dass das eigene Leben etwas Besonderes ist und zwar unabhängig von dem, was es mit all‘ den vielen anderen Leben, über die man sich auf sozialen Medien informieren kann oder die man teilen kann, gemeinsam hat.
Wenn ich diese Erfahrungen zusammenfasse, komme ich zu dem Ergebnis:

  1. Die meisten Social Media-Inhalte sind für mich irrelevant.
  2. Soziale Medien erschweren es mir, mit der eigenen Aufmerksamkeit bewusst umzugehen.
  3. Soziale Medien erschweren es mir, Erfahrungen zu machen, die nicht die Erfahrungen von anderen sind, sie führen zum Konformismus.

Aktive Social Media-Askese

Was schließe ich aus diesen Erfahrungen? Ich merke, dass ist mir gut tut, ohne soziale Medien zu leben. Ich habe mich besser gefühlt als in den vielen Wochen davor, in denen ich fast den ganzen Tag online war. Ich kann diese Erfahrung nicht ignorieren, auch wenn sie vielem von dem widerspricht, was ich bisher gedacht und was ich übrigens auch unterrichtet habe. Ich werde also auch in Zukunft versuchen, mit sozialen Medien asketisch umzugehen.
Ich ziehe aber aus dieser Erfahrung nicht die Konsequenz, auf soziale Medien zu verzichten oder sie als Ganzes zu verdammen. Daran hindert mich außer der Neugier und auch außer meinem Beruf die Überzeugung, dass man durch den Verzicht auf soziale Medien nicht in eine Welt gerät, in der man sich weniger ablenkt, oder in der man authentischere Erfahrungen machen kann. Man landet vor allem bei den Überbleibseln der medialen Erfahrungen, die frühere Generationen gemacht haben. Sie sind so unecht wie holzgetäfelte Bauernstuben in Autobahn-Raststätten.
Ob ich mit meiner Aufmerksamkeit richtig umgehe, hängt nicht von den Medien ab, denen ich die Aufmerksamkeit zuwende, sondern vor allem davon, ob ich mit meiner Aufmerksamkeit richtig umgehen kann. Es gibt nicht jenseits der sozialen Medien und der medialen Realität eine andere Wirklichkeit, die stabiler, wahrhaftiger oder bekömmlicher wäre. Deshalb bezeichnet Howard Rheingold Aufmerksamkeit als Basis jeder Medienbildung. Der Verzicht auf Social Media würde bedeuten, sich negativ von ihnen abhängig zu machen, und sich dem zuzuwenden, was früher unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Praktizieren lässt sich stattdessen etwas wie eine aktive Askese. Sie besteht darin, nur soviel zu nutzen und vor allem zu konsumieren, wie nötig ist—sich auf das Minimum zu beschränken, das die größte Wirkung hat.
Die erste Folgerung ist also: die meditative Haltung gegenüber den Alltagserfahrungen auf die mediale Realität zu übertragen und nicht zu glauben, dass irgendeine dieser Erfahrungen als solche schon befriedigend sein könnte, auch nicht der Verzicht darauf. Um es noch einmal anders und vielleicht buddhistisch auszudrücken, man braucht auch hier so etwas wie einen mittleren Pfad.

Appropriate Technology

Ein minimalistischer Umgang mit sozialen Medien betrifft nur die Ökonomie der eigenen Aufmerksamkeit. Er bedeutet aber nicht, dass ich qualitativ anders mit sozialen Medien umgehe. Die Übertragung der Idee einer buddhistischen Ökonomie auf soziale Medien sollte über den individuellen Konsum hinaus auch die Technik betreffen, ohne die es keine sozialen Medien gibt. Bei den großen Plattformen besteht eine extremes Missverhältnis zwischen der Macht, die ich als User habe, und den Möglichkeiten der Unternehmen hinter diesen Medien. Die Entwicklung der Plattformen ist vom Kapital der Investoren abhängig—in einem krassen Widerspruch zu Benklers Vorstellung (PDF), dass sich das Kapital im Netz auf viele gleichmäßig verteile. Dieses Missverhältnis scheint mir ähnliche Auswirkungen zu haben wie sie Schumacher in Entwicklungsländern beobachtet hat, in denen wenige enorm viel investieren können und alle übrigen nur als Konsumenten interessant und damit entmündigt sind. Schumacher hat vor 40 Jahren stattdessen eine appropriate technology gefordert: weiche low tech, die man dezentral entsprechend lokalen Bedürfnissen gestalten und entwickeln kann, statt zentralisierter harter high tech. Eine solche Low Tech-Philosophie finde ich im heutigen Netz in der IndieWeb-Bewegung wieder.
Eine buddhistische Ökonomie, übertragen auf den Umgang mit Social Media und dem Web, hätte damit zwei Aspekte: den des Minimalismus in der Nutzung dieser Medien (mit wie wenig komme ich aus, wenn ich angenehm und selbstverantwortlich leben will?) und den der Nutzung von beherrschbaren und gestaltbaren Technologien, die sich an sich verändernde Umstände anpassen können. Zu einer menschenwürdigen und für die eigene Entwicklung sinnvollen Nutzung von sozialen Medien gehört die Beschränkung auf die relevanten Inhalte und das Verfügen über die technischen Plattformen, mit denen man diese Medien produziert und konsumiert.
Mein kurzer Selbstversuch bringt mich dazu, Konzepte auszuprobieren, auf die ich schon vorher gestoßen war, die mir aber bis dahin exotisch und vielleicht auch etwas weltfremd vorgekommen waren. Ich bin bisher von so etwas wie einer einheitliche Entwicklung der digitalen Technologien und der digitalen Medien ausgegangen, habe also ein historisches Fortschrittsmodell auf sie übertragen. Jetzt möchte ich versuchen, mich von einem Mainstream zu entfernen, für den die Steigerung des Konsums—des Konsums der digitalen Medien und des durch sie vermittelten Konsums aller anderen Güter—die höchste Priorität hat. Das mag auch weltfremd wirken—aber ich glaube, dass ich damit sehr nah bei den Intentionen derjenigen bin, die das Web und den Computer als ein Stück frei programmierbarer, für den einzelnen verfügbarer Technologie entwickelt haben.


  1. „Buddhist economics is the systematic study of how to attain given ends with the minimum means.“ 
  2. The former, in short, tries to maximise human satisfaction by the optimal pattern of consumption, while the latter tries to maximise consumption by the optimal pattern of productive effort. 

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