Im Falter-Podcast Braucht die Stadt Wien wirklich neue Straßen? haben vor ein paar Tagen der Wiener Stadtpanungschef Thomas Madreiter 🦉 (@TMadreiter), Lucia Steinwender, Barbara Laa (@_barbara_laa) und Katharina Kropshofer (@KKropshofer) über den Sinn der Stadtautobahn diskutiert, die die Besetzerinnen und Besetzer in Hirschstetten verhindern wollen. Die Diskussion ist sachlich, knapp und gut moderiert.
Die Position der Stadtregierung ist: Wir planen für eine weitgehend autofreie Zukunft, wir gehen dabei weiter als fast alle anderen Städte, wir müssen aber realistisch bleiben und von weiterem Autoverkehr ausgehen, deshalb ist eine vierspurige Straße zur Erschließung eines großen Neubaugebiets nötig. Die Gegnerinnen und Gegner des Projekts halten dagegen, dass man angesichts der Klimakrise radikal umdenken muss und dass auch 20% Autoverkehr in einem zukünftigen Modal Split noch zu viel sind.
Gegen Ende des Podcasts hat man den Eindruck, vielleicht wegen der Fragen Raimund Löws, dass hier unterschiedliche Utopien aufeinanderprallen: eine traditionell sozialdemokratische Vision der Stadt, die allerdings grundsätzlich die Existenz der Klimakrise anerkennt, und eine ökologische, in der die Menschen fast ganz ohne Autos auskommen. Bei einer solchen Alternative wirken die Gegner des Stadtstraßenprojekts schnell als unrealistisch und utopistisch und seine Befürworter (noch deutlicher Ulli Simma in einem anderen Falter-Podcast zur Stadtstraße) als unverstandene Realistinnen und Realisten.
Das wichtigste Argument gegen die Stadtstraße und ähnliche Projekte ist aber nicht, dass eine Zukunft ohne Autos lebenswerter ist als eine, wenn auch angepasste, Version der aktuellen Stadt. Das zentrale Argument ist: Städte müssen in einer sehr kurzen Zeit vollständig CO2-neutral oder CO2-negativ werden, dürfen also nicht mehr Treibhausgase ausstoßen, als sie wieder aufnehmen können. Dieses Ziel hat die oberste Priorität (rechtlich, weil das Pariser Abkommen gilt, und ökologisch, weil die Klimakrise sich laufend verschlimmert). Es ist unrealistisch, dass dieses Ziel durch inkrementelle Veränderungen von Planungen, also in kleinen Schritten erreicht werden kann. Auch minimale Emissionen von Treibhausgasen sind nicht mehr tolerabel. Deshalb muss auf alle Baumaßnahmen verzichtet werden, deren Ergebnis nicht sicher CO2-neutral oder -negativ ist.
Es geht nicht um eine Auseinandersetzung von Realismus und Utopie, sondern darum, weitere Emissionen mit Sicherheit zu verhindern. Es ist in diesem Zusammenhang kein gutes Argument darauf hinzuweisen, dass am Land mehr CO2 produziert wird als in Städten, denn auch dort muss schnellstmöglich dekarbonisiert werden.
Mich erinnert diese Debatte an die Auseinandersetzungen um die frühe moderne Architektur. Damals hat die Generation der großen modernen Architekten wie Gropius und Le Corbusier sich vom Vorhandenen radikal verabschiedet und so gebaut, wie es mit den neuen Materialien Beton, Glas und Stahl sinnvoll war. Heute ist, aus ganz anderen Gründen, ein wenigstens so konsequenter Wechsel nötig—hin zu einem Städtebau und einer Architektur, die Klima und Biodiversität nicht schädigen, hoffentlich sogar dazu beitragen, sie zu regenerieren. Diesen Wechsel erreicht man nicht, indem man Planungen aus den letzten Jahrzehnten anpasst, sondern nur, indem man von der Vorgabe der CO2-Freiheit ausgeht. Anzupassen bleibt dann immer noch genug älterer Bestand.
Update, 18:35: Siehe auch, unter vielen anderen, die heutigen Stellungnahmen aus der Wissenschaft: Wissenschafter kritisieren erneut geplanten Bau der Stadtstraße