Am 14. April habe ich mich hinter eine Gruppe von Mitgliedern der Letzten Generation Österreich gestellt, die sich am Geidorfplatz in Graz an die Straße geklebt haben. Ich bin nicht gleich weggegangen, als die Polizei die nichtangemeldete Versammlung aufgelöst hat, und habe eines der Transparente gehalten, bis mich ein Polizist aufgefordert hat, mit ihm zu kommen. Die Polizei hat die Blockade aufgelöst; Feuerwehrleute haben die Klebstoffspuren beseitigt – wohl um den Aufwand demonstrativ hoch zu treiben.
Ich habe inzwischen zwei Strafverfügungen bekommen, eine von der Landespolizeidirektion Steiermark vor allem wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz, eine von der Stadt Graz – im Namen der Bürgermeisterin. Zusammen belaufen sie sich auf 1020 Euro. Hier ist mein Widerspruch gegen die erste Strafverfügung:
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich lege Einspruch gegen die Strafverfügung GZ: VStV/923300919434/2023 ein. Ich habe tatsächlich die in der Strafverfügung erwähnte Versammlung erst verlassen, als ich dazu individuell von einem Polizeibeamten aufgefordert wurde. Ich habe so gehandelt, um als Angehöriger der Klimabewegung „einen unmittelbar drohenden bedeutenden Nachteil […] abzuwenden“ (§ 10 StGB, n.d.), nämlich die katastrophalen Folgen der sich verschärfenden Klimakrise, gegen die sofort und mit oberster Priorität gehandelt werden muss.
Der Österreichische Nationalrat hat am 25. September 2019 den Klimanotstand (Climate Emergency) ausgerufen (Entschließung Des Nationalrates Vom 25. September 2019 Betreffend Erklärung Des Climate Emergency, 2019).
In der Entschließung wird u.a. festgelegt, dass
- „die Eindämmung der Klima- und Umweltkrise und ihrer schwerwiegenden Folgen als Aufgabe höchster Priorität anzuerkennen“ ist;
- „die wissenschaftlichen Berichte des ‚Intergovernmental Panel on Climate Change‘ (IPCC), des ‚Austrian Panel on Climate Change‘ (APCC) und der ‚Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services‘ (IPBES) als sachliche Grundlage für zukünftige Klima- und Umweltpolitik heranzuziehen“ sind;
- „die österreichische Bevölkerung über alle öffentlichen Kanäle umfassend und beständig über die Klima- und Umweltkrise, ihre Ursachen und Auswirkungen sowie über die Maßnahmen, welche gegen diese ergriffen werden, zu informieren“ ist;
- die Bundesregierung „bei der Umsetzung entsprechender Maßnahmen mit den Bundesländern und Gemeinden zu kooperieren und sich mit diesen abzustimmen“ hat.
An diese Entschließung hat sich die österreichische Bundesregierung in der Folge nicht gehalten. Die österreichischen Treibhausgasemissionen wurden nicht wirksam reduziert – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern (Ederer & Glocker, 2022, p. 3). Es wurde bis heute kein neues Klimaschutzgesetz verabschiedet. In jüngster Zeit hat sich der österreichische Regierungschef, Bundeskanzler Nehammer, zustimmend auf Äußerungen von Publizisten bezogen, die von der wissenschaftlichen Community eindeutig als Klimaleugner identifiziert wurden (Gepp, 2023).
Die Notstandssituation hat sich in den vergangenen Jahren verschärft:
Weitreichende und rasche Veränderungen in der Atmosphäre, den Ozeanen, der Kryosphäre und der Biosphäre sind eingetreten. Der vom Menschen verursachte Klimawandel wirkt sich bereits auf viele Wetter- und Klimaextreme in allen Regionen der Welt aus. Dies hat zu weit verbreiteten nachteiligen Auswirkungen und damit verbundenen Verlusten und Schäden für Natur und Menschen geführt (hohes Vertrauen). Verwundbare Gemeinschaften, die in der Vergangenheit am wenigsten zum aktuellen Klimawandel beigetragen haben, sind unverhältnismäßig stark betroffen (hohes Vertrauen). (Synthesis Report of the IPCC Sixth Assessment Report (Ar6) – Summary for Policymakers, 2023, p. 5, übersetzt von mir)
Diese Situation macht es nicht nur noch wichtiger, energisch gegen die globale Erhitzung vorzugehen, sondern auch dringender.
Globale Modellpfade zur Eindämmung der Erwärmung auf 1,5°C (>50%) ohne oder mit begrenzter Überschreitung oder zur Begrenzung der Erwärmung auf 2°C (>67%) unter der Annahme sofortigen Handelns implizieren eine tiefgreifende Reduzierung der globalen Treibhausgasemissionen in diesem Jahrzehnt (hohes Vertrauen) … (Synthesis Report of the IPCC Sixth Assessment Report (Ar6) – Summary for Policymakers, 2023, p. 11, übersetzt von mir)
Es bleiben nur noch wenige Jahre um zu verhindern, dass die globale Erhitzung ein Ausmaß erreicht, auf das sich mit Anpassungsmaßnahmen nicht mehr reagieren lässt. Es ist sofortiges Handeln und eine radikale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft gefordert.
Der Systemwandel, der erforderlich ist, um eine rasche und tiefgreifende Emissionsreduzierung und eine transformative Anpassung an den Klimawandel zu erreichen, ist beispiellos in Bezug auf das Ausmaß, aber nicht notwendigerweise in Bezug auf die Geschwindigkeit […]. (Synthesis Report of the IPCC Sixth Assessment Report (Ar6) – Summary for Policymakers, 2023, p. 30, übersetzt von mir)
Ich habe mich mit den wissenschaftlichen Dokumenten, die laut Nationalrat als Grundlage für die Klimapolitik heranzuziehen sind, intensiv beschäftigt. Beim dritten und beim letzten Teil des 6. Sachstandsberichts des Weltklimarats habe ich mich als Reviewer zur Verfügung gestellt und die Texte aus meiner – kommunikationswissenschaftlichen – Perspektive kommentiert. Ich habe über diese Texte auch Vorträge und Reden gehalten, insbesondere über die Bedeutung des 1,5°-Ziels, auf das sich die Ausrufung des Klimanotstands durch den Nationalrat ausdrücklich bezieht.
Ich bin als Lehrbeauftragter an der Fachhoschschule Joanneum tätig und habe dort bis vor einigen Jahren den Studiengang Content-Strategie geleitet. Es gehörte und gehört zu meinen Aufgaben, Studierende dazu anzuleiten, wissenschaftliche Erkenntnisse zu verstehen, zu respektieren und praktisch umzusetzen. Die Studierenden der FH Joanneum geloben bei der Abschlussfeier,
„den Wissenschaften in Wahrhaftigkeit zu dienen, ihre Ziele zu fördern, das durch das Studium erworbene Wissen verantwortungsvoll einzusetzen und dadurch an der Lösung der Probleme der menschlichen Gesellschaft mitzuwirken“.
Aus der Verpflichtung, die Ziele der Wissenschaft zu fördern und das erworbene Wissen verantwortungsvoll einzusetzen ergibt sich für mich die Verpflichtung, auch gegen eine Mehrheit und gegen staatliche Autoritäten zu handeln, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse eindeutig bzw. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ergeben, dass das Handeln der Mehrheit und der staatlichen Autoritäten Leben, Freiheit und Gesundheit vieler Menschen bedroht. Da ich dazu in der Lage bin, wissenschaftliche Texte zu verstehen und ihre Ergebnisse zu vermitteln (wofür ich von einer steirischen Landeshochschule beschäftigt wurde und noch werde), fühle ich mich dazu in besonderer Weise verpflichtet.
Die Klimakrise führt zu einem “unmittelbar drohenden bedeutenden Nachteil” (§ 10 StGB, n.d.) für eine sehr große Zahl von Menschen. Diese Nachteile nehmen durch die Verschärfung der Krise erheblich zu, und ihre Abwendung lässt sich nicht hinausschieben. Wirkungsvolles Handeln gegen die Verschärfung der Klimakrise ist möglich. Im Augenblick handelt die österreichische Regierung aber nicht wirkungsvoll gegen die Klimakrise. Deshalb ist es nötig, sie zu diesem Handeln mit den dazu zur Verfügung stehenden Mitteln zu drängen. Angemeldete Demonstrationen und andere übliche Formen der demokratischen Auseinandersetzung haben dazu bisher nicht ausgereicht. Deshalb ist es meiner Ansicht nach erforderlich, zu neuen Mitteln zu greifen, um die Öffentlichkeit zu alarmieren und Druck auf die Regierung auszuüben, auf den Klimanotstand endlich adäquat zu reagieren.
Die Aktionen der Gruppe „Letzte Generation“ sehe ich als ein Mittel an, die Regierungspolitik so zu beeinflussen, dass sie auf die Klimakrise reagiert. Sie sind durch die angesprochene Notstandssitutation gerechtfertigt, auch wenn – wie in anderen Ausnahmesitutationen – keine Sicherheit darüber bestehen kann, dass sie zum Erfolg führen. Um dies zum Ausdruck zu bringen, habe ich mich bei der Blockade am 14.4. hinter eine Gruppe von Mitgliedern der Letzten Generation gestellt und die Straße nicht sofort nach der Auflösung der Versammlung verlassen, sondern erst, als ich individuell von einem Polizeibeamten dazu aufgefordert wurde. Ich wollte auf diese Weise meine Solidarität mit den Protestierenden und ihrer Protestform, auch mit dem ausdrücklichen Übertreten von Verwaltungsvorschriften, öffentlich und als möglichst deutliche Unterstützung für die Protestierenden zum Ausdruck bringen.
Graz, 4. Juni 2023
Heinz Wittenbrink
@heinz da bin ich gespannt! @LetzteGenerationAT