Ein Vorschlag zur Definition von web literacy: Web literacy ist die die Fähigkeit, mit den Mitteln des Web reflexiv eine gemeinsame soziale Realität zu erzeugen.

Ich habe gestern zwei Aufsätze gelesen, die sich mit der Reflexivität in der Ethnomethodologie beschäftigen (Geschichte versus Genealogie von Andreas Langenohl und The Notion of Member is the Heart of the Matter von Paul ten Have). Ethnomethodologen sehen Reflexivität als eine Eigenschaft jeden sozialen Handelns an. Soziales Handeln erzeugt immer zugleich das, was es ausdrückt; die Methoden, mit denen man von seinen Handlungen Rechenschaft ablegt, sind Bestandteile des Handelns. Beim Handeln werden Äußerungen, Dokumente und Dokumentationen produziert, die es für die Handelnden und ihre Mitwelt verständlich machen. Mitglied einer Gruppe ist man dadurch, dass man von seinem Handeln in dieser Gruppe Rechenschaft ablegen kann.

Sein Handeln zu begründen und zu dokumentieren, Rechenschaft von ihm abzulegen (Garfinkel spricht von accountancy) bedeutet Methoden anzuwenden, um in offenen Situationen immer wieder neu eine soziale, gemeinsame Realität zu produzieren. Ein Beispiel: Wenn ich als Lehrer einem Studenten eine Note gebe, benutze ich explizite (z.B. ein Punktesystem) und implizite (z.B. mein Bewertung seiner sprachlichen Fähigkeiten) Schemata zusammen mit Verfahren zur Ankündigung und Abhaltung von Prüfungen und zur Dokumentation, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das für den Studenten, für meine Kollegen, für mich und für meine Vorgesetzten plausibel ist, das wir als gemeinsame Realität verstehen. Wie alle Beteiligten folge ich nicht nur Regeln, sondern erkläre zugleich, welchen Regeln ich folge und warum ich ihnen folge, ich muss mich mit Situationen beschäftigen, bei denen ich mit den Regeln nicht auskomme, und ich muss auch immer wieder Regeln neu aushandeln. Die soziale Wirklichkeit liegt nicht vor, sondern sie wird immer wieder neu gemacht. Die Methoden, die die Mitgliedern einer Gruppe dabei gemeinsam verwenden, machen ihre Kompetenz aus.

Lässt sich dieser Begriff vor Reflexivität für die Beschreibung von Webmedien oder sozialen Medien fruchtbar machen? Menschen, die soziale Medien verwenden, produzieren eine gemeinsame soziale Realität und legen gleichzeitig permanent von ihren Aktivitäten in dieser Realität Rechenschaft ab. Webkompetenz oder web literacy bestünde dann aus den Methoden, mit denen man im Web eine soziale Wirklichkeit produziert. Dazu gehören z.B. Methoden, um die Reputation von Teilnehmern oder die Wichtigkeit von Informationen festzustellen. Dazu gehören auch Methoden, z.B. mit Kommentaren, Retweets und ähnlichem auf Äußerungen zu reagieren. Alle diese Methoden sind nicht einfach etwas Vorgegebenes, sondern sie werden laufend diskutiert, und man macht sich sein Handeln in dieser Web-Wirklichkeit immer wieder wechselseitig verständlich—wohl eine der Hauptfunktionen von Blogs, Microblogs und Veranstaltungen wie BarCamps.

Das sind nur Anfangsüberlegungen. Nächste Schritte könnten genauere Analysen zur Reflexivität und ethnographische Detailbeschreibungen des Umgangs mit sozialen Medien sein, die die accountancy, die Verfahren, Rechenschaft von der eigenen Praxis abzulegen, thematisieren.

Ich lese gerade Garfinkels langen Text Passing and the managed achievement of sex status in an „intersexed“ person in den Studies in Ethnomethodology. In diesem Text geht es darum, wie eine Frau vor und nach einer Geschlechtsumwandlung die weibliche Rolle abonniert. Das Ziel Garfinkels ist es herauszubekommen, wie eine solche Rolle als moralische Entität oder moralisches Objekt verstanden wird. Agnes, so nennt Garfinkel die Person, die er beschreibt, managt das passing, den Übergang zu einem medizinisch gesehen neuen Geschlecht, indem sie sich darauf beruft, dass sie von Natur aus immer schon eine Frau gewesen ist.

Mich interessiert diese Rechtfertigung bzw. dieses Verständlichmachen. In Garfinkels Theorie spielen die Begriffe account und reflexivity eine wichtige Rolle. Zu jeder Art von menschlichem Handeln gehört Rationalität nicht im theoretischen Sinn sondern im Sinne des Verständlichmachens, Erklärens oder Rechtfertigens der eigenen Handlungen für andere und für sich selbst. Soziale Ordnungen oder Strukturen entstehen, weil—oder setzen voraus, dass—mehrere Akteure ihr Handeln füreinander so rechtfertigen bzw. verständlich machen können, dass sie sich wechselseitig aufeinander beziehen können. Dabei handelt es sich nicht um ein Verständlichmachen gegenüber einem theoretischen Zweifel sondern um eine permanente Berufung auf Selbstverständliches, das als solches schwer zu thematisieren ist und außer von Soziologen oder Phänomenologen auch kaum thematisiert wird.

Im Grunde geht es dabei immer darum, was die soziale Wirklichkeit ist, was von den Teilnehmern in einer sozialen Struktur als unbezweifelbar und gewiss angesehen wird. Es gibt z.B. durchaus sozial sanktionierte Möglichkeiten das Geschlecht zu wechseln, z.B. im Karneval oder im Theater. In solchen Fällen kehrt man aber danach immer wieder zu seinem wirklichen Geschlecht zurück, an dem niemand zweifelt. (Mit diesen unverrückbaren praktischen Gewissheiten beschäftigt sich Garfinkel vor allem.)

Ein ganz anderes Beispiel: Gestern habe ich mit Kollegen über Lehrveranstaltungen diskutiert. Dabei haben wir uns alle drei auf die Aufgaben eines Bachelor-Studiums bezogen. Wir haben unsere Position bei relativ konkreten Fragen gerechtfertigt, indem wir uns auf sehr abstrakte Grundsätze und Programmen bezogen haben. Handlungen oder Äußerungen, die man nicht in einer solchen oder ähnlichen Form rechtfertigen kann, würden offenbar als unsozial, unverständlich, irrational oder ähnlich eingeschätzt. Die selbstverständliche Realität besteht in diesem Fall nicht in den Grundsätzen, auf die wir uns berufen haben, sondern darin, dass wir uns auf Grundsätze berufen.

In Bezug auf das Web stellt sich die Frage, ob es dort spezifische Selbstverständlichkeiten gibt und in welchen Verhältnis sie zu anderen sozialen Selbstverständlichkeiten stehen. Ein Beispiel, dass mich an den Geschlechtswandel im Karneval erinnert, nach dem man zu seinem natürlichen Geschlecht zurückkehrt: Der Realitätscharakter digitaler Informationen ist für viele Menschen offenbar unklar; Realität haben für sie nur Informationen, die ausgedruckt sind. Vielfach unterliegen digitale Informationen generell dem Zweifel an ihrer Wirklichkeit (so wie es mindestens früher auch mit geschriebenen Informationen war; die platonische Schriftkritik geht wohl von der grundsätzlichen Unzuverlässigkeit schriftlicher Informationen aus).

Für ethnomethodologische Untersuchungen zum Web kann das heissen: Auf einer Ebene lässt sich untersuchen, wie Akteure im Web ihr Handeln rechtfertigen und verständlich machen. Dafür gibt es Beispiele vom Literate Programming bis zur Selbstdarstellung bei Twitter. Auf dieser Ebene geht es um die accounts im Sinner Garfinkels, die nicht etwas Sekundäres sind, sondern zu jedem sozialen Handeln gehören. Auf einer zweiten Ebene lässt sich fragen, welche sozialen Objekte die Teilnehmer an der Webkommunikation konstruieren, oder: an welche Objekte sie glauben, welche Objekte für sie eine soziale und moralische Autorität, einen Sollenscharakter haben, und welche Eigenschaften diese Objekte haben.

Das sind sehr provisorische Überlegungen; ich bin mir nicht sicher, ob ich mit meinem Verständnis Garfinkels überhaupt richtig liege. Ich habe aber den Eindruck dass das Rechtfertigen und Transparentmachen des eigenen Agierens im Web ein Schlüsselthema sein könnte, wenn man herausfinden will, was die sozialen Eigenschaften des Webs sind.

Gestern habe ich in einem Aufsatz Jörg R. Bergmanns (als PDF hier) gelesen:

Wenn nun z.B. ein Sprecher die Worte eines anderen zitiert, tritt der, der diese Worte aktiviert, neben den, von dem diese Worte stammen. Diese Aufspaltung des Sprechers im Zitat aber hat weitreichende Konsequenzen, etwa die, daß die Person, die spricht, die Verantwortung für die Äußerung, die sie wiedergibt, an denjenigen delegieren kann, dessen Worte sie zitiert und dem diese Worte gewissermaßen ‚gehören‘.

In der gleichen Weise, in der GOFFMAN das Konzept des ‚Sprechers‘ dekonstruiert, zieht er auch verschiedene Beteiligungsrollen, die im Konzept des ‚Hörers‘ enthalten sind, typologisch auseinander. So unterscheidet er u.a. ratifizierte von nicht ratifizierten Zuhörern, und im Hinblick auf die erste Gruppe nochmals zwischen angesprochenen und nicht angeprochenen Rezipienten bzw. zwischen zufälligen Mithörern und absichtlichen Lauschern bei der zweiten Gruppe. Alle diese möglichen Zuhörertypen faßt GOFFMAN dann zu dem zusammen, was er als „participation framework“ bezeichnet.

Was tue ich eigentlich, wenn ich bei Twitter etwas retweete, also einen Tweet eines anderen von meiner Adresse aus weiterschicke und den anderen dabei nenne? Auch dabei zitiere ich, allerdings in einer anderen Form: Der Zitierte ist verlinkt und wird darüber benachrichtigt, dass ich ihn zitiere. Der zitierte Tweet geht an meine Follower, das sind (grob) die ratifizierten Zuhörer, und er ist für andere Webuser zugänglich, die nicht ratifizierten Zuhörer (die ich nicht ausgeschlossen habe, was bei Twitter möglich wäre).

Ich bin in einer „Gesprächssituation“ die dem mündlichen Zitieren sehr ähnlich ist und andererseits davon auch sehr verschieden (dasselbe gilt für schriftliche Zitate): Vergleichbar mit dem mündlichen Zitat, aber nicht völlig, ist der zeitliche Charakter der Kommunikation: Ich erreiche meine Follower zu einem Zeitpunkt x, wobei aber mein Tweet archiviert ist und ihn die meisten in einer bestimmten Zeitspanne wahrnehmen, nachdem er abgesendet ist—ausgedehnt dadurch, dass er auch bei FriendFeed (wo es ebenfalls ratifizierte und nicht ratifizierte Leser gibt) und möglicherweise auch auf Facebook (wo nicht ratifizierte Adressaten ausgeschlossen sind) zu lesen ist.

Wenn ich retweete, kommuniziere ich bewusst: Ich will meine Follower über etwas informieren, das ich für interessant, witzig oder wichtig halte. Das erwarten sie vermutlich auch von mir, und deshalb haben sie meine Tweets abonniert. Was das Retweeten angeht, erwarten sie von mir eine Auswahl: Sie würden mir nicht mehr folgen, wenn ich eine großen Zahl der Tweets, die ich erhalte, einfach weiterschicken würde.

Für meine Follower habe ich eine bestimmte Rolle, zu der eine bestimmte Frequenz von Botschaften und ein bestimmter Charakter dieser Botschaften gehört. Was ich retweete, muss in diese Frequenz und zu diesem Charakter passen, es muss zu meiner Rolle passen. Wenn ich etwas retweete, erweitere ich andererseits meine Rolle, und zwar um so etwas wie einen Teil der (individuellen) Rolle der Person, deren Tweets ich weiterschicke. Sie ist für mich eine Ergänzung und ich eigne mir zum Beispiel etwas von ihrer Autorität an.

Anders als beim mündlichen Zitat gibt es ein @-Link zu der Person, die ich zitiere, sie erfährt davon (sie erhält meinen Tweet als eine Antwort auf ihre Tweets) und meine Follower können sich zu ihr durchklicken. Sie könnte mich „bannen“, wenn ihr nicht passt, dass ich sie zitiere. Sie kann mir aber auch folgen, wenn sie erst durch mein Retweeten davon erfährt, dass ich ihr folge. Wie stehen also in einer ziemlich spezifischen Beziehung zueinander, die durch die Institution Twitter möglich wird oder zu ihr gehört, und die wiederum auf der Institution Web (ohne die es diese Links nicht gäbe) basiert. Diese Art der Beziehung gibt es im Web (außer bei Microblogging-Diensten) so sonst nicht, und es gibt sie erst recht nicht außerhalb des Webs.

Meine Beziehungen zu den Leuten, denen ich followe (deren ratifizierter Zuhörer ich bin und die von mir gelegentlich retweetet werden) gehören zu meiner Rolle als Twitterer. Das wird bei Twitter dadurch unterstrichen, dass für jeden auf meiner Twitterpage sichtbar ist, wem ich folge. Ähnliches gilt für die Twitterer, die mir folgen.

Diese Twitter-spezifischen Erwartungen stehen wieder in komplizierten Beziehungen, zu anderen Rollen, die ich im Web (z.B. als Blogger, als Autor anderer Texte, als Mitglied in bestimmten sozialen Netzwerken) und außerhalb des Webs (z.B. als Lehrer) habe. Als jemand, der twittert, bin ich ein Autor in einer bestimmten medialen Öffentlichkeit, und ich kann auch im Web nur als solcher wahrgenommen werden—von Menschen, die mich sonst gar nicht kennen. Ich konstruiere mich Twitter-spezifisch, und nur Leute, die dieses Medium mit seinen besonderen Erwartungshaltungen nicht verstehen, reagieren auf meine Tweets ausschließlich wie auf in einer anderen Öffentlichkeit geäußerte Sätze.

Zurück zum Retweeten, einer Twitter-typischen Form des Zitierens: Etwas verkürzt und abgehoben kann ich sagen: Das Retweeten konstituiert mich mit als Twitterer, der als Bestandteil eines Netzwerks von Leuten, denen er folgt, schreibt. Durch die Möglichkeit des Retweetens werde ich zum Autor einer sehr bestimmten Form von Hypertexten, die es ohne Microblogging nicht gäbe. Meine Autorenrolle ist von anderen Twitter-typischen Rollen (Follower, Followee) nicht ablösbar.

Das sind Anfangsüberlegungen zu einer Beschreibung von Web-spezifischen Rollen- und Erwartungssystemen. (Wobei ich voraussetzungsvolle Konzepte wie Rolle und Öffentlichkeit nur provisorisch verwende.) Ich hoffe, dass ich sie demnächst methodisch abgesicherter und systematischer fortsetzen kann. Naheliegend ist es, als nächstes die „individuellen“ Rollen oder Charakterisierungen einzelner Autoren und die zum System Twitter gehörenden Rollen voneinander zu unterscheiden. Leider kenne ich Goffman bisher fast gar nicht: Allein der Ausdruck participation framework ist für jemand, der sich mit sozialen Medien beschäftigt, faszinierend.

Mark Bernstein hebt Anna Rogozinskas Präsentation über Diätblogs auf der BlogTalk als fine bit of fine bit of Web scholarshiphervor:

here’s a lot to be learned, here, both descriptive and prescriptive; I’m not sure we know a lot more about cultivating Web and Wiki communities than we did when Powazek wrote the book.

Die Präsentation auf Slideshare:

Anna Rogozinska beschreibt ihre Arbeit hier; Notizen von Stephanie Booth hier

Anna Rogozinska untersucht, wie Bloggerinnen ihre Identität konstruieren, sie spricht von writing the self und fragt komplemetär how to ‚read‘ identity from the logovisual discourse of the internet.
Sie spricht vom Kontext als einem Schlüsselbegriff der anthropologischen Untersuchung des Internet, und unterscheidet dabei zwischen medialem, sozialem und kulturellem Kontext. Obwohl sie einen ganz anderen Ausgangspunkt hat, gibt es hier eine Brücke zu Teun A. van Dijks Untersuchungen von Kontextmodellen (meine ersten Notizen dazu hier). Vielleicht stellt sich hier die Frage nach dem Verhältnis von Kontext und repräsentiertem Kontext oder Kontextmodell.

Mich interessiert, ob sich Anna Rogozinska auch mit der Beobachtung/Beobachtbarkeit von Blogs und der wechselseitigen Regulierung (z.B. einer von außen zugeschriebenen Identität) beschäftigt hat. Wo findet die Konstruktion der Identität statt? Beim Bloggen oder beim Lesen des Blogs in seinem Kontext?