Alexandra Nussbaumer von der ÖVP hat einige Blogger zur Rede zur Lage der Nation des Parteivorsitzenden eingeladen. Ausser mir folgen wohl nur Georg und Tom der Einladung.

Ich glaube, dass einige Bloggerkolleginnen und -kollegen nicht missbraucht werden möchten, und dass sie es für überflüssig halten von einem Ereignis zu berichten, dass schon von den Veranstaltern selbst ins Web gestreamt und breit kommuniziert wird. Warum fahre ich trotzdem hin? Ein Grund ist, dass Michi Mojzis und Alexandra Nussbaumer von der ÖVP Ende Mai zu unserem PolitCamp nach Graz kommen werden. Ich fände es unhöflich, mich nicht bei ihnen sehen zu lassen. Ich wäre aber auch sonst gefahren — weil ich es interessant finde, diese Partei und ihre Kommunikation zu verfolgen. Für mich ist es das dritte Großevent der ÖVP, dass ich beobachten kann, und ich hoffe, dass ich durch die Kontinuität einiges genauer wahrnehme.

Ich werde diesmal nicht versuchen, live mitzubloggen, weil das wahrscheinlich niemanden interessiert. (Ich werde auch nicht durch Parteitags-Tweets meine Twitter-Follower verschrecken.) Ich werde mich auf die Themen konzentrieren, die mich besonders interessieren: Informationstechnologie, Datenschutz und Bürgerrechte, Bildungspolitik. Außerdem interessiert mich jedes Anzeichen dafür, dass sich die interne Kommunikation der ÖVP verändert: Gibt es Hinweise darauf, dass sich die Partei selbst als ein soziales Netz versteht? Etwas spekulativer formuliert: Kann sich eine Partei wie die ÖVP von einem zentralistischen, hierarchischen Modell der Organisation und der Politik zu einem dezentralen, wissensorientierten Modell bewegen?

Die Kommunikationsleute der ÖVP laden Blogger ein, weil sie sich für die neue Medien jenseits der Broadcast-Medien interessieren. Die neuen Medien sind aber — professoral formuliert, sorry! — gar nicht vor allem Medien, sondern neue Kommunikations- und Organisationsformen. Kleine und große Gruppen von Menschen können sich vernetzen, kommunizieren und Ziele verfolgen, ohne sich an starre und ausgrenzende Organisationen zu binden. In Mitteleuropa ist diese neue Welt der Organisation und Kommunikation noch im Embryonalzustand; Amerika ist schon weiter, wie die Obama-Kampagne zeigt. Die politischen Parteien haben aber auch in Europa das Rentenalter erreicht, um im Bild zu bleiben. Können, wollen sie sich transformieren, einen neuen Aggregatzustand annehmen? Ist es z.B. denkbar, dass sie auf ihre Exklusivität verzichten? Dass sie die parteipolitisch eingefärbten spätabsolutistischen Verwaltungs- und Verteilungsapparate demontieren? Oder werden sie langsam aber sicher von neuen Formen der Organisation außerhalb der Parteien abgelöst werden? Mit dieser Frage besuche ich das ÖVP-Event heute; ich hoffe, dass ich sie auch einigen in der Partei persönlich stellen kann.

Im Vorfeld des PolitCamps möchte ich auf Clay Shirky hinweisen, dessen begriffliches Instrumentarium die politischen Konsequenzen des Internets sehr gut begreifbar macht: Shirky analysiert die Folgen des Netzes für die Handlungen von Gruppen und kommt zu dem Ergebnis, dass das Internet kollektive Handlungen (collective actions) in einem Ausmaß erleichtert, das es in der Geschichte nie gegeben hat.

Im April ist Shirky Buch Here Comes Everybody: The Power of Organizing Without Organizations erschienen. Über diesen Text (ich habe ihn selbst noch nicht gelesen) ist bisher in der Blogosphäre eher wenig zu finden. Über zentrale Thesen informieren eine Rezension (einschließlich eines langen Interviews mit Shirky) auf Arstechnica und dieses Video (in besserer Qualität hier) mit einem Vortrag Shirkys im Berkman Center der Harvard University:

In dem Vortrag im Berkman Center unterscheidet Shirky vier Formen von Gruppenbildung, die das Internet unterstützt:

  • Teilen (sharing)
  • Unterhaltung (conversation)
  • Zusammenarbeit (cooperation)
  • Kollektives Handeln (collective action)

Für Teilen, Unterhaltung und Zusammenarbeit finden sich im Netz heute jede Menge Beispiele. del.icio.us zeigt, wie Informationen im Netz geteilt werden können, zur Unterhaltung fällt einem sofort die Blogosphäre, zur Zusammenarbeit die Wikipedia ein. Die Zeit des webgestützten kollektiven Handelns beginnt für Shirky gerade erst. Das Web macht gemeinsame Aktionen lächerlich einfach, wie er sagt. Gesellschaft und politische Institutionen stehen damit vor einem fundamentalen Wandel.

Shirky bringt zwei Beispiele für erfolgreiche kollektive Aktionen, die über das Web organisiert wurden: Die Koalition für eine Bill of Rights der Fluggäste hat es in wenigen Monaten geschafft hat, dass im Staat New York ein entsprechendes Gesetz verabschiedet wurde (mehr dazu hier). In Palermo setzt sich die Zivilgesellschaft mit Addiopizzo weit wirksamer als bisher gegen die Mafia zur Wehr.

Für Shirky entfalten Techniken ihre gesellschaftlichen Konsequenzen erst, wenn sie langweilig geworden sind; dieser Moment sei beim Internet erreicht:

As the Internet radically reduces the costs of collective action for everyone, it will transform the relationship between ordinary individuals and the large, hierarchical institutions that were a dominant force in 20th-century societies [Arstechnica].

Shirkys Verständnis der kollektiven Aktion ist sicher einen Essay wert (zu dem ich hoffentlich komme, wenn ich das Buch tatsächlich gelesen habe): Der Begriff des kollektiven Handelns stammt aus der soziologischen und volkswirtschaftlichen Tradition; er wird z.B. auch von Howard Rheingold verwendet, um die Bildung von Gruppen im Internet zu erklären; er ist wie der Begriff des sozialen Netzes ein Schlüsselkonzept für einen kritischen Diskurs über das Web. Beim Politcamp könnte man ausgehend von diesem Begriff zwei Fragenkomplexe angehen:

  1. Welche neuen Formen des politischen kollektiven Handelns werden durch das Internet möglich? Welche Beispiele für sie gibt es? Welche Techniken lassen sich dabei verwenden? Wie werden sie sich auf die Gesellschaft auswirken? In welcher Beziehung stehen sie zu älteren Formen kollektiven Handelns jenseits der politischen Institutionen z.B. Bürgerinitiativen?

  2. Wo können oder müssen die bestehenden politischen Institutionen durch webbasierte kollektive Aktionen verändert werden? Wo verdienen sie erhalten zu werden, wo nicht? Was bedeutet politische Professionalität in Zeiten des Internets? Wie verändert sich das Verhältnis von Politik und Medien, wenn prinzipiell alle Informationen allen Bürgerinnen im Web zugänglich gemacht werden können? Haben die Parteien in einer Internetdemokratie noch eine sinnvolle Funktion?

Wenn Shirky Recht hat, wenn die Zeit des kollektiven Handelns im Web beginnt, findet unser Politcamp zum richtigen Zeitpunkt statt. Wir sollten die Gelegenheit nutzen und ohne Tabus fragen, welches Veränderungspotenzial das Netz für die Politik hat.

Jeff Jarvis entwirft in einem IdeaStorm auf allen Ebenen und in allen politischen Bereichen, um laufend Vorschläge und Ideen der Bürgerinnen zu sammeln.

  • Persönliche politische Webseiten möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger, in denen die eigenen politischen Positionen, Wünsche und Vorschläge publiziert werden (so etwas wie Profile in einem politischen Social Network); ein politisches Gegenstück zum Konzept des Vendor Relationship Management, an dem Doc Searls und viele andere arbeiten.

  • Jarvis will die repräsentative Demokratie nicht aufheben, sondern ergänzen. Seine Vorschläge laufen auf eine Open Source-Politik hinaus, wobei wohl auch für Jeff Jarvis offen ist, wie sich Social Networking-Elemente schließlich politisch übersetzen lassen. Ein Motiv ist, politische Prozesse zu demokratisieren, die Mittel des Web zu verwenden, um die Politik aus ihrer bürokratischen und mediokratischen Erstarrung zu lösen. Genauso wichtig ist die Hoffnung, dass die offene Kommunikation die Politik effizienter macht. Jarvis glaubt (und da schließe ich mich gerne an), dass mehr Beteiligung der Bürger bei der Lösung von Sachfragen dazu führen wird, dass die Suche nach kreativen Lösungen eine wesentlich größere Rolle spielen wird als heute. Er will die Einstellungen, mit denen Google groß geworden ist, politisch fruchtbar machen.

    Mit Sicherheit wird diese Position als naiv, idealistisch und technokratisch verdammt werden. Zu Unrecht, wie ich glaube: Naiv ist eher die Annahme, dass die heutigen Formen der professionalisierten Parteipolitik (statt des Gesuderes der Basis), des institutionalisierten Lobbyismus und der politischen Manipulation über Bild und Glotze (G. Schröder) der Realität einer Wissens- und Informationsgesellschaft und der Komplexität der Probleme gerecht werden können, vor denen die Politik heute schon auf der kommualen Ebene steht.

    Lesenswert sind übrigens auch die Kommentare zu Jarvis‘ Text. Merken werde ich mir einen Satz von Bob Wyman:

    Die wichigste Determinante für die Fähigkeit einer Gesellschaft, eine demokratische Regierungsform zu begründen und zu erhalten, ist die Verteilung und Wirksamkeit der Techniken, die verfügbar sind, um Informationen zu erzeugen und zu teilen.

    In ihrem Koalitionsabkommen (PDF, via Julian) erwähnen die Grazer Grünen und Volksparteiler die FH Joanneum gleich dreimal: Die bestehenden Studiengänge sollen am Standort Graz erhalten werden, die Stadt will ihre Mitbestimmungsrechte wahrnehmen (sprich: auf einem Sitz im Aufsichtsrat bestehen), die Kreativstudiengänge soll es weiter geben.

    Immerhin ein positives Signal für unseren Studiengang! Zur Zeit fährt das Land Steiermark noch den entgegengesetzten Kurs. Journalismus und Medien z.B. sind zu Unworten geworden, die in den Bezeichnungen von Masterstudiengängen nicht vorkommen sollen. Symbolische Politik für die Obersteiermark rangiert für die Landes-SPÖ offenbar noch immer vor den Bedürfnissen der Medien- und Kreativwirtschaft.

    Ich habe gestern gemerkt, dass einige meiner Bekannten das Video noch nicht kennen, in dem Lawrence Lessig dazu aufruft, Barack Obama zu wählen. Man fragt sich, welcher europäische Politiker eine solche Unterstützung verdient hätte. Wie immer faszinierend: Lessigs Präsentationsstil. Das Video ist ein Beispiel für politische Kommunikation im Web, und es zeigt auch, wie anders die politischen Parameter in den USA sind.

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    Richard Pope berichtet sehr amüsant von einem Barcamp für Government Geeks im Londoner Google-Hauptquartier. U.a.:

    There’s no lack of enthusiasm with the GovGeeks, but they seem to feel constricted by the currently slow moving, contract orientated ways of the civil service, as well as the ever changing grand plans from above of the more strategic looking civil servants (someone presented a truly mind-boggling-design-by-commitee flowchart of how the future version of direct.gov.uk is supposed to work).

    Sicher auch ein Vorbild für unser PolitCamp im Mai! Organisiert hat das BarCamp Jeremy Gould. Hier fasst er seine Erfahrungen zusammen [via currybetdotnet].

    Im Herbst startet ein neuer internationaler Studiengang New Media Journalism. Träger sind sind das Masterprogramm Medien Leipzig an der Universität Leipzig, die Hamburger Akademie für Publizistik, das Kuratorium für Journalistenausbildung in Salzburg und die Schweizer Journalistenschule in Luzern. Ich wünsche den Kollegen alles Gute und hoffe, dass einige unserer Absolventen diesen — dringend nötigen — Ausbildungsgang besuchen werden.

    Ich schreibe das nicht ohne Bitterkeit. An der Grazer FH Joanneum hat die SPÖ-geführte Landesregierung vor genau einem Jahr einen berufsbegleitenden Masterstudiengang Web Publishing und Digitale Kommunikation gestoppt — ohne Angaben von Gründen, ohne Diskussion und trotz nachgewiesenen Bedarfs in der Wirtschaft und bei potenziellen Studierenden. Wer aus der Steiermark kommt und sich für den Journalismus im Web ausbilden lassen möchte, wird sich jetzt wohl nach Salzburg und nicht nach Graz orientieren müssen. Die hiesige SPÖ — die zuletzt beim Grazer Kommunalwahlkampf demonstriert hat, dass sie Wörter wie Öffentlichkeit, Medien und Journalismus nicht buchstabieren will — hat auf den Vorsprung bei einem Zukunftsthema freiwillig verzichtet.

    Kleines Detail am Rande: Kurz bevor die Pressekonferenz mit Le Pen und Co. im Sitzungssaal des FPÖ-Parlamentsklubs begann, kam ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz bei der Tür des FPÖ-Klubs heraus. Er hatte einen Termin bei FPÖ-Chef Strache [Eine Stunde mit den Patrioten « DiePresse.com].

    Das ist einer der widerwärtigsten Züge der österreichischen Politik- und Medienlandschaft: In ihr gelten Leute als respektabel, die Demokraten in westlichen Ländern nicht einmal als Gesprächspartner akzeptieren würden. Der ORF biedert sich Strache, Mölzer und Westenthaler als Dauerinszenator an — immerhin verdankt Wrabetz ja auch diesen Figuren seinen Job. Und hier in der Steiermark faselt Hermann Schützenhöfer von einer möglichen "Läuterung" der FPÖ.

    Siegfried Nagl hat am Grazer Wahlabend von Problemen gesprochen, die sich mit Ausgrenzung allein nicht lösen ließen. Ich vermute, dass er damit nicht die Ausländer, sondern die in Graz besonders unappetitliche FPÖ meinte. Wenn die ÖVP sich auf dieser Seite nicht eindeutig abgrenzt, macht sie den Rechtsradikalismus in der Steiermark weiter hoffähig. Sie darf sich nicht wundern, wenn ihr die Polit-Zombies dann die Themen diktieren.

    Der Standard hat in gestern in einem kleinen Scoop Ergebnisse einer Studie publiziert, die der steirische Landesrat Hirt seit Wochen unter Verschluss hält: Feinstaubgehalt der Luft und Sterblichkeit durch Herz- und Kreislaufkrankheiten hängen direkt zusammen. Menschen sterben früher, wenn Feinstaub in der Luft ist, und zwar schon, wennn die offiziellen Grenzwerte noch lange nicht erreicht sind. Beunruhigend für jeden, der in Österreichs Feinstaub-Hauptstadt Graz lebt!

    Der Standard interessierte sich nicht nur für die Gefährlichkeit des Feinstaubs — die ist, wenn auch nicht so genau, schon länger bekannt. Dem Standard ging es auch um den kleinen Skandal im großen: Dass ein Landesrat (das entspricht einem deutschen Landesminister) nach Gutdünken darüber befindet, ob und wann die Ergebnisse einer Studie, die er selbst in Auftrag gegeben hat, den Bürgern präsentiert werden. Die Ö1-Nachrichten um 18:00 ließen den offenbar gänzlich überforderten Hirt noch kurz zu Wort kommen, immer noch mit der (für die steirische Landesregierung durchaus charakteristischen) anmaßenden Haltung, selbst entscheiden zu können, welche Wahrheiten der Bevölkerung zuzumuten sind. Offenbar hält er seine Behörde für den berufensten Interpreten wissenschaftlicher Aussagen. In der 19:00-Uhr-Sendung von "Steiermark heute", der Fernsehnachrichtensendung, die von der Masse der Bevölkerung in der Steiermark gesehen wird, war davon überhaupt nicht mehr die Rede. Die Ergebnisse der Studie wurden im Nachrichtenblock kurz erwähnt, nachdem zuvor ausfühlich darüber berichtet worden war, dass es auf den steirischen Bergen zu immer gefährlicheren Skiunfällen kommt. Die Landesregierung kam nur brav als Auftraggeber vor. Ihre Publikationspolitik war kein Thema, so wenig wie später in der ZiB2 um 22:00.

    Vielleicht ein Zufall, vielleicht Nachlässigkeit oder Desinteresse der Redaktion! Wahrscheinlicher aber ist, dass man sich beim steirischen ORF gescheut hat, die Landesregierung anzugreifen — schließlich wird ja die Stelle des ORF-Landesdirektors auch politisch besetzt. Der ORF klagt darüber, dass ihm die Zuschauer weglaufen. Aber wenn er die Chance hat, über ein Thema zu berichten, dass die Menschen hier wirklich interessiert, fällt ihm nicht viel ein.

    PS: Der Kleinen Zeitung war die Geschichte heute die Titelstory wert (Claudia Giglers Artikel hier). Bei den Grünen hat Peter Hagenauer das unerträgliche Verhalten des Gesudheitslandesrats zum Thema gemacht. Aber die Grünen vermeiden es geradezu, das Thema Feinstaub in den Mittelpunkt des Grazer Kommunalwahlkampfes zu stellen. Stattdessen möchten sie bei der Tagung des Nationalratsclubs, die heute in Graz beginnt, endlich mit einer systematischen Diskussion über soziale Gerechtigkeit beginnen.