Ich lese — und schaue mir an — Paris: Ville Invisible von Bruno Latour und Emilie Hermant. Den kompletten englischen Texts dieses crossmedialen Werks — Website und Bildband — kann man downloaden. Er führt in Latours Soziologie ein, und er ist gleichzeitig so etwas wie eine Serie von guided tours durch Paris, das sich wie jedes soziale Phänomen nur Ketten von Beobachtungen, nie einem zusammenfassenden Blick erschließt.

Ich bin noch immer am Anfang der Latour-Lektüre; einerseits finde ich seine Argumentationen überzeugend, andererseits kann ich sie noch nicht wirklich in eine Beziehung zu den Dingen bringen, mit denen ich mich sonst beschäftige. Ein Schlüssel könnte im Begriff den Information oder besser in Latours Kritik an diesem Begiff liegen. Mit einer Volltextsuche findet man in den ersten Abschnitten von Paris: Ville Invisible folgende Aussagen über Information:

The little computer mouse makes us used to seeing information as an immediate transfer without any deformation, a double-click. But there is no more double-click information than there are panoramas; trans-formations, yes, in abundance, but in-formation, never. [p. 18]

The comfort of habit makes us believe in the existence of double-click information. We begin to be attentive to their strange nature only if we turn towards objects with which we are totally unfamiliar. [p. 20]

Nothing in double-click information allows us to keep a trace of this layering of intermediaries; yet without this wandering the trace of the social is lost, for words then refer to nothing and no longer have any meaning – that is, no more movement. [p. 23]

We don’t live in „information societies“ for the excellent reason that there is neither a Society nor information. Transformations, yes, associations, yes, but transfers of data without transformation, never. [p. 23]

To measure the hiatus explaining transformations of information, we should also avoid two symmetrical mistakes: the first would be to forget the gain and to deduct only the loss; the second, that we’re about to consider, would be to forget the loss. [p. 26]

Megalomaniacs confuse the map and the territory and think they can dominate all of Paris just because they do, indeed, have all of Paris before their eyes. Paranoiacs confuse the territory and the map and think they are dominated, observed, watched, just because a blind person absent-mindedly looks at some obscure signs in a four-by-eight metre room in a secret place. Both take the cascade of transformations for information, and twice they miss that which is gained and that which is lost in the jump from trace to trace … [p. 28]

If we want to represent the social, we have to get used to replacing all the double-click information transfers by cascades of transformations. To be sure, we’ll lose the perverted thrill of the megalomaniacs and the paranoiacs, but the gain will be worth the loss.

Gegenbegriffe zu Information sind Transformation, Vermittlung, Übersetzung, intermediaries. Latours Soziologie ist eine Soziologie des Intermediären — Soziologie im Sinne Latours ist die Wissenschaft vom Intermediären.

Every time we talk of intermediaries we talk not of lies but, on the contrary, of truth, of the only one we have, provided we always follow the traces, the trajectory of figures, and never, never stop on the image.

Vielleicht kommt es darauf an, soziale Medien als intermediäre Phänomene zu verstehen, als Transformatoren und Vermittler, die immer nur zusammen mit anderen Vermittlern funktionieren, als Teile der Kaskaden (vielleicht eine zu einsinnige Metapher!), von denen Latour spricht. Sie funktionieren nicht alleine, und vielleicht können sie auch nicht Gegenstand einer Medientheorie werden, weil die Medien keinen Vorrang in der Vermittlung haben, sondern man zwischen Sozialem, Medialen und Intermediären nicht wirklich unterscheiden kann.

Konkreter: Soziale Medien sind Teile von Ketten oder Netzen, zu denen Literacy und soziale Organisation des Umgangs mit Medien ebenso gehören wie die Praktiken der Informationsaufbereitung und -aggregierung in den verschiedenen sozialen und professionellen Kontexten. Sie lassen sich höchstens als technische Phänomene isolieren, aber ihr sozialer Charakter besteht in ihrer Verschaltung mit anderen intermediären Phänomen. Sie lassen das, was sie vermitteln, nicht unverändert, und sie sind selbst auf Transformationen angewiesen, um sozial zu funktionieren. Zu diesen Transformatoren gehören so unterschiedliche Dinge wie bildgebende Verfahren, Textverabeitung, Recherchetechniken, Techniken des sozialen Lernens und ehische Kodizes.

Ich suche schon lange nach Verbindungen zwischen dem Thema, das mich vor allem interessiert — welche Folgen haben Online-Medien für das Schreiben und die Literarizität? — und theoretischen Ansätzen, die mich faszinieren, ohne das ich sie bereits durchschaue: Ethnomethodologie, Konversationsanalyse und Actor Network Theory. In der letzten Woche habe ich ein paar Spuren gefunden, die dafür sprechen, dass sich soziale Medien mithilfe dieser Ansätze tatsächlich besser verstehen lassen.
Erhellend finde ich ein Interview, das Bruno Latour schon 1997 Pit Schulz und Geert Lovink von Nettime gegeben hat. Latour besteht unter anderem darauf, dass der Begriff Information nicht dazu geeignet ist, die inhaltliche Seite von Online-Medien zu erfassen. Er mache die Transformationen oder Übersetzungen unkenntlich, deren Agenten diese Medien sind:

There is only transformation. Information as something which will be carried through space and time, without deformation, is a complete myth. People who deal with the technology will actually use the practical notion of transformation.

So wie Bilder können digitale Informationen nur auf Gegenstände bezogen werden, wenn man sie im Kontext anderer Übersetzungen versteht:

One image, isolated from the rest, freeze framed from the series of transformation has no meaning. An image of a galaxy has no reference. The transformation of the images of the galaxy has. So, it is an anti information argument. Pictures of a galaxy has no information content. Itself the image has no meaning if it cannot be related to another spectography of a galaxy. What has reference is the transformations of images. Being iconophilic means following the flow of images, without believing that they carry information.

So wenig wie andere Medien können Computer und das Netz zu einer unmittelbaren Kommunikation beitragen; man entgeht durch ihnen nicht den Vermittlungen, die für alle sozialen Beziehungen charakteristisch sind (wobei zu den sozialen Beziehungen für Latour auch die Beziehungen zwischen Menschen und Objekten gehören):

We have a tremendous hype about globalization, immediacy, unversality and speed. On the other side we see localized transformations and there seems to be not connection between the two.

The rule is: whatever medium there is, you will always find someone to make a connection with them. But this is not the same as saying that there is an instantaneous connectibility. The digital only adds a little speed to it. But that is small compared to talks, prints or writing.

Latour weist in diesem Interview auf das Buch On the Origin of Objects von William Cantwell Smith hin. Ich bin diesem Hinweis nachgegangen und zum ersten Mal darauf gestoßen, dass es — mit Beteiligung von William C. Smith und vor allem im Umkreis des Xerox PARC eine Diskussionskomplex zum Thema Ethnomethodologie und Computing gibt, mit dem ich mich intensiver beschäftigen möchte. Beteiligt sind sowohl Vertreter von Konversationsanalyse und Ethnomethodologie wie Charles Goodwin und Lucy Suchman als auch Informatiker, darunter Gregor Kiczales.

Bisher kann ich leider nur Namedropping betreiben und habe noch keine genaue Vorstellung davon, wie tatsächlich durchgeführte Analysen sozialer Medien mit dem Instrumentarium der Ethnomethodologie und ihrer Nachfolger aussehen könnten. Anregungen findet man in diesem Kontext jedenfalls schnell, z.B. Goodmans Practices of Seeing, Visual Analysis: An Ethnomethodological Approach. oder Organising User Interfaces around Reflective Accounts von Paul Dourish, Annette Adler und Brian Cantwell Smith.

Dank Helge habe ich eine sehr interessante Präsentation über die Messung von Einfluss und ihren Autor Gregor Hochmuth entdeckt:

Wie finde ich interessante Informationen? Über Menschen, die mich interessieren. Wie finde ich heraus, ob jemand interessant ist, Einfluss hat? Indem ich sein Publikum anschaue. Dabei ist nicht unbedingt wichtig, wie groß das Publikum ist, sondern wer dazu gehört. Innerhalb des Publikums sind vor allem die Menschen relevant, die reagieren, Feedback geben. Im Social Web lässt sich das Feedback tracken, indem man Kommentare, Antworten auf Tweets und Facebook-Meldungen oder Retweets auswertet. Sie sind im Web der Personen das Pendant zu den Links im Web der Dokumente. Die Qualität von Web-Anwendungen hängt eng mit der Qualität der Feedback-Mechanismen zusammen.

Gregor Hochmuth gehört zu den Leuten, die Neues über soziale Medien zu sagen haben und es im Design von Applikationen umsetzen. Er arbeitet offenbar inzwischen bei Google. Er hat sich immer wieder mit dem Thema Messung von Einfluss beschäftigt. Gregor Hochmuth hat Mento und andere Dienste zum leichteren Umgang mit Online-Informationen entwickelt.

Das Thema seiner Präsentation nennt Gregor Hochmuth in einem Blogpost community analytics, ein Essential für jede site that’s built around people and the content they bring to you. Community analytics ist auch ein wichtiger Aspekt von Mento; Hochmuth geht darauf am Ende eines Interviews auf plOg.de ein. In The 3 Loops of Designing for Audience beschreibt er, wie Feedback verwendet werden kann, um ein Modell eines Publikums zu erzeugen.

Ich kann nur empfehlen, sich intensiv mit Gregor Hochmuths Ideen zu beschäftigen (nicht zuletzt empfehle ich es mir selbst). Ähnlich wie vielleicht bei Jyri Engeström bedingen sich bei ihm die Innovationenauf den Gebieten Soziale Objekte, Design und Anwendungsentwicklung wechselseitig.

(Eine zweite Notiz zu Olaf Breidbachs Buch Neue Wissensordnungen, das ich gestern zuende gelesen habe. Auf Breidbachs deutliche Unterscheidung von Information und Wissen bin ich hier eingegangen.)

Ich habe Breidbachs Buch gekauft, weil mich die Frage des Untertitels Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht interessiert hat. Treffend ist dieser Untertitel nicht. Breidbach sagt vor allem, dass Wissen eine kulturelle Interpretation von Daten und Informationen ist; wie sie im einzelnen geschieht, beschreibt er nicht. Breidbachs Buch ist vor allem eine Kritik an der Vorstellung, es gebe so etwas wie eine Ordnung, die alles wirkliche und mögliche Wissen umfasst. Die neuen Wissensordnungen, von denen er spricht, sind dynamisch und zunächst lokal.

Zwei Wege, die nahe liegen, wenn man überhistorische Theorien des Wissens ablehnt, schlägt Breidbach nicht ein: die radikale Historisierung des Wissens, die es ablehnt, nach mehr als historischen Ordnungen zu fragen (diese Position ordnet Breidbach ausdrücklich Michel Foucault zu), und die Hermeneutik, die Wissen rekonstruiert, indem sie Konzepte des untersuchten Wissens übernimmt und zugleich den Abstand zwischen den eigenen Voraussetzungen und denen der interpretierten Konzepte reflektiert. Mit Hermeneutik beschäftigt sich Breidbach nicht ausdrücklich.

Das argumentative Gewicht des Buchs beruht nicht auf den Aussagen über die neuen Wissensordnungen, die immer sehr vage und vorläufig sind und sich möglicherweise mit Methoden wie denen der Actor Network Theory füllen und präzisieren ließen (z.B. was die Beziehungen zwischen Lokalem und Globalem angeht). Gewicht hat das Buch vor allem in seiner Kritik an allen Vorstellungen von Wissen als einer abschließbaren symbolischer Repräsentation der Realität, sei es die frühneuzeitliche Universalwissenschaft, seien es Expertensysteme.

Dabei enthält das Buch verschieden Argumentationen gegen das Verstehen von Wissen als symbolischer Repräsentation: Das Scheitern der Operationalisierung solcher Ansätze in der KI spielt für Breidbach eine wichtige Rolle, ebenso die These, dass diese Konzepte letztlich auf nicht mehr haltbaren theologischen Voraussetzungen beruhen (Gott sorgt dafür, dass der Mensch die Welt adäquat versteht.) Die wichtigste und wohl auch originellste Argumentation beruht auf der Evolutionstheorie: Wenn Wissen letztlich in evolutionären Prozessen entsteht, und wenn die Evolution nicht von einem intelligent design abhängig, sondern zufällig ist, dann gibt es keinen Grund dafür, die Entwicklung des Wissens teleologisch als Annäherung an die sich immer mehr erschließende Realität zu verstehen.

Eine interessante Ebene des Buchs bilden Breidbachs Reflexionen über die Metaphorizität und Nichtmetaphorizität der Begriffe, mit denen man über Wissen spricht. Für Breidbach gehören Unbestimmtheit und Offenheit zu kognitiven Prozessen, und sie drücken sich in einer metaphorischen Sprache, z.B. in Ausdrücken wie Netzwerk, aus. Diese Metaphern lassen sich aber durch Kritik und Explikation auflösen; die Sprache, in der man über das Wissen spricht, ist für Breidbach nicht notwendig metaphorisch. So wie Breidbach das Wissen einerseits historisiert und andererseits von Ordnungen des Wissens spricht, so erkennt er die Metaphorizität des Ausdrucks von Wissen an, glaubt aber, sich ihr entziehen zu können.

Was bedeutet das für die Themen, mit denen ich mich beschäftige, also für die Vermittlung und Erzeugung von Wissen mit Online-Medien? So etwas wie eine direkte Anwendung finde ich nicht, das würde dem Buch nicht gerecht. Interessant in Hinblick auf den Journalsmus ist, was Breidbach über die Abhängigkeit jedes Wissens von Strukturen (damit meint er materielle Voraussetzungen im weitesten Sinn, z.B. Apparate und Praktiken) sagt. Die journalistischen Methoden (von der Interviewtechnik bis zum check!, cross check! double check!) lassen sich wohl ganz ähnlich wie wissenschaftliche Methoden beschreiben, auch in ihnen geht es um die Erzeugung von Wissen, und auch die journalistische Arbeit hängt von technischen und institutionellen Voraussetzungen und von erlern- und tradier- aber nur zum Teil beschreibbaren Praktiken ab. Speziell im Online-Journalismus verändern sich die Strukturen radikal, insbesondere dadurch, dass und wie Daten journalistisch relevant werden. Andererseits entstehen neue Praktiken, z.B. der Kommunikation in sozialen Netzwerken oder auch auf BarCamps.

Noch wichtiger könnten Breidbachs Argumentationen für Kommunikationspraktiker als garde-fou gegenüber vorschnellen Totalisierungen sein. Breidbach zeigt, dass Wissenstopologien allenfalls lokal und provisorisch sein können. Das betrifft auch die Darstellung von Wissen bis hin zur Strukturierung von Websites. So wäre zu überlegen, welche Rolle metaphorische Topologien (etwa Wissensnetze) überhaupt bei der Präsentation von Wissen spielen können, und wie sie z.B. mit anderen Formen der Kontextualisierung von Informationen verbunden werden können.

An einem nicht durchgeplanten Vormittag bin ich heute über den Standard (Altruismus als Überlebenstechnik, Der Beginn des Lebens ist berechenbar) auf den Biologen und Mathematiker Martin Nowak gestoßen. Nowak stellt offenbar in seinem Konzept der Evolution die Kooperation als gleichberechtigt neben Mutation und Selektion. Er beschäftigt sich mit der Kooperation auf allen Ebenen der Evolution, von der Zelle bis zur menschlichen Gesellschaft. Er begründet mathematisch, warum ein egoistisches Verhalten der Mitglieder von Kollektiven letztlich die Individuen im Verhältnis zu den Mitgliedern von Kollektiven, die kooperieren, benachteiligt. Er weist also wohl nach, dass ein strikt individuell zweckrationales Handeln nicht im Interesse des Individuums liegt, und dass sich das Handeln von Menschen auch nicht ädäquat als individuell zweckrational modellieren lässt.

Ich finde diese Ideen faszinierend, und ich möchte mich gerne intensiver mit Nowak (sowie mit Karl Sigmund und Ernst Fehr) beschäftigen. Ich sehe in meiner Lehre drei Anknüpfungspunkte:

  • in der Medienethik bei der Frage der Begründung ethischer Normen: Ich gehe bisher immer von Argumentationen Ernst Tugendhats aus, die man mit Nowaks Resultaten gut erweitern könnte (was den utilitaristischen Aspekt bei Tugendhat betrifft);

  • bei sozialen Medien und anderen Kooperationsformen im Web bei der Frage, warum es sinnvoll ist, Informationen, Wissen und anderes zu teilen, auch wenn kein unmittelbarer return of investment zu erwarten ist, hier passen Nowaks Überlegungen möglicherweise sehr gut zu den Theorien Yochai Benklers ;

  • bei der Online-PR in Bezug auf die Reputation. Reputation spielt bei Nowaks Untersuchungen zur Kooperation wohl eine Schlüsselrolle.

Ich hoffe, dass ich bald die Zeit habe, mich intensiver mit Nowak zu beschäftigen und über ein metaphorisch/populärwissenschaftliches Verständnis seiner Aussagen hinauszukommen. Und vielleicht interessiert sich ja auch jemand von unseren Studierenden für diesen österreichischen Wissenschaftler.

Gestern bin ich vom BarCamp Klagenfurt 2009 zurückgekommen; Ende Januar war ich in Dieburg auf der Tagung Zukunft Online-PR 2009. Ich beginne erst, Eindrücke und Ideen zu ordnen (einen Teil der Präsentationen findet man auf Slideshare hier und hier).

Ein Aspekt, der mich besonders interessiert: Wie kann man sich wissenschaftlich mit der Kommunikation im Web beschäftigen? Welche Aufgaben, welche Methoden hat die Forschung oder könnte die Forschung haben? Mit Jana Herwig habe ich in Klagenfurt über unser Vorhaben gesprochen, eine Zeitschrift für Webwissenschaft ins Leben zu rufen, mit Thomas Pleil in Darmstadt über Feldforschung im Web (ich hoffe, dass dabei unsere Studiengänge kooperieren).

Thomas Pleil geht in seinem Dieburger Vortrag auch auf die Rolle der Forschung ein:

In einem anderen Vortrag in Dieburg hat sich Jan Schmidt mit der soziologischen Untersuchung von sozialen Netzwerken beschäftigt, er sprach unter anderem von der Chance. die Enstehung von Normen zu beobachten:

Jana stellte in Klagenfurt ein Projekt zur Twitterforschung vor und beschrieb das Hineinfinden in Twitter als einen Initiationsritus:

In diese Reihe zur Erforschung des Web gehört für mich auch die Untersuchung der politischen Kommunikation, die Max Kossatz in Klagenfurt vorgestellt hat; ich habe sie online noch nicht gefunden.

Alle diese Projekte verbindet ein ethnographischer Zugang zum Web. In allen Fällen kann man von teilnehmender Beobachtung sprechen: Die Beobachter verwenden selbst die Kommunikationsformen, mit denen sie sich beschäftigen. Bei Max Kossatz kommt ein technischer Zugang hinzu: Er nimmt mit selbstentwickelten Webtools Auswertungen zur Präsenz politischer Organisationen im Web vor.

In Klagenfurt habe ich mich mit Jana (wir vorher länger auf dem BarCamp Graz) über das Unbehagen an geisteswissenschaftlichen Thematisierungen des Webs unterhalten, die web-fremd sind, deren Autoren man anmerkt, dass sie selbst nicht mit aktuellen Webtechnologien umgehen und sie wohl auch nicht verstanden haben. Die Präsentationen, auf die ich hier verwiesen habe, sind — bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze — anders. Eine Frage ist: Welche Rolle spielt es für ihre wissenschaftliche Dignität, dass ihre Urheber auch Web-Praktiker sind? Eine weitere Frage, ausgelöst durch das Vorgehen von Max Kossatz: Welche Rolle spielt Web-Technologie als Instrument der Erforschung des Web? Gehört zur Web Science oder wird zur Web Science das Arbeiten mit spezifischen Web-Instrumenten zur Auswertung und Beobachtung gehören?

Ich lese gerade Neue Wissensordnungen von Olaf Breidbach.

Im Unterricht verwende ich manchmal das Begriffstripel DatenInformationWissen, das wohl auf Russell L. Ackoff zurückgeht. Bisher habe ich immer versucht, alle drei in einer Art Linie zu verstehen, so wie sie etwa in dieser Grafik gezeigt werden. Nach der Lektüre der ersten Kapitel Breidbachs frage ich mich, ob diese Begriffe nicht eher zu unterschiedlichen Kategorien gehören, vor allem, ob man nicht Wissen als die Fähigkeit verstehen kann, mit gegenwärtigen und zukünftigen Informationen umzugehen. Wissen besteht dann nicht aus Informationen, sondern es basiert allenfalls auf ihnen. (Und Informationen sind nicht kontextualisierte Daten, sonderen Mitteilungen von Daten.)

Damit referiere ich nicht Breidbachs Wissensbegriff; Breidbach spricht vom Wissen als interpretierter Information.

Ich meine damit nicht, dass man Wissen schlechthin als eine Fähigkeit definieren kann, sondern dass ein solches Verständnis dieses Begriffs heute sinnvoll sein könnte. Ich gehe mit der These, dass Wissen in der Fähigkeit besteht, mit vergangenen und zukünftigen Informationen umzugehen, an die weitere Lektüre von Breidbachs Buch.

Wenn diese These sich aufrechterhalten lässt, dann würde sich ergeben, dass man Wissen nicht vermitteln kann, indem man nur Informationen weitergibt. Wissen ließe sich nur weitergeben, indem man auch Praktiken vermittelt, und wäre immer an die Aktivität der Menschen, denen man es vermittelt, verbunden.

Ein solcher Begriff von Wissen widerstrebt unserem alltäglichen Verständnis wenigstens auf den ersten Blick: Wir sagen, dass jemand viel weiß, wenn er viele Informationen über etwas hat, wenn er viel gelernt hat. Andererseits setzt man auch im alltäglichen Gebrauch wissen nicht damit gleich, über viele Informationen zu verfügen. Man würde nicht sagen, dass jemand, der ein komplettes Lexikon wiedergeben kann, viel weiß. Von wissen spricht man erst, wenn er die Informationen in neuen Situationen anwenden kann. Zum Wissen gehören wohl die Aspekte der Anwendung, des Neuen und der Situation oder Situiertheit. (Abgesehen vom sozialen Aspekt: Vielleicht kann man nur in einer Gruppe oder als Mitglied einer Gruppe etwas wissen.)

Mir ist klar, dass ich hier möglicherweise nur den Nordpol wiederentdecke. Aber im Alltag, für mich z.B. im Unterricht, ist es nicht unwichtig, sich diese Basics klarzumachen. Außerdem lässt sich durch eine Klärung des Begriffs Wissen möglicherweise verstehen, dass ein bloßes Mehr an Information nicht nur nicht zu einem Mehr an Wissen führt, sondern im Gegenteil die Entwicklung von Wissen als der Fähigkeit, die Informationen zu verarbeiten, behindern kann.

Ich habe noch nie etwas zu Twitter geschrieben, weil mir dazu nie etwas Interessantes eingefallen ist. Währenddessen häufen sich in meinen ungelesenen starred items und meiner Read It Later-Liste Texte über Twitter. Ein paar meiner Studis und Kollegen sind sehr erfolgreiche Twitterer, und viele sind von Twitter begeistert. Hier ein paar erste Bemerkungen zu Twitter bzw. zum Microblogging (ich verwende die Ausdrücke synonym). Sie gehören in eine Materialsammlung zu den Formen der Webkommunikation (und sind weder inhaltlich noch stilistisch ausgereift).
Ich finde, fast alle Texte über Twitter, die nicht einfach Tools beschreiben, haben etwas gemeinsam: Sie schreiben, wie man Twitter für das nutzt, was die Autorin auch schon am meisten interessiert hat, bevor es Twitter gab — dabei kann es sich um Marketing, Journalismus, PR, Wissensaustausch oder Celebrity Gossip handeln. Je mehr ich über Twitter nachdenke, desto mehr finde ich: Die Frage: Welchen Sinn hat Twitter? hat keinen Sinn. Twitter ist kein Werkzeug, sondern eine Kommunikationsform. Und wie Kommunikation selbst haben auch Kommunikationsformen wohl keinen höheren Zweck — oder sehr viele unterschiedliche Zwecke, die immer wieder neu besprochen, ausgehandelt und festgelegt werden, während man kommuniziert. Mit Twitter kann man twittern, so wie man mit einem Telefon telefonieren, oder mit einem Blog bloggen kann.

Punkte, die mir bei Twitter wichtig sind:

  1. Twittern/Microblogging ist ein eigenes Format der Webkommunikation, das nicht durch andere Formen (z.B. Blogs, Wikis) ersetzbar ist, aber mit ihnen verglichen werden kann.
  2. Twitter erlaubt es offenen Gruppen von Menschen (und auch Services) im Web, sich zu beobachten und zu kommunizieren, und erleichtert es ihnen damit, sich zu organisieren.
  3. Twitter ist ein Teil des Webs. Twitter kann damit die Möglichkeiten des Webs und der Webkommunikation nutzen und ist für andere Formen der Webkommunikation einschließlich aller technischen Erweiterungen direkt anschlussfähig.
  4. Man twittert in der Öffentlichkeit des Webs; Twittern ist eine Publikationsform und eine Option für jeden, der im Web publiziert.

Weblogs — Twitter — Wikis

Vom Bloggen unterscheidet sich Twittern u.a. dadurch,

  • dass es in Echtzeit beobachtet wird,
  • dass Twitterer ihre Follower kennen, und
  • dass man mehrere oder viele Twitterer gleichzeitig beobachtet.

Wie das Bloggen ist Twittern aber eine hypertextuelle Gattung. Es ist also auch asynchron beobachtbar, und jede Äußerung ist verlinkbar, so dass man immer wieder an sie anschließen kann. Der Übergang zwischen Twittern und Bloggen ist fließend — man kann ohne Follower twittern, und man kann Twitterer im Web beobachten, ohne sich bei dem Service anzumelden. Aber das Besondere an Twitter besteht darin, dass man anderen ohne einen zwischengeschalteten Service (wie einen Feedreader) in Echtzeit folgt, und dass man weiß, wer einem selbst folgt.
Mit dem Schreiben in Wikis hat Microblogging auf den ersten Blick wenig gemeinsam, aber auch bei Twitter arbeiten viele Autoren zusammen an Seiten, und wie in einem Wiki kann man sehr leicht zwischen den Seiten navigieren. Wie
Wikis macht es auch Twitter so leicht wie nur möglich mitzumachen. Es gibt (Hashtags, @-Syntax) sogar etwas wie ein spezielles Markup. Während bei einem Wiki Wissen zusammengestellt wird und damit etwas Dauerhaftes entsteht (das aber trotzdem von einer Community getragen und geschützt werden muss, wie es für die Wikipedia Clay Shirky beschreibt), erfährt man bei Twitter, was gerade los ist. Wikis wurden von vielen für etwas Absurdes gehalten, bis dann die Wikipedia gezeigt hat, was mit diesem Format möglich ist. Genauso hielten und halten viele Twitter für sinnlos. Möglicherweise werden sie erleben, dass Twitter alles, was mit Nachrichten zu tun hat, so revolutioniert wie es die Wikis mit dem Wissensaustausch getan haben und tun.

Many to many

Am interessantesten erscheint mir bei Twitter, dass damit viele mit vielen kommunizieren können. Das wird nicht durch das Subskribieren von Twitterern ermöglicht, sondern durch die Beschränkung der Länge der Tweets auf 140 Zeichen. Man twittert immer in eine Wolke von Menschen hinein. Ein Menge von Botschaften unterschiedlicher Sprecher tritt an die Stelle von Monologen oder Dialogen.
Mit Twitter wird eine andere Form von Community oder Gruppe möglich als durch Wikis (zielgerichtete Kollaboration) oder Blogs (Gedanken- und Erfahrungsaustausch). Durch Twitternachrichten lässt sich eine Webcommunity permanent beobachten. Vielleicht ist das der Kern des Phänomens: Twitter gibt Communities im Weg die Möglichkeit, sich in Echtzeit zu wahrzunehmen. Dabei ist der Austausch synchron und asynchron ohne Medienbruch für andere Webteilnehmer prinzipiell offen; das unterscheidet Twitter von Gruppenchats oder dem Austausch in social networks.

Anschlusskommunikation

Twitter erlaubt einen unmittelbaren, interaktiven Umgang mit Echtzeitkommunikation über die unmittelbare Kommunikationssituation hinaus. Es macht Echtzeitkommunikation im Web anschlussfähig, weil sie direkt im Web beobachtbar und adressierbar ist. Man kann auf Tweets verlinken, man kann Streams von Tweets in Widgets zeigen, und man kann sie mit den verschiedensten Tools auswerten bzw. für Mashups verwenden. Vielleicht kann man sagen: Twittern erschließt für das Web eine Kommunikationsform, die vorher zwar im Internet (seit dem IRC) aber nur außerhalb des Webs möglich war. Damit erschließt es umgekehrt für die Echtzeitkommunition die Vielfalt der Möglichkeiten des Webs.

Twittern als Publikationsform

Wenn man twittert, statt zu chatten, begibt man sich in die Öffentlichkeit des Webs (auch wenn sich diese Öffentlichkeit einschränken lässt, indem man seine Tweets nur Followern zugänglich macht, die man vorher akzeptiert). Noch mehr als andere Formen der Webkommunikation ist dabei Twittern writing as a performing art. Twittern hat nur da einen Sinn, wo man die Vorteile des Webs benötigt, z.B. Verlinkbarkeit von Informationen, Zugänglichkeit für eine große, potenziell unbeschränkte Öffentlichkeit und Kombinierbarkeit von verschiedenen Medien. Wenn Twittern nicht nur eine Kuriosität ist, sondern eine der wichtgen Kommunikationsformen im Web, ist es damit eine ständigen Option für alle, die im Web publizieren. Wo immer öffentliche Information in Echtzeit (und am besten durch mehrere Autoren) sinnvoll ist, stellt sich die Frage, warum man nicht einfach twittert.

Ein kurzer Hinweis auf ein Video mit einem Vortrag, den Bruno Latour bei der Konferenz What is an
organization?
im Mai in Montréal gehalten hat:

LOG Gallery: Bruno Latour

(Update: Eingebettetes Video vorläufig herausgenommen, das ich das Autoplay nicht stoppen kann; 21.11.08)

[Weitere Bilder und Videos von der Konferenz
hier.]

Latour wehrt sich dagegen, Organisationen als Organismen zu
verstehen, in denen sich die Mitglieder befinden. Stattdessen
beschreibt er, wie Organisationen durch Tools und Techniken ihr
Überleben in der Zeit sichern. Die wichtigsten Werkzeuge sind
Scripte, die regeln, wer sich wie verhält und wer welche Kompetenzen
hat. Die Mitglieder sind diesen Skripten zeitweise unterworfen,
zeitweise definieren sie sie neu. Dieses Flip-Flop — eine Zeit
lang unter, eine Zeit lang über dem Script zu stehen — ist für
Organisationen charakteristisch. Die Skripte und die übrigen Techniken
allein können nicht sicherstellen, dass die Organisation dauert, sie
haben eine Ablaufdatum und müssen immer wieder durch neue oder
veränderte Skripte ersetzt werden:

Organisieren ist reorganisieren.

Latour denkt radikal antiessentialistisch: Die Substanz einer
Organisation ist das Resultat der Prozesse des Organisierens, sie
kostet Anstrengung und Arbeit und wird immer wieder neu verhandelt.

Der Vortrag bietet einen guten Einstieg in die Arbeitsweise
Latours. Er ist auch als Performance ein Ereignis, nicht zuletzt wegen
einer durchgehaltenen Ironie, die sich wohl nicht vom Vorgehen Latours
trennen lässt.

An unserer Hochschule möchten wir in einer Gruppe versuchen, soziale Medien mit einer an Latour (und anderen
Forschern in der Tradition der Ethnomethodologie und
Konversationsanalyse) orientierten
Methode zu beschreiben. Der Begriff des Skripts, so wie Latour ihn in
diesem Vortrag verwendet, ist dafür möglicherweise ein guter Ausgangspunkt.