Habe eben den Artikel RCP8.5 tracks cumulative CO2 emissions (Schwalm, Glendon, and Duffy 2020) gelesen, über den in vielen Medien berichtet wurde (meine Hypothesis-Annotationen hier). Es geht darum, welches der Szenarien, die der Weltklimarat für die zukünftige Entwicklung vorgeschlagen hat, am realistischsten ist. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass das Worst Case-Szenario RCP8.5 vom bisherigen Verlauf der CO2 Emissionen bestätigt wird: Die kumulierten Emissionen bis 2005 weichen nur um ca. 1% von diesem Szenario ab. Andererseits stellen sie fest, dass dieses Szenario auch die Risiken der wahrscheinlichen Entwicklung bis 2050 am besten erfasst. Zwar sind die aktuellen CO2-Emissionen niedriger als in RCP8.5—sie liegen zwischen diesem Szenario und dem nächstschlimmen RCP4.5. Aber die inzwischen bekannten Feedback-Mechanismen (z.B. Auftauen des Permafrosts, Zerstörung von Böden, zunehmende Waldbrände) tragen zusätzlich zum Treibhauseffekt bei, so dass das Business-as-usual-Szenario RCP8.5 den tatsächlichen Risiken der aktuellen Entwicklung am besten entspricht.


Kumulative Emissionen seit 2005

Gesamte kumulierte CO2-Emissionen von 2005 bis 2020, 2030 und 2050. Datenquellen: Historische Daten aus dem Global Carbon Project (6); Emissionen, die mit den RCPs übereinstimmen, stammen aus der RCP-Datenbank Version 2.0.5 (https://tntcat.iiasa.ac.at/RcpDb/); „business as usual“ und „business as intended“ stammen aus den Szenarien „Current Policies“ bzw. „Stated Policies“ der IEA (9). Die IEA-Daten (nur fossile Brennstoffe aus der Energienutzung) wurden mit der zukünftigen Landnutzung und den Industrieemissionen kombiniert, um die gesamten CO2-Emissionen zu schätzen. Die zukünftigen Landnutzungsemissionen wurden anhand linearer Trendanpassung an die Landnutzungsemissionsdaten des Global Carbon Project von 2005 bis 2019 geschätzt (6). Industrieemissionen werden auf 10% der Gesamtemissionen geschätzt. Die endgültigen IEA-Daten verwenden historische Werte bis 2020 und danach Szenariowerte. Biotische Rückkopplungen sind in keiner IEA-basierten Schätzung enthalten. Es ist zu beachten, dass die RCP-Antriebsniveaus (im Original: forcing levels) die Summe der biotischen Rückkopplungen und der menschlichen Emissionen darstellen sollen. (Übersetzung der Original-Bildunterschrift mit Hilfe von https://www.deepl.com/translator). Originalgrafik: https://www.pnas.org/content/early/2020/07/30/2007117117/tab-figures-data. Distributed under Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives License 4.0 (CC BY-NC-ND)

Ein Hintergrund dieser Veröffentlichung in den Proceedings der Akademie der Wissenschaften der USA sind Forschungen zur Klimasensitivität. Soweit ich informiert bin, ist dabei vor allem die Studie An assessment of Earth’s climate sensitivity using multiple lines of evidence (und das öffentliche Echo auf sie) relevant (Sherwood et al. 2020), bei der das radiative forcing, der Strahlungs-Antrieb, zu dem eine Verdoppelung der Treibhaugase gegenüber dem vorindustriellen Niveau führt, genauer angegeben wird als bisher. Sie beträgt danach mit 66% Wahrscheinlichkeit 2.6‐3.9 Grad Kelvin.

Zeke Hausfather, einer der Autoren dieser Studie hat zu der Verteidigung von RCP8.5 in einem Twitter-Thread kritisch Stellung genommen. Darin geht er auf eine Reihe weiterer Forschungen und Modelle ein, aus denen sich ihm zufolge eine Relativierung der Wahrscheinlichkeit von RCP8.5 ergibt—wenn man das so formulieren darf.

Hinter der auf viele esoterisch wirkenden Frage nach der Wahrscheinlichkeit von RCP8.5 steht das—soweit man es wissen kann—wichtigste gesellschaftliche Problem der Gegenwart—ob und wie sich vermeiden lässt, dass die Erde das Holozän endgültig verlässt und sich zu einem Treibhaus entwickelt. Mich interessiert hier, wie dabei das Verhältnis von wissenschaftlichen, journalistischen und anderen Inhalten oder Veröffentlichungen zueinander ist, und ob sich Content-Strategien für diese Art von wissenschaftlicher Diskussion formulieren lassen. Wenn man wissenschaftliche Veröffentlichungen wie die zu RCP8.5 liest, merkt man schnell, dass sich hier nicht eine politische oder praktische Ebene von einer wissenschaftlichen abtrennen lässt, sondern dass es um die Interpretation komplexer Fakten geht, die, lax formuliert, sowohl naturwissenschaftlichen wie politischen Charakter haben, und die aber nicht (wie von den Klimaleugnern betrieben), politisiert werden dürfen, um unliebsame Folgen erkannter Fakten zu vertuschen.

Nachweise

Schwalm, Christopher R., Spencer Glendon, and Philip B. Duffy. 2020. “RCP8.5 Tracks Cumulative CO 2 Emissions.” Proceedings of the National Academy of Sciences, August, 202007117. doi:10.1073/pnas.2007117117.
Sherwood, S., M. J. Webb, J. D. Annan, K. C. Armour, P. M. Forster, J. C. Hargreaves, G. Hegerl, et al. 2020. “An Assessment of Earth’s Climate Sensitivity Using Multiple Lines of Evidence.” Reviews of Geophysics, July. doi:10.1029/2019RG000678.

Vielleicht täusche ich mich, aber ich habe den Eindruck, dass die Untrennbarkeit von Natur und Gesellschaft, die sich in der Coronakrise zeigt, nicht nur rechte, sondern auch linke Liberale (wie Florian Klenk) an Verständnisgrenzen bringt.

Am Freitag habe ich versucht, mit Studierenden unseres Studiengangs zu diskutieren, wie man Content-Strategie und Klimakommunikation im weitesten Sinn verbinden kann. Mich interessiert dabei nicht so sehr, wie man Content-Marketing oder PR für Inhalte der Klimabewegung machen kann, sondern ob und wie der Wahrheitsanspruch von Inhalten für die Content-Strategie relevant werden kann. Ich habe versucht, mich von verschiedenen Ausgangspunkten aus auf dieses Thema zuzubewegen:
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Unter den deutschen Wissenschaftlern, die öffentlich über den Klimanotstand informieren, ist Stefan Rahmstorf vielleicht der sichtbarste. Er vor allem hat die Rolle übernommen, die Hans Joachim Schellnhuber vor seiner Emeritierung ausgefüllt hat.

Das Wissen, das Rahmstorf in einem Video in der Zeit und in einem Artikel im Spiegel vermittelt, gehört heute zur Grundbildung.

In dem Video schildert er ganz knapp, was passieren wird, wenn wir die globale Erhitzung nicht entschlossen stoppen:

(Publiziert in: Klimawandel: Was, wenn wir nichts tun? | ZEIT ONLINE)

Im Spiegel stellt Rahmstorf dar, welches CO2-Budget der Bundesrepublik Deutschland bleibt, wenn die Ziele des Pariser Abkommens eingehalten werden sollen. Ausgangspunkt ist die skandalöse Antwort der deutschen Umweltministerin auf die Frage eines Journalisten nach dem deutschen CO2-Budget:

Unter diesen ganzen Tonnen und so kann sich doch keiner was vorstellen.

Rahmstorf schreibt, dass die Menschheit noch 500 Gigatonnen CO2 freisetzen darf, wenn die globalen Temperaturen nicht mehr als 1,5° Celsius ansteigen sollen. Folgt man den großzügigeren Vorgaben des IPCC (Erwärmung deutlich unter 2° Celsius), dann bleiben ab jetzt noch 720 Gigatonnen—bei einem wesentlich höheren Risiko, dass die Erhitzung nicht bei 2° gestoppt werden kann.

Um seine Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen umzusetzen, muss Deutschland jährlich 40 Millionen Tonnen CO2 einsparen (Details im Artikel von Rahmstorf). Wenn die noch möglichen CO2-Emissionen global gerecht verteil werden, dann stehen Deutschland insgesamt noch 7,3 Milliarden Tonnen CO2-Emissionen zur Verfügung (andere Treibhausgase sind dabei vernachlässigt). Tatsächlich würde Deutschland, wenn das sogenannte Klimapaket der Bundesregierung umgesetzt wird, aber ca 13 Milliarden Tonnen beanspruchen, also fast das Doppelte. Das ist nicht nur eine krasse Ungerechtigkeit gegenüber ärmeren Ländern, die viel weniger emittieren und emittieren dürften, es macht es auch unmöglich, global für mehr Klimaschutz und Klimagerechtigkeit einzutreten.

Zwei Überlegungen dazu:

  1. Für mich sind die Zahlen in dem Artikel von Rahmstorf ein weiteres Argument dafür, dass die Extinction Rebellion-Forderung nach CO2-Neutralität bis 2025 gerechtfertigt ist. Der weniger radikale Emissionspfad, den Rahmstorf (eigentlich der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen) vorschlägt (jährliche CO2-Ensparungen von 40 Millionen Tonnen ab sofort bis zum Ende der 2030er-Jahre), wird m.E. schwerer durchsetzbar sein als eine drastischere Reduktion in einer erklärten Notstandssituation—trotzdem wäre auch dieser weniger steile Reduktionspfad viel wünschenswerter als die kurzfristigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die die Bundesregierung als Klimapaket bezeichnet.
  2. Bundesregierung und Bundestag handeln in einem krassen und erkennbarem Widerspruch zu einer wissenschaftlich eindeutig festgestellten Sach- und Risikolage. Die Tatsachen zum Klimawandel und zu CO2-Budgets, die Rahmstorf anführt, sind das Ergebnis von Forschungen; sie werden von den politisch Verantwortlichen im Interesse der wirtschaftlich Mächtigen vernebelt. Mich erinnert das an der Verhalten der europäischen Regierungen im ersten Weltkrieg. Institutionen, die sich so verhalten, verlieren ihre Legitimität. Dass es eine Verpflichtung zum Schutz der jetzt und in der absehbaren Zukunft lebenden Menschen gibt, ist kein Diskussionsgegenstand. Die Demokratie wird nicht von denen gefährdet, die jetzt zivilen Ungehorsam propagieren, sondern von denen in der Politik, die elementare Verpflichtungen jedes Staates ignorieren.