In den letzten beiden Wochen habe ich in kleinen Portionen das Buch From Papyrus to Hypertext: Toward the Universal Digital Library von Christian Vandendorpe gelesen. Es ist kein historisches und auch kein wirklich systematisches Werk, sondern eine Kette kurzer Essays, die immer wieder dieselben Themen aufnehmen und sie in verschiedene Richtungen entwickeln. Alle antworten auf die Frage, wie sich das Buch und das Lesen durch die Digitalisierung und das Web verändern.
Essayistik und Gelehrsamkeit
Vandendorpe schreibt gelehrte Essays, er schließt an Walter Ong an, aber mehr noch an Roland Barthes. Man kann sein Buch schwer resümieren, er formuliert nur selten eindeutige Thesen. Er wollte sicher keine optimistische große Erzählung schreiben. Vielleicht deshalb bleibt sein Buch, das vor über 10 Jahren geschrieben, aber für die englische Übersetzung überarbeitet wurde, aktuell.
Ich finde selbst bei Vandendorpe viele Themen wieder, die mich schon während meines Studiums interessiert haben. Ich bedaure etwas, dass ich nicht schon viel früher auf diesen Autor zwischen Semiotik und digital humanities gestoßen bin.
Ich möchte hier nur einige der Themen nennen, die mir nach der Lektüre im Gedächtnis geblieben sind. Vandendorpes Text ist kein Buch zum Einmallesen sondern eher ein Werk, zu dem man immer wieder zurückkommt, weil man sich an seine Motive erinnert.
Die Lektüre entfernt sich vom gesprochenen Text
Vandendorpe stellt zwei Typen des Buchs einander gegenüber: das volumen, die antike Schriftrolle, und den codex, das gebundene, aus gefalteten Blättern bestehende Buch. Den Übergang zum digitalen Buch vergleicht er mit dem Übergang vom volumen zum codex in der späteren Antike. Beiden voraus ging die Tontafel in einer Zeit, als noch nicht auf Papier geschrieben wurde. Vandendorpe fragt, wie das Buch auf dem screen, das digitale Buch aussehen wird (wenn es sich dabei noch um ein Buch handelt). Wird es an das lineare volumen anschließen, in dem sich die Leser nur mit Mühe orientieren und den Weg ihrer Lektüre kaum bestimmen konnten, oder an den codex, für den eine Vielzahl von Orientierungsmöglichkeiten geschaffen wurden—von der Paginierung über das Inhaltsverzeichnis bis zur Fußnote. Vandendorpe beantwortet diese Frage nicht, aber er hofft auf etwas wie die Potenzierung des codex, eine Form des Textes, die den Lesern noch mehr Freiheit und noch mehr Möglichkeiten zur Navigation gibt.
Tabularität
Ein Leitwort des Buchs stammt von Roland Barthes: tabulaire. Texte in einem Buch sind nicht linear, sondern tabular. Die Information ist in ihnen mehrdimensional organisiert, dadurch hat der Leser die Freiheit, den Gang seiner Lektüre zu bestimmen, sich zurück und vorwärts zu bewegen und sich in einem Buch als ganzem zu orientieren—anders als bei dem an das Hier und Jetzt gebundenen, linearen mündlichen Text, dem die antike Schriftrolle noch direkt verpflichtet ist.
Lesen ist Umgehen mit einem räumlichen, nicht nur zeitlichen Text. Lesefähigkeit, literacy ist nicht vor allem die Fähigkeit, einen schriftlichen Text in einen mündlichen zurückzuübersetzen. Lesen ist möglicherweise gar nicht an sprachliche Texte gebunden: Wenn Spieler eine Situation in Myst oder Riven entziffern, lesen sie möglicherweise auch. Mit Tabularität oder tabulaire kann man bezeichnen, was vor allem dem codex und dem Hypertext gemeinsam ist, und man kann ausgehend von diesen Worten die Unterschiede zwischen beiden genauer beschreiben: die anderen Möglichkeiten, sich in einem mehrdimensionalen Text zu orientieren, und die anderen Navigationshilfen dabei.
Diese Vorstellung von Lektüre könnte sich übrigens auch—darüber schreibt Vandendorpe nicht— auf Daten und ihre Visualisierung beziehen, die ja auch tabulaire, tabular ist. Daten wären dann nichts der Sprache und ihrem Fluss Entgegengesetztes, oder wenigstens nichts, das der Lektüre entgegengesetzt wäre. Zur Lektürefähigkeit gehört es, mit tabularen Informationen umgehen, sie ordnen und entziffern zu können.
Als ich vor 30 Jahren an meiner Magisterarbeit saß, hätte mir der Begriff tabulaire möglicherweise geholfen. Ich habe damals das Wort espacement verwendet, das ich von Derrida übernommen hat, der es wohl bei Mallarmé gefunden hat. tabulaire ist konkreter, lässt sich leichter in Konzepte übersetzen, mit denen man materielle Texte und die Fähigkeit, sie zu lesen, beschreiben kann.
Kontext und Lektürefortschritt
Vandendorpe beschäftigt sich immer wieder damit, wie Verstehen und Kontext zusammenhängen und wie das Verstehen durch den Kontext gesteuert wird. Es gibt kein kontextfreies Verstehen und keine kontextfreie Bedeutung. Bedeutung wird immer lokal, an einer bestimmten Stelle in einem bestimmten Zusammenhang produziert. In einem Buch werden diese Kontexte aufwändig produziert. Hypertext ist immer mit dem Risiko, vielleicht auch der Chance, der Dekontextualisierung verbunden.
Die Beschreibung von Kontextualisierung und Dekontextualisierung ist sicher auch ein Weg, die Besonderheiten von Text im Web zu beschreiben. Sie könnte ein Gegenstück zur Tabularität darstellen. Die Tabularität bezieht sich auf objektive Qualitäten von Medien, etwa von codices und Hypertexten. Den Bezug zu Kontexten stellen die Leser interaktiv im Augenblick der Lektüre her. Dabei produzieren die Lesenden die Kontexte für die Lektüre von Hypertexten in ganz anderen Weisen selbst, als sie es bei Texten auf Papier tun—etwa in dem sie sich ihre Timeline bei Twitter organisieren.
Auch die Überlegungen Vandendorpes über die Kontextgebundenheit des Verstehens hätte ich lieber früher gekannt. Sie sind ein solider Ausgangspunkt für die Frage, wie überhaupt die Bedeutung von Texten zustandekommt. Diese Frage hat mich schon lange interessiert, bevor ich etwas vom Web und von Hypertexten erfahren habe.