Am letzten Donnerstag habe ich nach geschätzt 35 Jahren wieder eine Parteiversammlung besucht: einen Stammtisch der steirischen Piraten. Mein erster Eindruck: Viel Energie und viel Intelligenz—eine Chance, endlich mit Methoden Politik zu machen, die zum 21. statt zum 19. und 20. Jahrhundert passen.
Der Raum (klassisches Hinterzimmer im Cafe Bosporus mit Segelschiffbild an der Wand) war überfüllt. Ich schätze, dass etwa 80 Leute gekommen waren, übrigens nicht nur Männer. Alle, die um mich herum saßen, waren zum ersten Mal bei den Piraten. Später habe ich mich mit ein paar Bekannten vom Grazer Webmontag unterhalten—sie waren „angenehm überrascht“.
Das Abend war vor allem eine Informationsveranstaltung. Philip Pacanda, Ulrich Rössl und ein paar anderer Mitglieder der Piraten berichteten vom Aufbau der steirischen Organisation und beantworteten Fragen. Seitenhiebe auf Wien waren nach der letzten Bundesversammlung dort „aufgelegt“.
Die steirischen Piraten verwenden vor allem zwei Organisationsformen, Task Forces und Support Groups. Die Task Forces übernehmen temporäre, die Support Groups (die es wohl nicht überall bei den Piraten gibt) dauernde Aufgaben. Task Forces arbeiten vor allem am Programm; eine Support Group besteht zum Beispiel für die PR.
Außerdem wird die Website vorbereitet, die bei den Piraten nicht vor allem dazu dient, sich nach außen darzustellen. Sie ist selbst ein wichtiger Teil der Organisation. Die Piraten wollen sich und politische Prozesse über das Netz organisieren, darin liegt der grundlegende Unterschied zu älteren Parteien. Wer das für eine Nischenphänomen und eine Angelegenheit von Nerds hält, sollte kurz über den Erfolg von Firmen wie Google, Facebook oder auch SAP nachdenken.
Eine wichtige Komponente der Organisation über das Web, die in der Steiermark kurz vor der Einführung steht, ist LiquidFeedback. LiquidFeedback ist dabei nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der repräsentativen Demokratie gedacht.
Anders als es oft dargestellt wird, haben die Piraten durchaus Inhalte, nämlich Bürgerrechte, ein zeitgemäßes Urheberrecht und Transparenz von Politik und Verwaltung. Mein (sicher parzieller) Eindruck ist aber, dass ihr wichtigster Inhalt neue Methoden der Politik sind. Diese Methoden sollen Entscheidungsprozesse schneller, transparenter und unabhängiger von den sklerotischen Parteiorganisationen machen, die die politische Landschaft beherrschen.
Zu den Klischees über die Piraten gehört, dass sie chaotisch sind, so etwas wie die Grünen in ihren basisdemokratischen Zeiten. Die steirischen Piraten bemühen sich sichtlich um das Gegenteil, nämlich um eine äußerst effiziente Organisation. So wollen sie alle grundsätzliche Fragen vor ihrem Landesparteitag im Mai klären. Die Piraten sprechen nicht umsonst viele ITler und Systemadministratoren an, der mindset ist rational und auf Umsetzung ausgerichtet. Das Risiko, dass die Piraten sich in eine eher technokratische Richtung entwickeln, ist vermutlich größer als die Gefahr, dass sie sich in endlosen Debatten verzetteln.
Mich hat vieles an dem Stammtisch letzte Woche überrascht—so wie mich auch die erste Grazer Anti-Acta-Demonstration überracht hat. Bei den Piraten und bei der Anti-Acta-Bewegung werden vor allem Leute aktiv, die mit der politischen Landschaft und vor allem mit den Ideologien des letzten Jahrhunderts wenig zu tun haben. Ich bin überrascht, mit welcher Wucht das auf einmal geschieht. Ich hätte diese Entwicklung nie vorhergesehen, obwohl ich mich schon lange für die politischen Folgen des Netzes interessiere. Ich habe den Eindruck, dass auch viele andere in Netz- und Web 2.0-Szene eher ungläubig auf die Piraten schauen.
Ich weiss, dass ich hier sehr parzielle Eindrücke generalisiere—aber in dieser frühen Phase der Piraten ist das kaum anders möglich. Auch die Kritik an den Piraten setzt meist bei Randerscheinungen an und übersieht dabei den innovativen Kern dieser Partei. Zu meinen vorläufigen Eindrücken gehört, dass die Piraten keine intellektuelle und schon gar keine ideologische Partei sind. Sie sind eher bieder und natürlich auch noch unprofessionell. Gerade damit haben sie aber die Chance, Leute anzusprechen (und das ist die überwiegende Mehrheit), die sich im gewohnten politischen Betrieb nicht repräsentiert sehen. Von der ersten Obama-Kampagne bis zur ägyptischen Revolution haben ganz unterschiedliche Bewegungen die Macht des Organisierens ohne Organisation demonstriert. Wenn die Piraten diese Macht nutzen und nicht zu einem politischen Verein degenerieren, haben sie mehr politisches Veränderungspotenzial als alle traditionellen Gruppierungen und auch als Bewegungen wie MeinOE, die von längst bekannten Politikern getragen werden und der Politik und Öffentlichkeit der Vor-Netzzeit verhaftet sind.
Soll ich selbst bei den Piraten mitmachen? Ich bin noch unsicher. Dass sie mir sympathisch sind, verberge ich nicht. Ich weiss, dass sie sich oft ganz anders präsentieren als letzte Woche in Graz. Michel Reimon hat beschrieben, welches fatale Schauspiel sie in Wien geboten haben. Ich muss auch berücksichtigen, dass ich dem, was ich in der Lehre und in sozialen Medien sage, schaden kann, wenn ich eine Partei vertrete. Vielleicht ist es im Sinne der Ziele der Piraten am nützlichsten, wenn ich von einer unabhängigen Position aus über sie schreibe und mich inhaltlich da beteilige, wo ich mich etwas auskenne, etwa bei Bildung und Wissenschaft.
Ein Link zum Schluss: Ingrid Brodnig und Ruth Eisenreich schreiben in ihrem
Falter-Artikel nur wenig über die Piraten und über Netzpolitik. Sie geben aber einen guten Überblick über die österreichische politische Landschaft außerhalb der Parteien. Vielleicht hat Österreich den Tipping Point, an dem die Parteien der Nachkriegszeit ihre Dominanz verlieren, bald erreicht.