Extinction Rebellion verwendet zivilen Ungehorsam gezielt als Mittel, um die Öffentlichkeit gegen die Klimakrise zu mobilisieren und um Druck auf die politisch Verantwortlichen auszuüben. Ziviler Ungehorsam bedeutet, sich bewusst nicht an geltende Vorschriften halten, also z.B. den Verkehr zu blockieren oder Konzernzentralen, Ministerien oder Parlamente zu besetzen.
Wenn man zivilen Ungehorsam praktiziert, akzeptiert man zumindest einen Teil der geltenden Rechtsordnung nicht. Ich frage mich, seit ich mich XR angeschlossen habe, weshalb das legitim ist. Was unterscheidet direkte gewaltfreie Aktion von Selbstjustiz oder der selbst erklärten Zugehörigkeit zu einem fiktiven Staat wie bei den sogenannten Reichsbürgern?
Im Kern ist die Rechtfertigung zivilen Ungehorsams für mich:
- Wir befinden uns in einem Notstand, in dem verheerende Auswirkungen auf die Menschen und auf die Biosphäre nur durch radikale politische Maßnahmen in nächster Zukunft abgewendet werden können.
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Die Wechselwirkungen unserer Wirtschaft mit dem Erdsystem (mit den Komponenten dieses Systems, mit denen wir zu tun haben) sind in unserem politisch-/rechtlichen System von seiner Anlage her nicht richtig repräsentiert.
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Adäquate Reaktionen auf den ökologischen Notstand rechtfertigen es deshalb nicht nur, sondern erzwingen es sogar, die Regeln dieses Systems zu brechen, bis es ökologisiert ist, also seine eigenen Interaktionen mit dem Erdsystem abbildet.
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Diese Rechtfertigung des Brechens von Regeln, die für die aktuelle ökologische Situation nicht gemacht wurden und sie sogar mit hervorgerufen haben, ist keine moralische Rechtfertigung von Gewalt und auch keine Rechtfertigung des Regelbruchs außerhalb dieses Zusammenhangs der ökologischen Krise—also für politische und soziale Ziele, für die es in unserem politisch-/rechtlichen System ausreichende Aushandlungsmechanismen gibt.
Etwas weiter ausgeführt (und zwar provisorisch, weil ich keine Literatur zu dieser Thematik gelesen habe und jetzt gerade aus dem großen Buch von Pierre Charbonnier erfahre, wie die Natur im politischen Denken seit dem 17. Jahrhundert berücksichtigt wurde):
Für mich ist ziviler Ungehorsam in diesem Fall legitim und darüber hinaus auch geboten, weil unsere politischen Institutionen angesichts der Klimakrise eklatant versagt haben. Dieses Versagen ergibt sich für mich nicht nur aus der mangelnden Urteilsfähigkeit oder der Böswilligkeit der handelnden Politiker und der Leute, die sie wählen und beeinflussen. Es ergibt sich daraus, dass bei uns alles, was zur Natur gezählt wird, nicht den Status politischer Akteure hat.
Unser politisches System ignoriert die Natur nicht, aber die Beziehungen zwischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handlungen und der natürlichen Umwelt sind zufällig. Nicht-menschliche Gegenstände sind keine Player, keine Akteure. Sie werden von den gesellschaftlichen Akteuren scharf unterschieden. Die Umwelt gehört zu den Rahmenbedingungen gesellschaftlichen Handelns, aber nicht zu seinen Teilnehmern.
Die Klimakrise und die übrigen ökologischen Katastrophen zeigen, dass nahezu jedes gesellschaftliche und ökonomische Handeln auch auf die Natur wirkt, oder, anders formuliert: dass dabei die Menschen als Bestandteile der Natur handeln und dass deshalb die Abtrennung der Gesellschaft und der Natur voneinander willkürlich ist. Dieses Ineinander von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren muss sich auch in den politischen Institutionen ausdrücken, weit über Dinge wie Umweltverträglichkeitsprüfungen hinaus. So wie es wirtschaftliche und rechtliche Institutionen gibt, die von der Politik nicht einfach overrult werden können, muss es Institutionen geben, die die Natur repräsentieren, etwas indem wissenschaftliche Gremien Kompetenzen haben, wie sie heute Gerichte haben.
Unser jetziges politisches System ist von solchen Institutionen weit entfernt. Es ist tatsächlich der Einsichtsfähigkeit von Politikern beziehungsweise öffentlichem Druck überlassen, ob die Folgen des Handels für das Erdsystem berücksichtigt werden oder nicht, während wirtschaftliche Interessen durch komplexe Systeme von Institutionen geschützt werden. Dieses, wenn man es so nennen kann, Ausgrenzen des Erdsystems aus dem politischen Prozess führt in eine unmittelbar drohende Katastrophe für die Menschen als Komponenten dieses Systems. Deshalb kann der Kampf gegen diese Katastrophe sich nicht nur an die Regeln der vorhandenen politischen Institutionen halten. Es wäre unverantwortlich, ihre Regeln als bindend zu akzeptieren, weil diese Regeln nicht für diese politische Situation formuliert wurden und zu einem erheblichen Teil auch für diese Katastrophe verantwortlich sind.
Aus diesen Versagen politischer Institutionen und Regeln darf man nicht schließen, dass die Regeln auch da ignoriert werden dürfen, wo sie seit langem entwickelt wurden, also z.B. bei zwischenmenschlichen und zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen. Ziviler Ungehorsam zum sofortigen Stopp der Nutzung fossiler Energien ist keine Legitimation für Selbstjustiz.