Ich lese gerade einen Aufsatz von Michel Callon, der mit Bruno Latour und John Law zusammen die Actor Network Theory begründet hat: What does it mean to say that economics is performative? (PDF). In diesem Aufsatz begründet Callon die These, dass die Aussagen der Volkswirtschaft, wie die jeder anderen Wissenschaft, performativ im Sinne von J. L. Austin sind. Man tut etwas, indem man sie äußert, so wie in Austins Beispielen vom Heiraten, Vererben und Wetten:
In these examples it seems clear that to utter the sentence (in, of course, the appropriate circumstances) is not to describe my doing of what I should be said in so uttering to be doing or to state that I am doing it: it is to do it. … What are we to call a sentence or an utterance of this type? I propose to call it a performative sentence or a performative utterance, or, for short, a ‘performative’.1
Um etwas mit Äußerungen zu tun, müssen bestimmte Bedingungen gegeben sein. Austin spricht von felicity conditions. Callon verwendet den französischen Ausdruck agencements: Agencements sind Anordnungen, zu denen auch Objekte gehören. Nur wenn der richtige Kontext gegeben ist, nur zusammen mit dem richtigen agencement, kann eine Äußerung gelingen. Auf den Kontext bezieht sie sich durch indexikalische, zeigende Ausdrücke, z.B. durch Personalpronomen.
Ich glaube, dass der Ausdruck felicity conditions auch einen wichtigen Aspekt der web literacy, der Fähigkeit, im Web erfolgreich zu kommunizieren, erfasst. Oder, anders formuliert: Es gibt webspezifische felicity conditions für Äußerungen. Web literacy besteht darin, diese Bedingungen zu beherrschen. Dabei geht es nicht um ein explizites, propositionales Wissen, sondern um ein vorprädikatives, ein Handlungswissen, um das tacit knowledge, das Leute besitzen, die im Web erfolgreich kommunizieren. Dieses Wissen bezieht sich auf die Besonderheiten des Web als Umgebung für Äußerungen oder Verständigung.
Gibt es überhaupt felicity conditions im Web als solchem, also für alle Äußerungen im Web? Das Web ist eine einheitliche technische Umgebung, für die vor allem die Adressierbarkeit und Verlinkbarkeit und damit auch die potenziell universale Erreichbarkeit von Informationen charakteristisch ist. Nicht jede Äußerung im Web bezieht sich auf diese Eigenschaften ihrer Umgebung. Aber man kann diese Eigenschaften bei jeder Äußerung nutzen, und die Eigenschaften der Umgebung können die Antworten auf die Äußerung bestimmen. Die privacy-Probleme bei sozialen Netzwerken sind dafür ein triviales Beispiel: Ich kann jemand etwas Privates in einer öffentlichen Botschaft mitteilen, aber diese Botschaft ist auffindbar, wird in Suchmaschinen indiziert (zusammen mit ihrem URI, denn sie steht ja im Web), und es können andere als die adressierte Person antworten. Die Botschaft ist wahrscheinlich mit meinem Profil verlinkt, sie ist möglicherweise Bestandteil von Newsfeeds, die meine Follower abonniert haben. Das heisst: Bestimmte felicity conditions, nämlich die für eine private Botschaft, sind eben nicht gegeben, dafür aber andere, z.B. für die Verbindung der Äußerung mit meiner Reputation.
Umgekehrt hat aber auch jede Äußerung im Web noch andere Kontexte als nur das Web selbst, wobei diese Kontexte und damit die Voraussetzungen dafür, ob sie scheitert oder gelingt, wiederum vom Web abhängen können. Wer z.B. als Journalist twittert, muss den Kontext Twitter berücksichtigen, den Kontext seiner besonderen Follower und ihres sozialen Netzwerks, den Kontext der Nachricht, die er twittert und den medialen Kontext, in dem er sich bewegt. Sie alle wären ohne das Web nicht vorhanden oder anders. Web Literacy ist dann die Fähigkeit, in diesem besonderen, vom Web, aber nicht nur vom Web bestimmten Zusammenhang journalistisch erfolgreich zu kommunizieren, also etwa eine bestimmte Zielgruppe über ein Ereignis zu informieren.
Es gibt also nicht eine Web Literacy als solche, sondern nur kontextabhängige Literacies, z.B. bei Journalisten, bei Kommunikatoren für Unternehmen, im Elearning, bei Wissenschaftlern, die webbasiert kommunizieren, bei Webentwicklern usw. Sie sind auf webbestimmte Umgebungen bezogen, in denen Verständigung glücken kann oder eben nicht. Sie bestehen nur zu einem kleinen Teil in explizitem, theoretischem oder technischem Wissen. Sie sind aber (das ist ein eigenes Thema) reflektiert. Wer sie besitzt, kann anderen erklären, was sie oder er tut. Sie oder er kann verständlich machen, welche Art der Äußerung gerade glücken soll, kann—implizit oder explizit—einen account geben, davon Rechenschaft ablegen.
Noch ein Gedanke oder eine Frage zum Status der Webkommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Callon spricht in seinem Aufsatz davon, dass der Kontext in eine Äußerung eingeschrieben (inscribed) ist, oder auch, dass eine Äußerung ihren Kontext impliziert. Mündliche und schriftliche Äußerungen unterscheiden sich, wenigstens auf den ersten Blick dadurch, dass mündliche Äußerungen mit einem Kontext zusammen wahrgenommen werden, während schriftliche Äußerungen im wörtlichen Sinn aus ihrem Kontext herausgenommen, wegtransportiert werden können. Mit dieser Herauslösbarkeit aus ihrem Kontext hängt zusammen, dass sie immer wieder als gefährlich wahrgenommen werden, von der platonischen Schriftkritik bis zu dem Satz eines steirischen Landtagspräsidenten:
Jedes Schriftl is a Giftl.
Webkommunikation hat mit der schriftlichen Kommunikation vor dem Web viele Gemeinsamkeiten, und die Kritik an der Webkommunikation verwendet auch die Stereotype der Kritik an der Schrift und am Buchdruck. Aber anders als ein geschriebener Text hat sie einen wenigstens teilweise konstanten Kontext, nämlich eine Adresse, die einigermaßen stabil ist. Sie hat einen virtuellen Ort, sie ist verlinkbar, aber nicht einfach transportabel. Welche Folgen das auch immer haben kann—mit der Alternative Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit ist Kommunikation im Web wohl nicht gut zu erfassen.
1: Aus: J. L. Austin, How to Do Things with Words, ed. J. O. Urmson and Marina Sbisá. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1962., pp. 5-6, hier zitiert nach: John Austin on performative utterances