Rico Grimm hat für den Krautreporter den Ökonomen Steve Keen interviewt (Grimm, 2021). Das Interview stellt Keens grundsätzliche Kritik an der neoklassischen Schule vor. Die Argumente Keens bekommen ihre Brisanz durch die Feststellung, dass sich die Politik beim Handeln gegen die Klimakrise vor allem an Aussagen von Wirtschaftswissenschaftlern orientiert.
Kernpunkte des Textes (z.T. aus dem Gedächtnis, nach einmaligem Lesen schloss sich die Bezahlschranke):
Die neoklassische Ökonomie tritt nach außen ähnlich wie eine Naturwissenschaft auf, arbeitet aber tatsächlich ganz anders und vertritt eine geschlossene Ideologie—Keen spricht von einer Ersatzreligion. Während die Forschenden in der Naturwissenschaft offen für die Ergebnisse anderer Wissenschaften sind, kapselt sich diese Art der Wirtschaftswissenschaft ab. Ihren Publikationen liegen Fiktionen zugrunde, die nicht in Frage gestellt werden, so die der Unabhängigkeit der wirtschaftlichen Aktivitäten von ökologischen Voraussetzungen. Wirtschaft wird als Realität sui generis behandelt, zu der die Wirtschaftswissenschaft (im Sinne dieser Schule) einen privilegierten Zugang hat, von dem andere ausgeschlossen sind.
Keen verweist auf die grotesken Fehleinschätzungen des Wirtschaftsnobelpreisträgers William Nordhaus, der einen weltweiten Temperaturanstieg um vier Grad Celsius für ökonomisch verträglich hielt und den Einfluss der globalen Erhitzung auf alle Bereiche der wirtschaftlichen Tätigkeit ignorierte. Er zitiert die Feststellung Nicholas Sterns, dass sich von 77.000 Artikeln in wirtschaftswissenschaftlichen Journalen ganze 54 mit der Klimakrise beschäftigten (Oswald & Stern, 2019). Er spricht über die Ignoranz gegenüber der Endlichkeit der Ressourcen und der Untersuchungen über die Grenzen des Wachstums, beginnend mit dem ersten Bericht des Club of Rome.
Das Interview spricht die zentrale Frage an, ob es so etwas wie einen umweltökonomisch adäquaten Umgang mit den ökologischen Krisen (also ihre ökonomische Bewertung) geben kann, oder ob nicht umgekehrt die ökonomischen Parameter ausgehend vom Wissen über das Erdsystem definiert werden müssen, wie es in der ökologischen Ökonomie angestrebt wird.
Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler und vielleicht selbst ein Opfer der Einschüchterungsrhetorik, als Nichtwirtschaftswissenschaftler nicht zu ökonomischen Themen Stellung nehmen zu dürfen. Das Interview enthält für mich Steine in einem Mosaik, das immer deutlicher zeigt, dass die orthodoxe Wirtschaftswissenschaft nicht nur eine Schlüsselrolle bei der Begründung des Nichthandelns gegen das Überschreiten der planetaren Grenzen hat, sondern ein Motor ist, der diese Überschreitung antreibt. Andere Texte/Mosaiksteine in meiner eigenen Lektüre:
- Argumente Bruno Latours in Ou suis-je dagegen, dass es etwas wie die Wirtschaft (französisch mit großem Anfangsbuchstaben l’Économie) gäbe (Latour, 2021).
- Texten zur Kritik Nicholas Georgescu-Roegens an der neoklassischen Ökonomie, etwa der Artikel von Martinez-Alier über Georgescu-Roegen (Martinez-Alier, 1997),
- Texte zur Erforschung der historischen Etablierung der Wirtschaft als eines scheinbar autonomen Teils der Gesellschaft im Anschluss an Karl Polanyi (Polanyi, 2001),
- Kritik an der Orientierung des IPCC an der neoklassischen Ökonomie, vor allem an der damit verbundenen Vorstellung eines unbegrenzten Wachstums (Keyßer & Lenzen, 2021).
In diesem Interview finde ich vor allem die Feststellungen zum politischen Agieren der neoklassischen Ökonomie interessant, also die wissenschaftspolitische Perspektive. Ich habe mich beim Lesen an einen Podcast erinnert, in dem Stefan Schulmeister vor einiger Zeit erklärt hat, wie die Vertreter der Hayek-Schule nach dem zweiten Weltkrieg systematisch die volkswirtschaftlichen Fakultäten unter ihre Kontrolle gebracht haben (Schulmeister und die Neoliberalismus-Kontroverse, n.d.). (Schulmeister hat dazu viel mehr geschrieben.)
Während ich das schreibe, setzt sich Manuel Grebenjak bei Twitter mit einem Aufsatz des Chefs der Agenda Austria auseinander, der notorische Klimaleugner zitiert (Manuel Grebenjak, 2021). Manuel verweist auf einen Artikel Steve Keens in The Conversation (Keen, 2020b), der einige seiner Hauptaussagen enthält und in dem er einen Aufsatz zu William Nordhaus (Keen, 2020a) zusammenfasst.