Karen McGrane begründet in einem Vortrag genau, warum Inhalte heute unabhängig von Publikationsformen produziert werden müssen. Eine Überlegung im Anschluss daran: Zu einem vollständigen Modell für digitales Publizieren gehören neben den Inhalten auch die Views auf die Inhalte und die Kontrolle der Inhalte. In welchen Beziehungen stehen die drei Komponenten zueinander?
Gestern habe ich Karen McGranes Vortrag Adapting Ourselves to Adaptive Content bei Vimeo angeschaut:


Die Präsentation gibt es bei Slideshare. In einem Blogpost hat Karen McGrane auch ein Transkript des Vortrags publiziert.
Karen McGrane geht es vor allem darum, dass und wie man Content Management Systeme auf die Anforderungen von adaptiven Inhalten einstellen muss. Inhalte sind adaptiv, wenn sie sich unterschiedlichen Publikationsformen und -plattformen von sich aus anpassen, also nicht mühsam dafür zugeschnitten werden müssen. Spätestens durch die mobilen Plattformen müsste jedem deutlich werden, dass sich nicht mehr beim Erstellen des Inhalts vorwegnehmen lässt, in welcher Weise er präsentiert wird. Inhalte, die sich unterschiedlichen Publikationsbedingungen anpassen, müssen gut strukturiert, gut mit Metadaten beschrieben und möglichst auch in unterschiedlichen Versionen vorliegen.
Karen McGrane bringt viele Beispiele für Adaptive Content und für Workflows, die damit umgehen. Am ausführlichsten geht sie auf das amerikanische National Public Radio ein, das schon lange nach der Devise COPE vorgeht. COPE heisst:
Create Once, Publish Everywhere!
Daniel Jacobson hat die Content-Architektur von NPR in einem Blogpost beschrieben. Ein Diagramm zeigt, wie das System funktioniert:
NPR Architektur Diagramm

Das Diagramm oben zeigt die NPR Content Management Pipeline und wie sie diese Prinzipien von CORE umsetzt. Das Grundprinzip besteht darin, dass Inhaltsproduzenten und Übernahmeskripte Inhalt in ein einziges System (bzw. eine Reihe eng verbundener Systeme) einfließen lassen. Wenn er einmal dort ist, kann die Verteilung des gesamten Inhalts einheitlich gehandhabt werden, unabhängig vom Inhaltstyp oder den Zielplattformen (für ein größeres Diagramm hier klicken).

[Grafik und Original der hier übersetzen Bildunterschrift: programmableweb.com/NPR, Daniel Jacobson]
Dieses Prinzip ist nicht neu. Bei meinem früheren Arbeitgeber, dem damaligen Bertelsmann Lexikon Verlag, wurde seit den 80er Jahren versucht, Nachschlagewerke als Substanzen zu verstehen, aus denen sich unterschiedliche Produkte ableiten lassen. Damals habe ich zum ersten Mal etwas von der Auszeichnungssprache SGML gehört, der Vorgängerin von XML und HTML. Die SGML-Community hat schon lange vor dem Web über, wie es damals hieß, medienneutrales Publizieren nachgedacht. Obwohl es sich dabei um eine einleuchtendes und eigentlich simples Prinzip handelt, hat es sich in Verlagen noch immer nicht durchgesetzt.
Ich versuche immer wieder, das Publizieren im Web nach dem Model-View-Controller-Muster zu verstehen. Die Inhalte, also die Modelle, die Publikationsformen für die Inhalte, also die Views, und die Veränderung, Erstellung und Kuratierung der Inhalte und der Publikationen, also die Controller, treten im Web auseinander, während sie bei analogen Publikationen eng aneinander geknüpft waren. Adaptive Content oder COPE sind Formeln für einen Teil des ganzen Musters, nämlich für den Inhalt oder die Modelle. Die zweite wichtige Komponente sind die Views, die Blicke auf den Inhalt. In der digitalen Welt sind diese Views immer Queries, also Abfragen. Letztlich ist zum Beispiel der Aufruf eines Webangebots immer eine Abfrage. Auch das verstehen Verlage meist nicht, vielleicht können sie es gar nicht verstehen, weil es ihnen die Existenzberechtigung nimmt. (In diesem Zusammenhang eine Verbeugung vor Michael Seemanns Konzept der Queryology!)
Ich frage mich, ob man diese Metaphorik überzieht, wenn man sagt, dass heute soziale Netzwerke die dritte Komponente, also die Controller-Komponente bilden. Sie übernehmen Aufgaben, die früher einerseits hierarchische Organisationen und andererseits der Markt hatten (damit beschäftigt sich Yochai Benkler in seinen Arbeiten). In Netzwerken wird organisiert, wie Inhalte produziert und wie sie konsumiert werden.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich bei diesen Überlegungen meinem eigenen Systemzwang zum Opfer falle. Es gibt sicher viele alternative Möglichkeiten um zu beschreiben, was Publizieren in einer digitalen Welt ist (wobei der Begriff Publizieren selbst in Frage gestellt werden muss). Am wichtigsten ist dabei vielleicht, dass sich Komponenten oder Ebenen verselbständigen, die im früheren Verlagsgeschäft gar nicht als solche vorhanden waren oder organisiert wurden. Karen McGrane beschreibt sehr gut eine dieser Ebene, die der Inhalte, und sie kann sich dabei auf viele Vorgängerinnen beziehen. Bei den anderen Ebenen tappen wir noch im Dunkeln.

2 Kommentare zu “"Adaptive Content" und ein Modell für digitales Publizieren

  1. Sehr spannendes Feld. Ein erster spontaner Gedanke: Wahrscheinlich müssen wir sehr genau zwischen Publizieren und Kommunizieren unterscheiden. Was ich damit meine: Publiziertes ist in gewisser Weise ein statisches Angebot, das ich hier und dort ausspiele, die Anpassung ist eher eine technische – so scheint es auch im Falle des Beispiels NPR zu sein. Dort finden sich im Presentation Layer jedoch keine klassischen Social Media-Plattformen. Diese würde ich mit dem Kommunizieren verbinden – das heißt, hier bewege ich mich viel stärker in sozialen Umgebungen, die jeweils ihr eigenes Kommunikationsklima besitzen, an das ich mich jeweils anpassen muss, um nicht gegen soziale Konventionen zu verstoßen. Hier ist also aus meiner Sicht eine individuelle Darstellung notwendig (im Zweifel genügt, dies auf die Teaserfunktion zu beschränken). Will heißen: Die Aussage „Create once, publish everywhere“ ist wunderbar passend – solange Publishing und Kommunizieren auseinander gehalten werden.
    Ich reite auf dieser Differenzierung etwas herum, weil es für den ein oder anderen im Sinne vermeintlicher Effizienz nahe liegen könnte, mit Publishing alle denkbaren Kanäle zu meinen.

  2. Danke für den Kommentar, Thomas! Die Ebene, die du „Kommunizieren“ nennst, meine ich mit dem vielleicht etwas verqueren Konzept „Controller“. Man könnte vielleicht auch versuchen, sie als „Performanz“-Ebene zu erfassen. Für mich ist sie unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sie interaktiv ist (man kommuniziert nie allein). Ich glaube aber nicht, dass man sie einfach der Publikations- oder Inhalts-Ebene entgegensetzen kann, sondern dass sie eher eine andere Perspektive auf dasselbe ist. Ich bin mir selbst nicht sicher, ob mir mit meinem Schema (Model-View-Controller) nicht mehr Schwierigkeiten bei der Beschreibung mache, als ich lösen kann.

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