Ich habe das zweite Buch von Serhii Plokhy begonnen, die Geschichte der Ukraine mit dem Titel Das Tor Europas (Plochij, 2022a). Ich bin in der frühen Neuzeit angekommen und damit in der Phase, in der es Überschneidungen mit Plokhys Frontline (Plochij, 2022b) gibt. Ich habe über die ukrainische Geschichte bisher nichts gewusst, und über die russische kaum etwas. Ich lerne also einfach Neues, so wie ich wahrscheinlich nur aus Büchern lernen kann.

Es ist unmöglich, diese Bücher anders zu lesen als vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine. Dabei sind sie alles andere als parteiisch oder pathetisch geschrieben. Die wichtigste Erkenntnis, die ich bisher bei der Lektüre gewonnen habe (und die sich bei Plokhii nicht so simpel findet), ist: Dieser Krieg ist vor allem ein Ergebnis des russischen Imperialismus und der russischen imperialen Ideologie. Er kann – außer mit einer Niederlage der Ukraine – nur entweder mit einem Kompromiss enden, der diesen Imperialismus intakt lässt und damit die Ukraine weiter bedroht, oder mit einer Niederlage Russlands, nach der es auf seine imperialen Ansprüche verzichtet.

Ich vermute, dass der Antikommunismus vieler liberaler westlicher Politiker sie daran gehindert hat wahrzunehmen, dass die russische Politik zu einem großen Teil nicht das Ergebnis einer kommunistischen Ideologie und der Macht der kommunistischen Partei – oder von deren Abwesenheit – war und ist, sondern das Resultat der Machtinteressen eines imperialen Zentrums, die mit einer imperialistischen Ideologie nicht nur kaschiert werden, sondern ohne sie auch für die Handelnden selbst gar nicht ausgedrückt werden können. Sieht man den Kommunismus als den Akteur, dann bleiben nach dem Ende des Kommunismus Verhältnisse übrig, die denen im Westen so sehr ähneln, dass man grundsätzlich auf Kooperation hinarbeiten kann. Um den Imperialismus als ein eigenständiges Phänomen wahrzunehmen, muss man einerseits erkennen, dass man es in Russland gar nicht mit dem Kommunismus zu tun hatte, und sich andererseits auch mit dem eigenen Imperialismus beschäftigen.

Es gibt auch eine Tendenz, einen Ausgleich des eigenen Imperialismus, vor allem des eigenen Wirtschaftsimperialismus, mit dem russíschen zu suchen, auf Kosten der Ukraine. Diese Tendenz drückt sich in dem Stereotyp aus, man dürfe sich selbst nicht mehr schwächen als Russland. Dieser Imperialismus ist genauso wie der russische nicht auf internationale Kooperation ausgerichtet und damit auch Sprengstoff für die EU. Mit diesem Imperialismus hat möglicherweise die russische Führung vor allem gerechnet, als sie den Krieg gegen die Ukraine eskaliert hat. Der Blindheit der Liberalen im Westen für den russischen Imperialismus entspricht eine Blindheit der russischen Imperialisten für die auf internationale Kooperation ausgerichteten Kräfte im Westen.

Plochij, S. M. (2022a). Das Tor Europas: die Geschichte der Ukraine (A. Bühling, B. Jendricke, S. Kleiner, S. Pauli, & T. Wollermann, Trans.; 1. Auflage). Hoffmann und Campe.
Plochij, S. M. (2022b). Die Frontlinie: warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde (S. Gebauer, T. Schmidt, G. Hens, U. Bischoff, & S. Kleiner, Trans.; Deutsche Erstausgabe). Rowohlt.

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