Ich mag den Ausdruck Digitalisierung nicht. Er dient dazu das zu verhindern, was er vorspiegelt: die Verwendung digitaler Techniken, um das Leben leichter, einfacher und angenehmer zu machen. Ausdrücke wie Digitalisierung oder, noch schlimmer, Industrie 4.0, werden von denen gebraucht, die mit digitalen Technologien die Wirtschaft stabilisieren wollen, die es vor der digitalen Technik gab: die industrielle Wachstumsgesellschaft.
Ich bin vor einiger Zeit auf Nicholas Georgescu-Roegens Forderung nach décroissance gestoßen. Man kann sie als Rückwachstum, Abnahme oder Schrumpfung übersetzen. Bei jeder Nachricht zum Klimawandel und den anderen katastophalen ökologischen Entwicklungen wie dem Verlust der Biomasse von Insekten und der Vernichtung von Biodiversität wird mir klarer, dass décroissance heute die einzige rationale wirtschaftliche Strategie ist—das genaue Gegenteil des Wachstums, auf das alle wirtschaftlichen Entwicklungen ausgerichtet sind, auf der Ebene des einzelnen Unternehmens wie der Volkswirtschaften als ganzer. Wachstum ist nicht von steigendem Energieverbrauch zu trennen, es besteht in bestimmten Sinn sogar darin, mehr Energie zu verbrauchen, um in der Konkurrenz mit anderen überlegen zu sein. Damit ist immer verbunden, dass Diversität, dass niedrige Grade von Entropie durch hohe Grade von Entropie ersetzt werden, und diese Prozesse sind irreversibel, wie Georgescu-Roegen mit Argumenten der Thermodynamik zeigt. Wachstum ist bisher Mobilisierung von gespeicherter Energie, von den Lebensmitteln (etwas beim Fleischkonsum) bis zur Verwendung fossiler Energien, auf denen eine großer Teil der Wirtschaft und auch der politischen Machtsysteme der Gegenwart beruht. Selbst die Mobilisierung von Energieflüssen, also kontinuielich erzeugter Energie, hat ökologische Konsequenzen. Sie führt zu Zerstörung und Abfällen, die um so folgenreicher werden, je mehr Energie verbraucht wird.
Mir ist klar, dass eine Argumentation, die nicht nur weniger Wachstum, qualitatives Wachstum oder Nachhaltigkeit fordert, sondern eine konsequente Verkleinerung der Wirtschaft, fast abstrus wirkt. Ein solcher, im Grunde pessimistischer, Ansatz bricht mit einer Ideologie, die heute fast alle, auch die Linken, teilen. Er drängt sich aber auf, auch unabhängig von der schwierigen thermodynamischen Argumentation Georgescu Roegens. Wenn der Klimawandel und die mit ihm verbundenen Katastrophen (die zu Kriegen, Armut, Hunger und Migration führen) gestoppt oder wenigstens eingedämmt werden sollen, dann müssen die reichen Länder ihren Konsum drastisch reduzieren, und das schnell. Sonst kann man nicht von armen Ländern verlangen, sich anders zu entwickeln, als wir es in den vergangenen Jahrhunderten getan haben.
Das führt mich zu der Frage, ob man die Digitalisierung anders verstehen kann als einen, wie es so schön heisst, Wachstumsmotor. Wie kann man digitale Technologien, Produkte und Inhalte gezielt so entwickeln, dass wenig konsumiert wird, dass wenig Energie gebraucht wird, und dass das Wachstum von zentralisierten, miteinander konkurrenzierenden und damit destruktiven, Entropie-verstärkenden Einheiten erschwert oder verhindert wird? Kann man digitale Décroissance verwirklichen? War vielleicht sogar einiges in der Entwicklung der digitalen Geräte und Technologien schon darauf ausgerichtet—Personal Computer in der amerikanischen Gegenkultur, das dezentrale Web und auch Prinzipen, die in der Linuxwelt eine Rolle spielen, wie Skepsis gegenüber permanenten Updates von funktionierenden Systemen?
Ich habe hier schon mehrfach über Zusammenhänge zwischen digitalen Medien und Ökologie geschrieben—die Argumentation von Georgescu-Roegen ist radikaler und schärfer, als das, was ich bisher dazu gelesen und gedacht habe. Selbst Jason Hickels Kritk am Wachstum (Why growth can’t be green), mit der ich mich auch beschäftigen möchte, ist vorsichtiger.
Ich weiss, dass sich bei mir im Kopf etwas, das ich für geboten halte—die décroissance—mit etwas verbindet, das mich interessiert und fasziniert—der Entwicklung digitaler Technologien. Diese subjektive Perspektive ermöglicht es vielleicht, auch wenn sie befangen macht, bestimmte Möglichkeiten wahrzunehmen. Eine schrumpfende Wirtschaft lässt sich in einer sozial akzeptablen Weise nicht mit weniger, sondern nur mit mehr Intelligenz und intelligenter Technologie erreichen. Dabei müssen sich aber die Parameter ändern, mit denen die Technologien bewertet werden. Es kommt nicht mehr darauf an, wie man mit ihnen reicher wird und mehr Produkte erzeugen oder vertreiben kann, sondern auf ihren Beitrag dazu, dass man mit weniger auskommt.
Lieber Heinz
Das ist ein wertvoller und vor allem interessanter Beitrag. Er bringt wieder einmal den Begriff der Entropie in’s Bewusstsein. Er ist für mein Verständnis von Komplexität sehr zentral.
Ich denke aber, dass die Formulierungen von Georgescu-Roegen etwas überholt ist. Ich halte mich lieber an Hermann Haken und Ilya Prigogine, wenn es um Komplexitätsaufbau und Entropieerzeugung geht. Jedenfalls bin ich nicht mit allem was Du schreibst in seiner Formulierung kongruent.
Bitte verwechsle Wachstum nicht mit Weiterentwicklung. Ein offenes, lebendes System, wie z.B. ein Wirtschaftssystem, tendiert zur Weiterentwicklung durch Komplexitätsaufbau. Dabei entsteht Entropie. Diese muss exportiert werden, will das System nicht im eigenen Dreck ersticken. Das kannst Du z.B. bei Stadtentwicklungen beobachten. Ich denke, dass das Wachstum einer Stadt kein Ziel ist. Im Gegenteil, Städtewachstum bringt Probleme mit sich. Natürlich gibt es ein Amt für Standortförderung, aber erst, nachdem die wirklichen Probleme gelöst sind. Ihre Lösung liegt in der Weiterentwicklung der Stadt. Das bedeutet, bessere Strukturierung, mehr Erholungsgebiete, Verkehrsführung, Verteilung, Armut/Bettler, etc. Der Aufbau und der Unterhalt solcher Strukturen erzeugt Entropie, die abgeführt werden muss. Entropie manifestiert sich in Form von Material, Energie und Information niedriger Qualität. „Oben“ kommen hochqualitative Resourcen in’s System, unten geht der Abfall weg. Es ist genau dieser Durchfluss, der das System am Leben hält, bei einer Stadt genauso, wie bei einem Individuum. Damit Du am Leben bleibst, erzeugst Du ständig sehr viel Entropie, die aber exportiert werden muss. Aber Du willst nicht bloss am Leben bleiben, Du willst Dich weiterentwickeln. Du willst nicht mehr wachsen und Dich auch nicht mehr vermehren, aber geistig weiterentwickeln. Das geht jedoch nicht ohne Entropieproduktion.
Das ist so in der Natur und das können wir nicht kritisieren.
Dass Wachstum im Sinne von mehr Umsatz, mehr Mitarbeiter, mehr Lohn, mehr Autos, etc. nicht mehr gefragt ist, darüber brauchen wir gar nicht mehr zu diskutieren. Da sind wir uns einig. Nur sehe ich eben Digitalisierung genau so wenig als wachstumsmotiviert, wie Mobilisierung hundert Jahre vorher. Für mich ist Digitalisierung nicht der Einsatz „digitaler Techniken, um das Leben leichter, einfacher und angenehmer zu machen“, genau so wenig wie Mobilisierung der Einsatz von Transporttechniken bedeutet, die das Leben leichter machen sollen. Einverstanden, das war wohl die Triebfeder, um diese Techniken zu erfinden und entwickeln. Aber mittlerweile haben Autos, Eisenbahnen, Schiffe und Flugzeuge unser Leben nicht vornehmlich leichter gemacht, sondern völlig verändert. Die Transportmittel selbst sind dabei völlig in den Hintergrund gerückt. Es ist auch so mit der Digitalisierung. Es geht nicht um die einzelnen digitalen Instrumente und Geräte, sondern um den Aufbau von gesellschaftlichen Strukturen, die die Komplexität erhöhen und somit eine Weiterentwicklung des Gesellschaftssystems bedeuten. Ob diese Weiterentwicklung gut ist, bleibe dahingestellt. Wir können diese Beurteilung nicht innerhalb unserer ethischen Grundsätze entscheiden. Ob die Weiterentwicklung der Lebewesen zum Mensch gut ist, ist keine angemessene Frage. Es war wahrscheinlich eine evolutionäre Notwendigkeit.
Alles tendiert zu höherer Komplexität, was höhere Entropieproduktion entspricht. Das ist im Sinne der Natur „gut“. Ob das den Menschen passt oder nicht, kümmert die Natur nicht.
Lieber Peter, danke für den Kommentar und die ausführliche Erläuterung! Ich muss mich mit dieser ganzen Problematik noch ausführlicher beschäftigen! Ich wollte nicht sagen, dass man der Produktion von Entropie entgehen kann, sondern nur, dass es eine Alternative dazu geben muss, dass sie immer weiter beschleunigt wird – also dass décroissance eine politische Notwendigkeit ist, auch wenn diese Forderung noch wenig verstanden wird. Man kann in dieser Richtung auch argumentieren, ohne über Entropie zu sprechen – aber ich glaube, dass die Argumentation auf der Ebene von Georgescu-Roegen (und du hast sicher Recht, dass man bei ihm nicht stehen bleiben kann) letztlich zwingender ist.
PS: Bin vor langer Zeit mal durch eine Übersetzung auf Prigogine aufmerksam geworden: Anfänge, Die Dynamik – von Leibniz zu Lukrez. Ich hoffe, wir können uns gelegentlich ausführlicher über ihn unterhalten.