Im letzten Jahr habe ich viel zu Klimakrise, Anthropozän und Planetary Boundaries gelesen, und ich lese laufend weitere solcher Texte. Ein Schlüsseltext zum Klimawandel, seiner Erforschung und dem Engagement von Wissenschaftlern war für mich Losing Earth: The Decade We Almost Stopped Climate Change in der New York Times. Im Augenblick entdecke ich Wissenschaftler wie Hans Joachim Schellnhuber, Kevin Anderson und Michael Mann, die den Klimawandel seit Jahrzehnten erforschen und einen großen Anteil an der Bildung der wissenschaftlichen Community haben, die heute die Öffentlichkeit darüber aufklärt.
Ich versuche schon länger herauszufinden
- ob diese Texte sich von anderen, ähnlichen Texten unterscheiden (also auch, ob z.B. Klimajournalismus über das Thema hinaus Eigenschaften hat, die ihn von anderen journalistischen Formaten oder Textsorten unterscheiden).
- ob es Kriterien für die Qualität und Effizienz solcher Texte gibt (und damit auch, wie man contentstrategisch angesichts der Klimakrise agieren kann).
Ich sehe diese Besonderheiten nicht im Stil, im Storytelling und in den Argumentationspraktiken, also in dem, was man meist benutzt, um ein Genre zu definieren. Ich sehe sie in miteinander verbundenen Verweispraktiken: in den weiteren Texten, Institutionen und wissenschaftlichen Forschungen, auf die diese Texte referenzieren, und darin, wie sie darauf verweisen. Die guten Texte zum Klimanotstand stellen sich in einen Kontext von anderen Texten, Forschungen und Institutionen. Sie machen diesen Zusammenhang verständlich und sie zeigen, welche Risiken mit den Szenarien verbunden sind, auf die sie sich beziehen. Dass sie Risiken zeigen, ist ihre wichtigste Funktion für die Öffentlichkeit.
Zwei Beispiele für öffentliche Wissenschaft zum Klimawandel—beide zugleich sachlich sehr wichtig—sind
The Weather Amplifier – Strange waves in the jet stream foretell a future full of heat waves and floods (PDF) von Michael Mann und The trouble with negative emissions von Kevin Anderson und Glen Peters.
Charakteristisch ist für diese Texte zunächst, wie sie sich auf Forschungen zum Erdsystem beziehen, das als ganzes von menschlichen Aktivitäten beeinflusst wird. So zeigt Michael Mann, dass die extremen Wetterereignisse, die in den USA und Europa in den letzten Jahren gehäuft aufgetreten sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Veränderungen in Stärke und Verläufen des Jetstreams zurückgehen, die wiederum mit der Verringerung der Temperaturdifferenzen zwischen polaren und äquatorialen Zonen zusammenhängen. Kevin Anderson und Glen Peters diskutieren die Möglichkeiten, CO2 wieder aus der Atmosphäre zu entfernen, vor dem Hintergrund globaler CO2-Budgets, die sich aus den Zielen des Pariser Abkommens ergeben, und sie stellen in einer Grafik ein Modell der Entwicklung der globalen CO2-Emissionen dar, das sichtbar macht, wie hoch die negativen Emissionen bei verschiedenen Szenarien sein müssten, wenn die Pariser Ziele erreicht werden sollen.
Durchgehend verweisen diese Texte auf inzwischen seit Jahrzehnten aktive, organisierte globale wissenschaftlichen Communities und deren Publikationen. Mann erklärt einem Publikum jenseits der Fach-Community, wie die Arbeiten seines Teams von den Potsdamer Forschungen zu stehenden Rossby-Wellen abhängen, die ihrerseits die Jetstreams beeinflussen. Er verweist u.a. auch auf die CMIP5-Simulationen, die von mehr als 50 Forschungsgruppen für die letzte Publikation des Weltklimarats durchgeführt wurden. Auch für Kevin Anderson und Glen Peters sind die Szenarien des Weltklimarats wichtige Bezugspunkte. In ihrem Aufsatz zu negativen Emissionen kritisieren sie umgekehrt, dass die meisten Behauptungen über die Möglichkeit, CO2 wieder aus der Atmosphäre zu entfernen, spekulativ sind, sich also nicht in ausreichendem Maß auf eine wissenschaftliche Community berufen können. So weisen sie darauf hin, dass es bisher nur einen einzigen Modellversuch zu der Kombination von Bioenergie-Erzeugung mit CO2-Absorption und -Speicherung gibt, die gerne als eine Schlüsseltechnologie dargestellt wird, um CO2 wieder aus der Atmosphäre zu entfernen.
Die Verweise auf umfassende Theorien und auf die eigenen Disziplin unterscheiden diese Aufsätze nicht von anderen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten. Für sie charakteristisch sind aber Gegenstand—das Erdsystem— und Komplexität der Modelle, auf die sich beziehen, und das Gewicht der wissenschaftlichen Absicherung, zu der auf Dokumente wie den letzten Bericht des Weltklimarats verwiesen wird. Charakteristisch für diese Aufsätze ist darüber hinaus und vor allem, dass ihre Autoren globale gesellschaftliche Risiken bewerten, wenn sie die Wahrscheinlichkeit der Szenarien einschätzen, mit denen sie sich beschäftigen. So kommen Anderson und Peters zu einer Einschätzung des Risikos, das damit verbunden ist, sich auf Negative Emissions-Technologien zu verlassen:
Wie angemessen oder unangemessen es ist, sich zur Erfüllung der Pariser Verpflichtungen in erheblichem Umfang auf Negative Emissionstechnologien zu verlassen, ist eine Risikofrage. Die Verteilung dieses Risikos ist jedoch sehr ungerecht. Wenn die Negativen Emissionstechnologien nicht in der in vielen IAMs [Integrated Assessment Models=Integrierte Bewertungsmodelle, H.W.] festgelegten Größenordnung funktionieren, wird ihr Scheitern am stärksten von emissionsarmen Gemeinschaften zu spüren sein, die geografisch und finanziell anfällig für ein sich schnell veränderndes Klima sind. [The appropriateness or otherwise of relying, in significant part, on negative-emission technologies to realize the Paris commitments is an issue of risk (7). However, the distribution of this risk is highly inequitable. If negative-emission technologies fail to deliver at the scale enshrined in many IAMs, their failure will be felt most by low-emitting communities that are geographically and financially vulnerable to a rapidly changing climate. Übersetzt mit Hilfe von https://www.DeepL.com/Translator.]
Michael Mann spricht ausdrücklich über die Unsicherheit der wissenschaftlichen Modellbildung zur Entwicklung des Klimas, speziell der „QRA“ abgekürzten quasi-resonanten Verstärkung (quasi-resonant amplification), die zu dem veränderten Verhalten des Jet Streams führt:
Es sei darauf hingewiesen, dass die Welt unter Ungewissheit Entscheidungen treffen muss. Einige Simulationen deuten auf eine viel größere (mehr als dreifache) Zunahme der QRA-Ereignisse hin, während andere tatsächlich eine Abnahme zeigen. Die Unterschiede ergeben sich zu einem großen Teil aus den verschiedenen Weisen, in denen die Klimamodelle Aerosole behandeln. Werden sich die Vorhersagen annähern? Wir wissen es noch nicht. Naheliegenderweise ist der weiseste Weg nach vorne angesichts der Unsicherheit und des enormen Risikopotenzials, sollte das Worst-Case-Szenario eintreten, die Emissionen stark zu reduzieren. [It is worth noting that the world has to make decisions under uncertainty. Some simulations indicate much bigger (more than threefold) increases in QRA events, whereas others actually show decreases. The spread arises in large part from the different ways the climate models treat aerosols. Will the predictions converge? We do not yet know. Arguably, the wisest path forward, given the uncertainty and the huge potential risk if the worst-case scenario bears out, is to strongly reduce emissions. Übersetzt mithilfe von https://www.DeepL.com/Translator.]
Vor allem durch diese Aussagen zu Risiken können solche Aufsätze die Öffentlichkeit aktivieren, deren Handlungen oder Nichthandlungen die Zukunft des Erdsystems beeinflussen werden. Es geht hier nicht darum, dass dogmatisch Behauptungen aufgestellt werden—ein wichtiger Punkt in der Auseinandersetzung mit den Relativierern den Klimawandels (faktisch den meisten Politikern) und den sogennanten Klimaskeptikern. Es werden nur Aussagen über erkennbare Risiken getroffen. Wer den Klimawandel nicht ernst nimmt, muss die Existenz dieser Risiken bestreiten und damit den Bereich des wissenschatlichen Diskurses verlassen.
Texte wie die von Mann, Anderson und Peters machen deutlich,
- dass einzelne Beobachtungen (z.B extreme Wettereignisse) in einem globalen Kontext verstanden werden müssen: letztlich bezogen auf das Erdsystem, in dem sich das Leben seine eigenen Voraussetzungen geschaffen hat,
- dass ihre Aussagen wissenschaftlich so gut abgesichert sind, wie es zur Zeit möglich ist,
- dass sich aus ihren Aussagen und der Wahrscheinlichkeit, mit der sie zutreffen, Einschätzungen über die Risiken ergeben, die mit aktuellen und möglichen gesellschaftlicher Entwicklungen verbunden sind.
Die Verweispraktiken stellen die Glaubwürdigkeit der Texte sicher, begründen die Relevanz der einzelnen Informationen und erläutern, wie hoch die Risiken für die Gesellschaft einzuschätzen sind, die sich aus den dargestellten Szenarien ableiten lassen. Damit aktivieren diese Publikationen die Öffentlichkeit.
Diese Texte übersetzen Erkenntnisse der Earth System Science und mit ihr verbundener Forschungen für eine globale Öffentlichkeit. Mir erscheinen sie als Ausdruck einer aktuellen Form von Aufklärung. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts griffen einen dogmatisierten Aberglauben an, der die vorrevolutionären Herrschaftsinstitutionen Aristokratie und Kirche legitimierte. Sie popularisierten nicht einzelne Erkenntnisse, sondern vertraten ein holistisches Konzept. Genauso ist für diese Texte charakteristisch, dass sie nicht nur Einzelerkenntnisse verbreiten, sondern diese Erkenntnisse auf einen umfassenden Kontext beziehen—in diesem Fall den Kontext des Erdsystems, nicht einer Kosmologie wie in der Zeit der Durchsetzung der modernen Physik. Sie wenden sich gegen dogmatisierte ökonomische und politische Ideologien, die den Kontext des eigenen wirtschaftlichen und politischen Handelns ignorieren bzw. für die Öffentlichkeit unsichtbar machen—und zwar sowohl in seinen ökologischen wie in seinen sozialen Aspekten.
Ich glaube, dass ein Qualitätskriterium für diese Texte darin besteht, wie adäquat sie auf Modelle des Erdsystems verweisen und den Bezug zu diesen Modellen erklären—damit meine ich nicht einfach, wie gut sie ein geschlossenes Bild von bestimmten Details und der Entwicklung des Planeten als ganzen vermitteln (also populärwissenschaftlich vorgehen), sondern wie sie sich auf die Modellbildung in der wissenschaftlichen Community und damit zugleich auf die praktischen Konsequenzen dieser Modellbildung beziehen. Anders ausgedrückt: wie gut sie den hypothetischen Charakter der verwendeten Modelle reflektieren und damit zugleich auf die Risiken verweisen, mit denen die Öffentlichkeit umgehen muss. Charakteristisch ist dabei, dass mit der Einschätzung der Gültigkeit der Modelle auch eine Einschätzung des Risikos verbunden ist. Diese Risikoabschätzung, nicht dogmatisch behauptete Prognosen, sagt sowohl, wie vertrauenswürdig die Modelle als auch, wie dringend Aktivitäten erforderlich sind.