Am Montagabend habe ich mich mit einigen Leuten aus dem Griesviertel getroffen, die wie Ana und ich Einspruch gegen einen Straßentunnel in unserer Nähe eingelegt haben, weil er zu noch mehr Autoverkehr in einem Viertel führen würde, in dem Lärm und Feinstaub schon jetzt die Gesundheit gefährden. Das Verfahren geht in die nächste Runde, und wir müssen alle noch einmal eine Stellungnahme abgeben. Einige der Leute, die widersprochen haben, kennen sich mit der Stadtentwicklung und Verkehrsplanung sehr gut aus. Ich habe wieder einmal viel gelernt (und wünsche mir dieselbe Gründlichkeit in der Content-Strategie).
Bei einem Widerspruch muss man sehr präzise begründen, warum man individuell negativ von einer geplanten Baumaßnahme betroffen ist. Über diese direkte persönliche Betroffenheit hinaus ist diese Tunnelplanung für mich ein Symptom für die Entwicklung der Stadt, so wie ich sie in den letzten Jahren beobachtet habe. Graz wächst extrem schnell, und das Wachstum wird politisch gefördert. Es gibt kaum ernsthafte Maßnahmen, um die Folgen des Wachstums auszugleichen. Stattdessen werden diejenigen gefördert, die von diesem Wachstum unmittelbar wirtschaftlich profitieren: die Immobilien- und Baubranche und der Handel.
In unserem konkreten Fall bedeutet das: Es wird ein komplett neues Viertel (Reininghaus) in der Nähe der Innenstadt hochgezogen. Dieses Viertel wird verkehrstechnisch ähnlich an die Innenstadt angebunden wie die bestehenden Viertel. Es wird also mehr Autoverkehr in die Innenstadt geben, für den jetzt ein Tunnel errichtet werden soll. Diese Planung wird mit Energie vorangetrieben. Dagegen hat die Stadtregierung bisher nichts Wirkungsvolles für eine spürbare Reduktion des Autoverkehrs unternommen.
Um die Verkehrsanbindung des neuen Reininghausviertels zu rechtfertigen, werden zwei Scheinargumente angeführt: (1) Der Verkehr werde durch zunehmende Elektromobilität und Veränderung des Verkehrsverhaltens weniger belastend. Dieses Argument stimmt faktisch nicht, da bisher kaum Autofahrer auf Elektroautos umsteigen und der Autoverkehr insgesamt nicht abnimmt. (2) Die Planung des neuen Viertels sehe Maßnahmen vor, die den öffentlichen Verkehr attraktiver und die Benutzung von Autos unattraktiv machen, z.B. von den Häusern entfernte Tiefgaragen, eine Beschränkung der erlaubten Ausfahrten aus den Tiefgaragen und eine gute Straßenbahnanbindung mit Haltestellen, die von den Häusern aus genauso leicht erreichbar sind wie die Tiefgaragen. Die Einschränkungen bei den Stellplätzen, die auch der Genehmigung des Tunnelprojekts zugrunde liegen, wurden auf Druck der Investoren kassiert—das haben mir am Montagabend unsere Mitstreiter bestätigt. Die geplanten Straßenbahnen werden nur zum Teil gebaut. Wer im Reininghaus-Viertel wohnt, soll so bequem oder sogar leichter mit dem Auto in die Stadt fahren können wie die Menschen in anderen Stadtteilen.
Der Verkehr wird also unweigerlich zunehmen, weil man ihn politisch so attraktiv wie möglich macht und durch öffentliche Investitionen z.B. in einen neuen teuren Tunnel in die Innenstadt fördert. Dabei ist das neue Viertel nur einer von vielen Faktoren. Auch woanders in der Stadt wurde und wird immer mehr gebaut. Zugleich werden die Autos immer größer. Statt daran zu arbeiten, wie man diesen Verkehr reduzieren kann, also z.B. auf Fahrradmobilität statt auf Autos zu setzen, konzentrieren sich der Grazer Bürgermeister und seine Koalition darauf, wie man die Innenstadt noch aufnahmefähiger für Verkehr machen kann, z.B. durch ins Absurde gehende Tiefgaragenprojekte.
Ein Aspekt, der heute im Mittelpunkt stehen müsste, spielt dabei überhaupt keine Rolle: die CO2-Belastung. Sie wird offenbar von der Stadtpolitik nur in der PR als ein Problem verstanden, das auch unsere, kommunale Ebenen betrifft, obwohl die Städte für 70% des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich sind. Nicht nur die Verbrennungsmotoren der Privatautos, die in der Stadt unterwegs sind, stoßen CO2 aus. Es wird in einer ähnlichen Größenordnung durch den Beton frei, der überall verbaut wird. Und es entsteht durch die Logistik für die immer mehr konsumierende Stadt, vom Transport bis zu den Verpackungen.
Auf der lokalen Ebene wiederholt sich hier eine globale Problematik. Wachstum wird nicht als eine Phase verstanden, auf die zwangsläufig Phasen des Gleichgewichts und des Abbaus folgen müssen, sondern es wird immer weiter gesteigert. Der gemeinsame städtische Raum ist nur eine Umwelt, ein Außen, das allenfalls punktuell berücksichtigt wird, aber nicht als ein System, das als Ganzes bewirtschaftet und kultiviert werden muss. Die Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Macht ist dafür auch auf kommunaler Ebene der wichtigste Faktor. Die immer effizientere Nutzung der Ressourcen in der Stadt und durch die Stadt wird aber auch von Linken unterstützt, die Ökologie als Nebenthema für Privilegierte behandeln und auf gerechtere Verteilung setzen, obwohl die wirtschaftlich Schwachen unter der Umweltbelastung durch Wachstum und Verkehr am meisten leiden. Weder die ÖVP noch die KPÖ, die in Graz die Verkehrsstadträtin stellt, sind ernsthaft an einem Ende des Autoverkehrs und der Betonverbauung in der Stadt interessiert. Ich vermute, dass sie sie nicht einmal als Hauptprobleme der Stadt wahrnehmen.
Die Corona-Krise führt in vielen Städten zu einer deutlichen Änderung der Verkehrspolitik. Graz hätte alle Voraussetzungen dafür, hier zur Avantgarde zu gehören. Stattdessen vernebelt der Bürgermeister die öffentliche Diskussion durch eine durch nichts gedeckte Rhetorik („… mehr in den Radverkehr investieren als Kopenhagen“). Mich ärgert das persönlich als jemand, der schon lange und gerne hier lebt—an der Grenze zwischen der idyllischen Schauseite der Innenstadt und dem Griesplatz mit seiner gesundheitsschädlichen Lärm- und Feinstaubbelastung. Ich hoffe, dass die Corona-Pause wenigstens bei einigen zur Einsicht führt—statt zum Wunsch, wieder durchzustarten, den die Plakate des Ankünders gerade überall in der Graz verkünden.
PS: Gestern, als ich dieses Post größtenteils geschrieben hatte, wurde angekündigt, dass auch in Graz Autos aus einem Teil der Altstadt verbannt werden könnten. Abgesehen davon, dass dieser Teil sehr klein ist: Ich vermute, dass es sich um eine Alibi-Maßnahme handelt. Den Autoverkehr da einzuschränken, wo es ihn ohnehin kaum gibt, ist einfach und wirkungslos. Nötig ist die Entscheidung für Fahrräder und öffentlichen Nahverkehr als wichtigste und in Zukunft einzige Formen der Mobilität in der Stadt.