Ich versuche, mir ein Bild von den klimapolitischen Entscheidungen der neuen amerikanischen Regierung zu machen. Ich war und bin so gespannt, was nun passiert, wie ich es vor der letzten Präsidentschaftswahl war. Was die Biden-Regierung jetzt tut, um die Klimakrise zu bekämpfen, ist bei weitem wichtiger als die Frage, wer Präsident der USA ist—wenn auch nicht davon trennbar.
Für mich kristallisieren sich zwei Punkte heraus:
Erstens: Die neue amerikanische Regierung ist die erste Regierung eines größeren westlichen Staats, die die Klimakrise zum Hauptthema ihre Arbeit macht, also zu dem Thema, von dem aus alle anderen Themen, sowohl in der Wirtschaftspolitik wie in der Außenpolitik, angegangen werden.
Ihre entscheidenden Leute haben offensichtlich die existenzielle und historische Dimension dieses Themas verstanden, weitaus mehr als die meisten europäischen Politiker. Wenn ich die Statements aus der Klimabewegung und Klimaforschung in den USA richtig deute, dann wird diese Politik dort als glaubwürdig wahrgenommen, auch wenn die gestern verkündeten Maßnahmen nur erste Schritte sind.
Our statement on @JoeBiden's climate executive orders:
"These actions mark a historic step forward. But today must just be the beginning. We have no time to waste. Our generation will not accept any excuses for delay or inaction [on climate change]"https://t.co/lwIy6hsrjG
— Sunrise Movement 🌅 (@sunrisemvmt) January 27, 2021
Some comments on President @JoeBiden's newly-unveiled climate plan, via @MatthewRozsa / @Salon: https://t.co/Ug3du8p3tZ pic.twitter.com/HuzJv5Fv7Q
— Michael E. Mann (@MichaelEMann) January 28, 2021
Dieser Umschwung wird in den Medien hier noch viel zu wenig wahrgenommen. Berichtet wird wie über eines von vielen innenpolitischen Themen der USA. Wenn die US-Regierung aber realisiert, was sie jetzt angekündigt hat, dann wird diese Entscheidung nicht nur dazu führen, dass sich die USA wieder an das Pariser Abkommen halten—wenigstens so gut oder schlecht wie die anderen Staaten, die es unterschrieben haben— sondern sie wird auch dazu führen, dass sie radikalere Schritte von ihren Verbündeten verlangt. Das dürfte es z.B. der deutschen Regierung erschweren ihre bisherige heuchlerische Energiepolitik weiter durchzuführen.
Aber: Andererseits ist der Zugang der amerikanischen Regierung weiter wachstumsorientiert. Was die amerikanische Führung anstrebt, ist offenbar eng mit dem verwandt, was in Davos als The Great Reset formuliert wurde. Es erinnert mich an den keynesianischen Rahmen der Wirtschaftspolitik vor der neoliberalen Ära, bei dem bei dem eine soziale Reformpolitik und Wirtschaftswachstum eng zusammen gehörten. Innerhalb eines solchen Rahmens gibt es unterschiedliche Grade an Konsequenz, wie es ja auch innerhalb des Keynesianismus mehr oder weniger linke und konservative Ausrichtungen gibt. Diese Wachstumsorientierung halte ich für problematisch. Ich glaube nicht, dass ein Wachstum möglich ist, das man von Treibhausgas-Emissionen und anderen ökologischen Zerstörungen abkoppeln kann. Ich glaube auch nicht, dass ein Umstieg von alten zu neuen Technologien dazu ausreichen wird, die sozialen Probleme zu lösen, die aufgrund der neoliberalen Entwicklung der letzten Jahrzehnte entstanden sind und die durch eine ökologische Transformation der Industrie noch größer werden. Ohne eine konsequente, globale Umverteilungspolitik und eine Ausrichtung an anderen Zielen als Wachstum und Wealth wird die Klimapolitik dazu führen, dass viele Menschen negativ betroffen und anfällig für faschistoide Strömungen bleiben oder werden. Wenn die Wachstumsfixierung dazu führt, dass die USA die Klimaziele weiter nicht erreichen, wird die Klimapolitik außerdem ihre Glaubwürdigkeit nicht behalten—es sei denn, sie radikalisierte sich weiter.
Die neue amerikanische Klimapolitik ist eine große Chance für die Klima- und Klimagerechtigkeitsbewegung hier. Die Diskussionen werden sich verschieben: von der Frage, wie wichtig Klimapolitik ist, zu der Frage, wie sie gelingen kann. Das bedeutet sehr viel größeres Gewicht auch für Ansätze, die sich nicht mehr am Wachstumsparadigma orientieren. Diese Ansätze werden sich vermutlich nicht zuerst auf der Ebene der großen politischen Einheiten durchsetzen, sondern auf der lokalen Ebene, in der neue Form der Versorgung und der Organisation, also Elemente der Kreislaufwirtschaft, realisiert werden müssen, um überhaupt Klimaziele konkret erreichen zu können. Der Druck, auf allen politischen und sozialen Ebenen, also in Städten, Betrieben oder auch in einzelnen Branchen, z.b. der Digitalbranche, zu dekarbonisieren, wird durch die neue amerikanische Politik enorm anwachsen und möglicherweise bald tatsächlich zu einer Grundanforderung werden. Vielleicht täusche ich mich. Aber ich glaube, dass die Ankündigungen der US-Regierung gestern eine der wichtigsten Veränderungen des politischen Raums in den westlichen Ländern darstellen, die es in den letzten Jahrzehnten gab.