Ich stelle mir seit einiger Zeit die Frage, wie man Web Literacy beschreiben kann. Dabei meine ich mit Web Literacy die Bildung, die man braucht, um im Web erfolgreich zu kommunizieren, oder: die Bildung, die nötig ist, um die Möglichkeiten des Webs zu nutzen, als Individuum wie als Gruppe.

Ich spreche bewusst von Bildung, denn es geht um Kompetenzen, die nicht mit bestimmten Anwendungen, Disziplinen oder Techniken zu tun haben. Außerdem müssen sie in die Kommunikation einer Person oder Organisation integriert sein, zu ihr gehören—das ist sicher auch ein Attribut der „Bildung“. Web Literacy ist dann einerseits Bildung für das Web und andererseits Bildung im „Webzeitalter“ oder Bildung in einer Umgebung, die durch das Web geprägt ist. Den Ausdruck Literacy mit seinem Verweis auf die Schriftlichkeit halte ich für angemessen, weil Kommunikation im Web festgehalten wird und mehr oder weniger öffentlich zugänglich, also „schriftlich“, nicht „mündlich“ ist.

Heute früh bin ich durch Tony Hirst auf den Ausdruck infoskills gestoßen. Er erinnert mich an den Ausdruck data literacy, auf den mich mein Kollege Julian Ausserhofer gebracht hat. Für mich ist das ein Anlass noch einmal zu überlegen, ob man Web Literacy nicht am besten als Gesamtheit aus drei Komponenten definiert:

  1. Info literacies oder data literacies als die Fähigkeiten, mit Informationen oder Daten im Web umzugehen;
  2. Content literacies oder die Kompetenzen, die nötig sind, um Inhalte für das Weg zu erzeugen (in einer Organisation ist das die Fähigkeit, eine Content-Strategie zu formulieren und zu verwirklichen);
  3. Network literacies oder die Fähigkeiten, sein Netzwerk zu organisieren, in ihm zu kooperieren und seine eigene Identität oder Reputation zu gestalten.

Die data literacies betreffen die technische Seite der Webkommunikation, die content literacies ihre inhaltliche Ebene und die network literacies ihre soziale oder gesellschaftliche Seite.

Praktisch lässt sich vermutlich alles, was man als Web Literacy bezeichnen kann, einem dieser Bereiche zuordnen. Dabei sind data literacies, content literacies und network literacies nicht voneinander trennbar; bei jeder Kommunikation, Publikation oder Kooperation im Web hat man mit allen dreien zu tun.

Die konzeptionelle und auch normative Basis dieser Literacies muss ein Verständnis des Webs als der Umgebung für Schriftlichkeit und Publikationen heute sein—also der Umgebung, die die „Gutenberg Galaxis“ ablöst. Das Web ist ein verteiltes Hypermedia-System. Es besteht aus lose verbundenen kleinen Teilen. John Udell hat in dem Post Seven ways to think like the web, auf das ich auch erst heute (durch Tony Hirst) gestoßen bin, beschrieben wie ein solches Grundverständnis aussehen kann.

(Sorry wegen der Roh-Formulierungen und Sprachmixturen; dies ist nur eine schnelle Notiz!)
)

13 Kommentare zu “Web Literacy = Data Literacies + Content Literacies + Network Literacies

  1. Wollen wir auf der re:publica 2013 darüber in einer Session diskutieren? Ich plane mit Jörg Eisfeld-Reschke was, was sich mit Deinem Ansatz sehr gut verknüpfen ließe. Liebe Grüße!

  2. Lieber Heinz!

    Ich finde interessant, wie sich Deine Gedanken seit Jahren um die Web Literacy drehen, um immer wieder zur selben Essenz zurückzukehren, angereichert um neue Nuancen!

    In meinem Paper vom Frühjahr 2011 zitierte ich Dich auf Seite 5 zu den Web Literacies mit:
    – Stufe der Fähigkeiten und Fertigkeiten („level of skills“): Wissensorganisation, Medienproduktion, Netzwerkens
    – und Stufe der reflektierten Sinnfindung und Sich Verständlich Machen für andere („level of sensemaking“ nach Karl Weick, 2005): Konstruktion des Webs durch aktive und passive NutzerInnen im Rahmen ihres Identitätsmanagements und Beziehungsmanagements.

    D.h. ich sehe info literacies oder data literacies verwandt mit Medienorganisation, Content literacies mit Medienproduktion, Network literacies mit Netzwerken.
    In Bezug auf unsere Auseinandersetzungen 2010/11 – wo siehst Du nun den „level of sensemaking“?

    Jutta

  3. Interessanter Vorschlag, Bildung (wieder) im Zusammenhang mit digitalen Kompetenzen (warum eigentlich der Bezug zum Literacy-Konzept, das sich historisch betrachtet, doch von Kompetenzen unterscheidet?) zu revitalisieren.

    Die info literacies scheinen mir dabei die digitale Übersetzung des Konzepts „Orientierungswissen“ zu sein, das Mittelstraß einbrachte, geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem es gerechtfertigte Ziele und Zwecke thematisiert, also nicht nur ein sich zurechtfinden in komplexen virtuellen Welten.

    Meine Gedanken zu Bildung und digitalen Medien (insbesondere Open Educational Resources) gibt es hier als Vortrag:
    http://presentations.ocwconsortium.org/uk2012_268_deimann_effects_open_education/

  4. Liebe Jutta,

    in diesem Post wollte ich vor allem das Konzept, das du zitierst, anschlussfähig machen. Die „Sensemaking“-Ebene halte ich nach wie vor für entscheidend, sie betrifft aber alle Komponenten der Literacy und ihre Reflexivität. Nach wie vor ist mir allerdings nicht klar, wie man sie genau beschreiben und erforschen kann. Und nach wie vor hoffe ich auf Aufklärung via Weick und auf viel Diskussion 🙂

  5. Lieber Markus Deimann,

    danke für den Hinweis, das finde ich sehr interessant! Beim schnellen Lesen habe ich den Hinweis auf Alfred Schütz gefunden; der ist auch für mich zentral, und ich freue mich auf Austausch darüber, wie man ihn für die Erforschung von Online-Medien fruchtbar machen kann!

  6. […] Eine oft und gerne gestellte Frage in Debatten zum sog. lebenslangen Lernen in der heutigen digitalen Wissensgesellschaft lautet: Welche Kompetenzen (gerne auch als Literacies bezeichnet) braucht der Mensch, um sich im immer komplexer werdenden Dschungel des weltumspannenden Netzes zurechtzufinden und um kommunizieren und kollaborieren zukönnen? Ebenso gerne wird dabei auf Bildung zurückgegriffen, um die Notwendigkeit (neue) Kompetenzen zu erfinden theoretisch abzusichern (beispielsweise hier). […]

  7. Ich bin über die @mons7 auf Deinen Beitrag gekommen, den ich ausgesprochen gut finde, mich aber frage: Was unterscheidet Dein Verständnis von Web Literacies von… ich nenne es mal „Live Literacies“? Zuhören/Verstehen, Information verbreiten/Sprechen und mit anderen Menschen in Kontakt treten/netzwerken. Was ist da noch? Im Web reduzieren sich diese drei Dimensionen (oft) auf die Sprache, konkreter die Schrift, im „Real life“ (wie wir alten Rollenspieler so sagen 😉 ) kann man hier mit Mimik, Gestik, Betonung etc. noch „ergänzen“. Das kriegen einige besser hin als im Web, andere sind aber auch im Web „besser“, d.h. der Umgang mit Worten ohne Augenkontakt scheint ihnen leichter zu fallen. Dabei möchte ich nicht urteilen wollen, ob die „Gestik-Blender“ oder die „Kellerkind-Netzwerker“ (um beides mal zu übertreiben) besser sind. Aber ansonsten treffen die von Dir genannten Aspekt auf digitale als auch „analoge“ Welt gleichermaßen zu. Wäre interessant zu untersuchen, ob sich das eine auf das andere auswirkt, d.h. ob bspw. der Zwang zur konkreteren Formulierung im „Read-Write-don’tSpeak-Web“ auch dazu führt, dass man sich in „echten“ Unterhaltungen konkreter ausdrückt… Ist ein Kommunikationswissenschaftler im Raum?
    BTW: merke gerade, dass mir keine guten Worte für nicht-webvermittelte Kommunikation einfallen. Das sollte man ändern. Vorschläge?

    • Du hast genau den Punkt getroffen, der mich am meisten interessiert: Was unterscheidet die Kommunikation im Web von anderen Weisen der Kommunikation. Ich verstehe Web Literacy übriges tatsächlich nicht als auf das Web bezogene Literacy, sondern als Literacy im Web oder im Web-Zeitalter – anders gesagt: als die aktuelle Form von Bildung.

      Hinter meinem Konzept in dem Post oben steht ein einfaches Muster, nämlich das Model-View-Controller-Pattern aus der Software-Entwicklung. Wodurch unterscheiden sich die Modelle, die „Inhalte“, im Web von anderen Medien oder Umwelten, wodurch unterscheiden sich die Views auf diese Modelle (im Web z.B. dadurch, dass es Queries und Streams von Inhalten gibt) und wodurch unterscheidet sich die Kontrolle darüber, wie es zu Inhalten kommt und welche Inhalte wen erreichen, von der „analogen“ Welt? Bei der Kontrolle spielen offenbar „soziale Netzwerke“, zu denen Profile und ein Reputationssystem gehören, eine große Rolle.

      Ich suche selbst nach einer Möglichkeit, diese Unterschiede zu beschreiben, und ich denke vielleicht an ähnliche Dinge wie du, wenn du über den Zwang zur konkreteren Formulierung schreibst. Der Weg, um so etwas zu beschreiben, wären für mich am ehesten Konversationsanalyse und Ethnomethodologie. Aber wirklich weiter bin ich damit noch nicht gekommen. (Dinge wie Framing und Kontextualisierung spielen sicher eine wichtige Rolle.)

      Ich weiss, dass das keine Antwort ist. Aber danke für die Frage!

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