Durch ein Interview mit Jonathan Franzen (Franzen 2023) bin ich auf Dale Jamieson und sein Buch Reason in a Dark Time (Jamieson 2014) gestoßen.
Der Untertitel des Buchs ist: Why the Struggle Against Climate Change Failed—and What It Means for Our Future.
Fasziniert habe ich bisher den Beginn und die beiden Schlusskapitel gelesen. Als eine Art Zwischenergebnis und Voraussetzung für die weitere Lektüre versuche ich zu formulieren, was seine Position ausmacht—wobei ich die Kapitel, in denen er die Klimapolitik bis 2014 (das Erscheinungsjahr des Buchs) analysiert, noch nicht gelesen habe. Es hängt mit Jamiesons analytischer Methode zusammen, dass sich seine Position nicht in wenigen Sätzen zusammenfassen lässt.
Jamieson schreibt als Philosoph über die globale Erhitzung. Er analysiert die Begriffe, mit denen die globale Erhitzung erfasst wird (er selbst verwendet durchgehend den Ausdruck „Klimawandel“), und die Praktiken und Institutionen, zu denen diese Begriffe gehören. Er fragt, ob die Art und Weise, wie wir den „Klimawandel“ konzipieren, mit dafür verantwortlich ist, dass die Erhitzung seit den ersten Alarmrufen von Forschenden und seit vor allem seit Beginn der systematischen Klimapolitik der Vereinten Nationen fast ungebremst weitergegangen ist. Es ist frappierend, zehn Jahre nach dem Erscheinen des Buches zu sehen, wie wenig sich seit 2014 verändert hat. Auch damals war davon die Rede, dass nur wenige Jahre für eine wirksame Klimapolitik zur Verfügung stehen, und schon damals bestand ein krasses Missverhältnis zwischen der Erkenntnissen über die globale Erhitzung und ihre Ursachen und dem politischen Willen, etwas gegen diese Ursachen zu unternehmen. Was ich bei Jamieson bisher über das Scheitern des UN-Klimaprozesses gelesen habe, lässt sich fast unverändert auf die heutige Situation übertragen.
Wenn ich Jamieson richtig verstehe, dann ist für ihn das Haupt-Charakteristicum des vorherrschenden Narrativs zu Klima und Klimapolitik, dass der „Klimawandel“ als ein Problem verstanden wir, dass global gelöst werden kann, und nach dessen Lösung weitgehend gleiche Bedingungen herrschen wie vor der Entstehung dieses Problems. Dieses herrschende Verständnis der globalen Erhitzung übersieht die Besonderheiten, die sie von anderen Herausforderungen unterscheidet, die aus der Geschichte bekannt sind. Diese Besonderheiten arbeitet Jamieson heraus. Während es für die Art und Weise, wie wir meist mit dem „Klimawandel“ umgehen, kennzeichnend ist, dass wir nach einer Gesamtlösung suchen, analysiert Jamieson Aspekte der Erhitzung, die sich nicht vereinheitlichen lassen.
Jamieson orientiert sich an den Erdsystemwissenschaften, für die die globale Erhitzung nur ein Teil des Übergangs zum Anthropozän ist. Die Situation des Anthropozän ist für Jamieson nicht zurücknehmbar—auch dann nicht, wenn es gelingt die globale Erhitzung zu stoppen (und ein schnelles Stoppen hielt Jamieson 2014 für unrealistisch). Die Menschheit hat in die Zyklen des Erdsystems, etwa in den Kohlenstoff-Zyklus, in einer Weise eingegriffen, deren Folgen die zukünftige Geschichte dieses Systems beeinflussen werden, etwa durch die nun schnell eintretende Warmzeit, die die Ökosysteme auf dem gesamten Globus verändern wird. (Die von Menschen verursachte Veränderung dieser Zyklen ist dafür entscheidend, die Bezeichnung „Anthropozän“ zu verwenden. Damit ist nicht gesagt, welche sozialen Prozesse diese Veränderungen verursacht haben.)
Unsere Moral und die mit dieser Moral verbundene politische Praxis ist noch nicht auf die Situation des Anthropozän abgestimmt. Jamieson fragt danach, wie eine Moral im Anthropozän aussehen kann. Auch hier bietet er keine einheitliche Lösung an. Er schlägt aber eine Moral vor, in der der Respekt vor der Natur eine entscheidende Rolle spielt—eine Moral, die nicht im bisherigen Sinn anthropozentisch ist, also nur Menschen als schützenswert ansieht.
Aus dieser Moral ergeben sich komplexe Antworten auf die globale Erhitzung. Keine dieser Antworten kann alleine den Anspruch erheben, die „Klimakrise“— die eben viel mehr als eine vorübergehende Krise ist—allein lösen zu können. Wirksame Antworten gehen die Klimaproblematik gemeinsam mit anderen sozialen und ökologischen Problemem an und und nehmen auf lokale Unterschiede—etwa die politischen Bedingungen in verschiedenen Ländern—Rücksicht.
Jamieson vertritt keinen Standpunkt, auch nicht den eines „Doomsaysers“. Er bleibt analytisch. Mich erinnert sein Herangehen an die Klimakrise an Musils Analyse der Moderne im Mann ohne Eigenschaften. Dieses analytische Vorgehen ist nicht indifferent. Es hat das Ziel, Voraussetzungen des Handelns herauszuarbeiten, die er erlauben, erfolgreicher zu handeln als bisher. Ergebnis der Analyse sind veränderte Begriffe als untrennbare Teile veränderter Praktiken. Auch wenn Reason in a Dark Time ein leises Buch ist: Diese Praktiken unterscheiden sich sehr deutlich von einem großen Teil der heute aktuellen Klimapolitik.
Jamieson versteht sein Buch ausdrücklich nicht als Teil eines aktivistischen Engagements. Sein erklärtes Ziel ist eine Veränderung des Denken. Viele seiner Positionen erinnern mich an Extinction Rebellion. Jamieson geht davon aus, dass die Klimakrise nicht zurückzunehmen ist, und er sieht ihre engen Verbindungen zur Biodiversitäts- und anderen ökologisch-sozialen Krisen. Er stellt fest, dass wirksame Antworten auf die globale Erhitzung eine veränderte, nicht anthropozentrische Moral voraussetzen und nicht vor allem von Staaten kommen werden. Jamieson hält aber die Hoffnung auf eine einheitliche große Veränderung, die einen großen Teil des Klimaaktivismus kennzeichnet, für eine Illusion. Auf diese Illusion—die sich z.B. in der Konzentration auf das 1,5°-Ziel ausdrückt—zu verzichten, fällt schwer. Dieser Verzicht ist aber wohl die Voraussetzung für eine Praxis, die die Ursachen der Erhitzung angreift und die Gesellschaft so gestaltet, dass sie human mit den Folgen der Erhitzung umgeht.
@Heinz Danke für den kurzen Abriss, das klingt sehr spannend, ich werde das für mich besorgen müssen…
@Heinz Als erste Reaktion aber schon mal dieser Gedanke: ich nehme die "Klimaaktivisten" allerdings gar nicht so wahr, als forderten sie eine integrierte Gesamtlösung? Die eine Generalforderung, die ich erkenne ist, dass wirklich sofort in den Krisenmodus geschaltet werde. Auf der Grundlage wäre dann eben jede machbare Maßnahme auch ASAP zu machen, ohne dass lange über Gesamtkonzepte fabuliert wird. Versuche, das anders zu framen kommen doch vorwiegend aus der Verzögererfraktion?
@Heinz Dann noch ein Gedanke zur geänderten Moral: auch das scheint mir implizit anerkannt zu sein, dass diese weniger anthropozentrisch werden muss. Als Soziologe bin ich mir allerdings völlig sicher, dass Verhalten und Moral sich empirisch im Großen und Ganzen gleichzeitig verändern. Gesellschaften lernen beim Tun, sie folgen keinen abstrakten Regeln, die vorher festzulegen wären.
Beim ersten Gedanken bin ich mir nicht so sicher. Beim oberflächlichen Googeln habe ich gesehen, dass diese These auf Widerspruch gestoßen ist. In den Kapiteln, die ich bisher gelesen habe, ist Jamieson sehr vorsichtig. Es gibt aber eine Brücke von seiner Forderung nach Respekt vor der Natur zu Deep Ecology-Konzepten, die nicht allgemein anerkannt sind. Mir ist auch Corine Pelluchon eingefallen, deren Texte ich bisher leider kaum kenne.
Danke! Ja, das kann man so sehen. Ich vermute aber, dass Jamieson diese Konzentration auf den Krisenmodus nicht für ausreichend halten würde, wenn mit ihr die Hoffnung verbunden ist, dass diese Krise dann durch entschlossenes gemeinsames Handeln irgendwann aufhören wird. Ich bin aber erst am Anfang der Lektüre.
alles sehr durchdacht – und man wünscht sich, dass die Gedanken ankommen „in der Fläche“, wie die Politiker gern sagen und damit aber was anderes meinen als ich.
Danke für Deine kluge Zusammenfassung, lieber Heinz. Ich denke gern an Deinen Besuch hier vor Jahren per Zug — und bewundere noch immer Deine Geduld… Maggie