Ich bin noch immer dabei, Dale Jamiesons Reason in a Dark Time (Jamieson 2014) zu lesen – mit der Frage, warum das Handeln gegen die Klimakatastrophe bisher so erfolglos war. Hier eine Überlegung, die z.T. durch Jamiesons Buch motiviert ist und sich auf die besondere Rolle der Wissenschaft in Bezug auf die Klimakatastrophe bezieht. Ein weiterer Ausgangspunkt ist der, kurze aber wichtige Aufsatz A new paradigm for climate change (Anderson and Bows 2012), in dem Anderson und Bow von den seltenen Gelegenheiten in der Geschichte sprechen, „bei denen etabliertes Wissen durch neue Denkweisen und Erkenntnisse abgelöst wird“1. Sie forderten schon 2012, dass Wissenschaftler:innen über die traditionellen Grenzen ihrer Fachgebiete hinausdenken, deren Verflechtung mit der Politik ernst nehmen und die Politik, die die—z.B. durch ihre Orientierung am Wachstum—die Katastrophe weiter verschärft, mutig kritisieren.2
“Dieses katastrophale und andauernde Versagen der Marktwirtschaft und die damit einhergehende Laissez-faire-Rhetorik (ungehinderte Wahlmöglichkeiten, Deregulierung usw.) könnte eine Gelegenheit bieten, anders über den Klimawandel zu denken. [Anderson and Bows (2012), p.2; übersetzt von mir]
Es gibt eine Eigenschaft der Klimakatastrophe, die sie mit anderen globalen Krisen und Bedrohungen wie der Biodiversitätskrise teilt, die aber—wenn ich es richtig sehe—selten thematisiert wird: Sie ist in ihren Dimensionen und ihren Kontexten nur wissenschaftlich erfassbar. Sie ist ein Korrelat der Klima-, oder eigentlich: der Erdsystemwissenschaften und der Beobachtungsmöglichkeiten z.B. mit Satelliten, die diesen Wissenschaften inzwischen zur Verfügung stehen. Globale Wirtschaftskrisen sind für die wirtschaftlich Handelnden—von den Arbeitenden, die ihren Job verlieren bis hin zu denen, die an der Börse spekulieren, spürbar, und es genügt die Information über journalistische Medien, um zu erkennen, dass es globale Zusammenhänge gibt. Auch globale politische Krisen—z.B. die veränderte geopolitische Situation nach der Invasion der ganzen Ukraine durch Russland—sind medial schnell im Zusammenhang erfassbar. Man braucht keine Wirtschaftswissenschaftlerinnen, um eine Weltwirtschaftskrise zu erkennen, und man braucht keine Politolog:innen, um eine globale politische Krise zu diagnostizieren. Man braucht aber Klimawissenschaftler:innen, um viele Symptome, die heute schon erfahrbar sind, der globalen Klimakrise zuzuordnen.
Der Grund dafür liegt nicht in den Dimensionen der Klimakrise, sondern darin, dass sie weder ein soziales Ereignis noch eine Naturkatastrophe ist, sondern etwas, das sich der Unterscheidung von Sozialem und Natur nicht fügt. Um sie zu erkennen, braucht man nicht nur Korrespondent:innen und Chronist:innen, sondern Satellitenbeobachtung und Hochleistungsrechner. Mit Methoden, die man bisher als naturwissenschaftlich bezeichnet hätte, werden aber anthropogene Phänomen analysiert, bis hin zur Messung der CO2-Emissionen einzelner Betriebe. Die Klimakatastrophe ist eine Ereignis, oder eher: ein Prozess des Anthropozäns: Menschen haben in die Zyklen und Systeme eingegriffen, die das heutige Leben auf dem Planeten ermöglichen. Ohne Beobachtung und Analyse dieser Zyklen und der Interaktionen mit ihnen lässt sich die Klimakatastrophe nicht einmal beschreiben.
Man muss nicht davon ausgehen, dass die Wissenschaft oder die Naturwissenschaft nötig ist, um die Klimakatastrophe zu erfassen. Man muss die Wissenschaft nicht als eine überzeitliche Instanz verstehen, das vor ein paar Jahrzehnten auf das Klima aufmerksam geworden ist. Klimakrise und Klimawissenschaft haben sich zusammen entwickelt. Die ökologischen Krisen, zu denen die Klimakrise gehört, erfordern und bedingen bestimmte Formen der wissenschaftlichen Untersuchung. In ihrer Erforschung verändern sich die Wissenschaften, entwickeln neue Methoden und organisieren ihre Disziplinen neu. Etwas vage formuliert (weil die Termini ersetzbar sind): Anthropozän und Erdsystemwissenschaften entsprechen sich.
Für mich ergeben sich aus dieser Situation drei Konsequenzen:
- Innerwissenschaftlich werden Grenzen zwischen Natur- und Sozialwissenschaften obsolet. Es entstehen neue, transdiszplinäre Wissensformen, die in einen scharfen Gegensatz zu bisherigen Einzelwissenschaften treten können, z.B. zu einer Wirtschaftswissenschaft, die die Wechselwirkungen von Ökonomie und Natur ignoriert.
- Die Erdsystemwissenschaften diagnostizieren die Klimakatastrophe und andere ökologisch-soziale Krisen nicht nur, sie sind entscheidende Instrumente dabei, sie zu bekämpfen oder wenigstens zu mildern. Sie haben eine immanent politische Rolle, so wie die Medizin eine Rolle für die Therapie hat. Zwar ist die Wahrheit oder Falschheit ihrer Aussagen nicht von politischen Positionen abhängig, aber die wissenschaftliche Praxis lässt sich vom Engagement gegen wissenschaftlich erkennbare katastrophale Entwicklungen nicht ablösen. Eine nicht-aktivistische Wissenschaft blendet wesentliche Dimensionen des eigenen Gegenstands und auch die eigene gesellschaftlichen raison d’être aus.
- Politische und soziale Praxis in Zusammenhang mit der Klimakatastrophe kommt ohne diese wissenschaftliche Dimensionm‐und damit die Respektierung der Anthropozän-Situation—nicht aus. Die Klimakatastrophe und die übrigen ökologischen Krisen sind kein Epiphänomen von gesellschaftlichen Prozessen. Eine linke, liberale oder konservative Politik, die die Anthropozän-Situation und damit auch die Rolle der Erdsystemwissenschaften nicht anerkennt, ist nicht nur bei der Bekämpfung der Klimakatastrophe unzureichend, sondern sie wird die Ursachen dieser Katastrophe aus Ignoranz verschärfen.
Viele Klimawissenschaftler:innen haben inzwischen die politische Bedeutung der eigenen Disziplin erkannt und berücksichtigen sie in ihrer Arbeit und Kommunikation. In der Öffentlichkeit wird sie aber oft nicht verstanden. Das Erfassen und Publizieren der Dimensionen der Klimakrise und ihrer Kontexte ist die Aufgabe der Klimawissenschaft. Dazu gehört es, Äußerungen zu widersprechen, die den Erkenntnissen der Wissenschaft widersprechen, also etwa die Emissionen von Flüssiggas herunterspielen. Die Teilnahme am öffentlichen Diskurs widerspricht nicht nur nicht den Aufgaben von Klimawissenschafler:innen, sondern sie gehört zu diesem Kern, weil ohne ihre Mitarbeit eine adäquate Formulierung ihrer Erkenntnisse nicht möglich ist.
Dass Klimaforschende ihre Erkenntnisse selbst kommunizieren und nicht nur über sie kommunizieren lassen, ist eine Bedingung dafür, dass diese Erkenntnisse Folgen haben, aber es reicht dazu nicht aus. In einer Situation der epistemischen Krise wird diese Kommunikation fast aussichtslos. Die epistemische Krise lässt sich nicht aus der Wissenschaft heraus bekämpfen—darin besteht ein Teil der Tragik der gegenwärtigen Lage.
In Bezug auf die Klimakatastrophe ist die politische Dimension der Wissenschaft eine andere als bei den großen Krisen und Umbrüchen, die wir aus der Geschichte kennen. Wenn die Wissenschaft ihre Rolle in dieser Situation nicht erfüllt oder nicht erfüllen kann, haben wir keine Chance, der Katastrophe wirksam etwas entgegenzusetzen.