Earth4All hat die Ergebnisse einer Studie publiziert, in denen die Haltung der Bevölkerung der G20-Staaten zu den großen ökologisch-sozialen Krisen ermittelt wird. Basis ist eine IPSOS-Umfrage in allen G20-Staaten mit Ausnahme von Russland. Earth4All (eine Initiative, die u.a. vom Club of Rome, dem Potsdam Institut für Klimafolgenforschung und dem Stockholm Resilience Center getragen wird) kommt zu dem Ergebnis, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung eingreifende Veränderungen wie den Übergang zu einer „wellbeing economy“ unterstützt. 72% sind dafür, den Straftatbestand des Ökozids einzuführen.
Ein Vergleich der Umfrage mit den Wahlergebnissen in den G20-Staaten – so weit es dort demokratische Wahlen gibt – macht klar, dass die Interpretation der IPSOS-Ergebnisse nicht mit einer politischen Prognose verwechselt werden darf. Obwohl die Befragung ergibt, dass die Bevölkerung in allen Ländern eine entschiedene ökologische Politik unterstützt, sind in einigen dieser Staaten Politiker:innen an der Macht, die die Klimakrise ignorieren oder bewusst verschlimmern. In fast allen anderen – wie in den meisten EU-Ländern – ist die Klimapolitik viel zu zögernd.
Man kann dieses Missverhältnis auf zweierlei Weise erklären: Entweder geben die Umfrageergebnisse nicht die wahre Haltung der Bevölkerung wieder oder die politischen Institutionen funktionieren so, dass diese Haltung die Politik nicht bestimmt. Vieles spricht dafür, dass eher das zweite der Fall ist: Lobbying, Desinformationkampagnen und ungerechte Belastungen sorgen dafür, dass die Pro-Klimaschutz-Haltung der Bevölkerung sich viel zu wenig auf die Politik auswirkt.
Ein Element der neuen Publikation erlaubt es aber, den Graben zwischen Umfrageergebnissen und Wahlergebnissen bzw. Regierungspolitik wenigstens teilweise zu überbrücken: Die Auswertung ergibt eine Segmentierung der Bevölkerung, die den Wahlergebnissen wenigstens in den europäischen Ländern nahekommt. Owen Gaffney erklärt diese Segmentierung in dem Blogpost Five worlds: Insights into “planetary stewardship segments” from the Global Commons Survey.
Aufgrund der Haltung der Bevölkerung werden fünf Segmente definiert:
- Entschlossene Anhänger:innen einer ökologischen Wende (sogenannte „planetary stewards“)
- Optimisten, die davon ausgehen, dass die politisch Verantwortlichen die sozial-ökologische Polykrise letztlich lösen werden („concerned optimists“)
- Pragmatische Technikorientierte, die eine Lösung der Probleme von Innovationen erwarten („steady progressives“)
- Klimaleugner:innen, die jede Klimapolitik ablehnen („climate sceptics“)
- Gleichgültige („unengaged“).
Die fünf Gruppen umfassen jeweils zwischen einem Sechstel und einem guten Viertel der Bevölkerung. Owen Gaffney zieht die Schlussfolgerung:
Planetary Stewards are a major political grouping in the world’s most powerful countries. One in five people could be considered Planetary Stewards. On top of that Concerned Optimists and Steady Progressives both support widespread action for long-term stewardship of Earth. Together these three groups make up 61% of G20 citizens.
Man kann davon ausgehen, dass ein großer Teil der ersten Gruppe bei Wahlen für grüne oder deutlich linke Parteien stimmt (in Deutschland z.B. für Grüne, Linke und z.T. SPD, in Frankreich für das Linksbündnis). Die Klimaleuger:innen und vermutlich auch viele Gleichgültige werden Rechtspopulisten oder gar nicht wählen. Dann bleiben die Segmente der tendenziell optimistischen bzw. der technisch orientierten und pragmatischen Menschen.
Das optimistische und das technisch-pragmatische Segment decken sich wahrscheinlich mit einem großen Teil der Wählerschaft der traditionellen Parteien der Mitte (in Deutschland CDU, SPD und FDP, in Frankreich Macron-Unterstützer:innen und Republikaner). Zusammen mit den „planetary stewards“ bilden sie die ca. 60% der Bevölkerung, die Klimapolitik grundsätzlich unterstützen.
Die Ergebnisse der beiden letzten Wahlen zum europäischen Parlament lassen sich auf diese Segmente projizieren. Ca. 60% – eher etwas weniger – der EU-Abgeordneten unterstützen die Dekarbonisierungspolitik der Kommission. In der Koalition hinter der europäischen Kommission haben sich „planetary stewards“ und die beiden anderen Gruppen zusammengeschlossen.
Wenn dieses sehr vereinfachte Modell – drei entschlossene oder weniger entschlossene Pro-Klimapolitik-Segmente in der Bevölkerung und in den Parteien – stimmt, lassen sich daraus einige Schlussfolgerungen ziehen:
- Im Augenblick ist Klimapolitik nur in einem Bündnis dieser drei Segmente möglich – entsprechend der Koalition auf EU-Ebene, die eine zwar nicht ausreichende, aber im internationalen Maßstab vergleichsweise weitgehende Klimapolitik durchgesetzt hat.
- Eine konsequentere Klimapolitik – die zum Einhalten der 1,5°/2°-Grenze nötige Transformation – ist nur möglich, wenn sich Teile der mittleren Segmente in das Lager der „planetary stewards“ ziehen oder von diesem dominieren lassen (wenn man den Abstand zwischen den Haltungen in der Bevölkerung und den politischen Handlungen vernachlässigt).
- Zur Zeit sind große Teile dieser Gruppen und vor allem ihre politischen Vertretungen aber anfällig für eine gemeinsame Politik mit dem Lager der Klimaleugner und Gleichgültigen.
- Wenn es denen, die eine entschlossene Klimapolitik vertreten, nicht gelingt, die Koalition oder wenigstens eine Kooperation mit den beiden anderen Gruppen aufrechtzuerhalten, kommt es zu einem Backlash – wie er sich vielleicht gerade in den Niederlanden beobachten lässt.
- Wenn es ihnen umgekehrt nicht gelingt, die mittleren Gruppen wenigstens teilweise zu radikalisieren, dann bleibt die Klimapolitik so unzureichend, wie sie gerade in der EU ist.
Sicher kann man diese Wählergruppen nicht so einfach auf politische Parteien mappen, wie ich es gerade getan haben. Man muss unter anderem die Prioritäten der Themen bewerten, die Wirkung der Medien einbeziehen und berücksichtigen, wie die Parteiapparate und die übrigen Machtapparate sich auswirken.
Man kann auf die „planetary stewards“ auch den Begriff der „ökologischen Klasse“ anwenden, den Bruno Latour und Nikolaj Schultz geprägt haben. Daraus ergibt sich die Forderung, dass diese Gruppe oder Klasse die Führung unter den grundsätzlich für Klimapolitik aufgeschlossenen Gruppen übernimmt.
Nicht zu erwarten ist, dass die „planetary stewards“ kommunikativ und politisch die Lager der Klimaleugnung und der Gleichgültigkeit erreichen. Es ist wichtiger, den Menschen in den mittleren Gruppen zu zeigen, dass ihre Haltung mit Gleichgültigkeit und Klimaleugnung nicht vereinbar ist. (Owen Gaffney hält es allerdings für eine entscheidende Aufgabe der Klimkommunikation, die Gleichgültigen zu erreichen.)
Es ergeben sich zwei Hauptaufgaben für die politische Kommunikation im Sinne der notwendigen Transformation:
Um die „concerned optimists“ und die „steady progressives“ von der Notwendigkeit einer Transformation zu überzeugen, muss man einerseits argumentativ erklären, dass der Optimismus hinsichtlich der bestehenden Politik nicht angebracht ist. Andererseits muss man betonen, dass technische Lösungen und Innovationen die Klimakatastrophe nicht aufhalten werden, sondern zu Illusionen über ihre Beherrschbarkeit führen. Ziel muss sein, auch in diesen Gruppen Verständnis für die Notwendigkeit eines Bruches mit dem bestehenden Wirtschafts- und Machtsystem zu wecken, ohne sie durch die Aussicht auf diesen Bruch in ein Bündnis mit den Gegnern jeder Klimapolitik zu treiben.
Anders formuliert: Wir brauchen in der politischen Kommunikation intelligente Argumentationen für eine Politik der ökologischen Transformation. Sie darf nicht als Fortsetzung der bisherigen Politik erscheinen, z.B. als „grünes Wachstum“, weil man damit dem Optimismus hinsichtlich der Machtverhältnisse und der Technikgläubigkeit Vorschub leistet, die letztlich wirksame Klimapolitik blockieren. Sie muss aber für die „concerned optimists“ und „steady progressives“ so attraktiv sein, dass diese nicht noch mehr zu „climate delayers“ werden.
(Ich bin auf dieses Thema auch aufmerksam geworden, weil ich von Christoph Theisinger weiss, dass für die Zukunftsallianz des Klimavolksbegehrens Studien zu den Sinus-Milieus eine große Rolle spielen.)
Abbildungen: Ipsos/Earth4All CC BY-NC 4.0