Gestern hat mich Norbert Mayr gefragt, was ich von Ingolfur Blühdorns neuestem Vortrag halte. Ich habe mir das Video des Vortrags auf YouTube angeschaut. Viel mehr kenne ich von Blühdorn bisher nicht – allerdings genug um festzustellen, dass sich seine Ideen nicht auf diesen Vortrag reduzieren lassen. Blühdorns Thesen sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Gründen dessen, was er die „Nachhaltigkeit der Nichtnachhaltigkeit“ nennt. Dieser Hintergrund wird in dem einstündigen Vortrag nicht erwähnt.
Um es kurz zu sagen: Ich finde in Blühdorns Vortrag interessant, was man als Selbstkritik der ökologisch-emanzipatorischen Bewegung bezeichnen kann. Und ich kann vieles von dem nachvollziehen, was er über den grundsätzlichem Wandel zu einem Regime sagt, das er als „illiberale Moderne“ bezeichnet. Ich halte es aber für grundsätzlich problematisch, aus dem Versuch einer „Zeitdiagnose“ Prognosen und Handlungsanweisungen abzuleiten.
Blühdorn lässt in seinem Vortrag keinen methodischen Analyse-Ansatz erkennen, auch wenn er als Soziologe spricht. Er resümiert mehr oder weniger plausibel vieles, was in den Medien berichtet wird. Aber er liefert über die Feststellung von Trends hinaus keine Erklärungen und riskiert Prognosen, ohne zu begründen, warum es nicht zu ganz anderen Entwicklungen kommen kann.
Wenn ich es richtig sehe, dann folgt er dem, was Howard Garfinkel im Anschluss an den Wissensoziologen Karl Mannheim als dokumentarische Methode bezeichnet hat . Einzelne Erfahrungen und Dokument werden als Belege allgemeiner Tendenzen gewertet. Für eine zeitgeschichtliche Analyse der Gegenwart ist das zu wenig.
In dem, was Blühdorn als „Öko-Emanzipatorisches Projekt“ bezeichnet, könnten Entwicklungen miteinander amalgamiert sein, die in ihrem Ursprung und ihrer Zielsetzung wenig miteinander zu tun haben. Den Siegeszug des Neoliberalismus ab den 70er Jahren erwähnt Blühdorn (in diesem Vortrag) nicht – auch nicht den Aufschwung des zumindest damals aktuellen kapitalistischen Modells nach dem Ende des Ostblocks.
Bei vielen in der westlichen liberalen Linken hat diese Entwicklung Ideen einer radikalen Systemveränderung in den Hintergrund treten lassen oder beseitigt. Das bedeutet aber nicht, dass seit der Wachstumskritik der 70er Jahre nicht kontinuierlich auch radikalere ökologische Ideen formuliert wurden, die vor allem in die heutige Degrowth-Bewegung mündeten.
Statt von einem Öko-Emanzipatorischen Projekt könnte man, wenn man Blühdorns Stil der zeitgeschichtlichen Rundschläge akzeptiert, auch von einem liberalen Projekt sprechen, das gerade mehr oder weniger krachend scheitert, nachdem zuvor ein sozialdemokratisches Projekt gescheitert ist. Aber solche Einschätzungen sind ohne Hinterlegung mit einer Theorie und Kriterien dafür, wann sie zutreffen und wann nicht, willkürlich. Sie sagen vor allem etwas über diejenigen aus, die sie formulieren und sind damit selbst soziologische und zeithistorische Dokumente.
Im Ergebnis führen Blühdorns Überlegung zu einer passiven Haltung gegenüber den autoritären und antiökologischen Tendenzen, die er beobachtet. Historische Entwicklungen sind aber unvorhersehbar oder jedenfalls nicht so leicht prognostizierbar, wie es dieser Vortrag suggeriert. Deshalb kann man aus Trends wie denen, die Blühdorn darstellt, keine Handlungsanweisungen ableiten.
Man kann ziemlich sicher voraussagen, dass es in den kommenden Jahren durch die Überschreitung der planetary boundaries zu zunehmend schlimmeren ökologisch-sozialen Katastrophen kommen wird. Man kann aber nicht wissen, ob die autoritären Bestrebungen, über die gerade täglich berichtet wird, sich auf Dauer durchsetzen werden. Niemand weiß, ob die Trumps und Kickls nicht aufgrund ihrer eigenen Irrationalität relativ schnell – wenn auch vielleicht unter enormen Opfern – wieder von der Bildfläche verschwinden werden, so wie der Faschismus der zwanziger und dreißiger Jahre besiegt wurde, obwohl damals viele eine autoritäres Zeitalter vorausgesagt haben.
Unterschätzung der Machtverhältnisse und Enttäuschung der Klimabewegung
Ich vermute, dass es Norbert Mayr nicht um eine Einschätzung der Wissenschaftlichkeit einer Argumentation ging, sondern um Blühdorns Bewertung der aktuellen Situation: Die Klimabewegung schafft es nicht nur nicht, Forderungen durchzusetzen, sondern sie ist in der Defensive. Je deutlicher die Folgen der Klimakatastrophe werden, desto mehr wenden sich die Wähler:innen in den westlichen Demokratien Parteien zu, die die Klimakrise leugnen. Blühdorn konstatiert die Ohnmacht der Klimabewegung angesichts dieser Entwicklung und fragt, ob die emanzipatorische Rhetorik vieler in der Klima- und Umweltbewegung zu ihr beigetragen haben.
Ich glaube, dass die Erwartungen vieler in der Klimabewegung weniger wegen der emanzipatorischen Rhetorik enttäuscht wurden als wegen der Unterschätzung der Machtverhältnisse in den industrialisierten Gesellschaften. Blühdorn stellt selbst fest, dass zum „Öko-Emanzipatorischen Projekt“ die Vorstellung gehört, die Menschen würden sich für die Rettung ihrer Umwelt engagieren, sobald sie ausreichend über deren Zustand informiert sind. Wenn er aus dem Scheitern dieser Annahme ableitet, dass die Klimabewegung als solche gescheitert sei, geht er davon aus, dass sich die Haltung und Meinungen einer Mehrheit schnell in praktische Maßnahmen umsetzen lassen. Außerdem setzt er – wie viele in der Klimabewegung – voraus, dass die Mehrheit ihre Interessen verhältnismäßig einfach definieren kann. Beides trifft so nicht zu.
Die Mehrheit der Menschen hat keine Kontrolle über die Ökonomie. Und sie ist von Möglichkeiten, tatsächlich ökonomisch und ökologisch relevante Entscheidungen zu treffen, so weit entfernt, dass die meisten – auf Arbeit, Konsum und die vorhandenen Infrastrukturen angewiesen – rational schwer entscheiden können, welche Art ökologischer Politik ihren eigenen Interessen entsprechen würde. Die relativ kleine Gruppe der wirtschaftlichen Mächtigen kann dagegen einerseits relativ leicht feststellen, welche Entscheidungen in ihrem Interesse liegen und andererseits Erkenntnisse in Handlungen, vor allem in Investitionsentscheidungen mit langfristigen Folgen, umsetzen.
Im Interesse der meisten in dieser Gruppe liegt die weitere Extraktion von Materialien aus der Natur und eine Steigerung des Überkonsums. Beides hängt nach wie vor von der Verfügbarkeit fossiler Energien ab. Die Angehörigen dieser Gruppe – oder besser: Klasse – investieren da, wo sie sich schnelle und sichere Profite erhoffen. Von diesen Investitionsentscheidungen ist die große Mehrheit der Bevölkerung abhängig, weil sie auf Arbeitsplätze und Steuern angewiesen ist, zu denen es heute nicht ohne Investitionen in weiteres ökologisch katastrophales Wachstum kommt.
Es wurde bisher viel zu wenig institutionalisierte Gegenmacht zu dieser Klasse aufgebaut. Die Arbeiterbewegung konnte in den beiden vergangenen Jahrhunderten Institutionen entwickeln, die dem Kapital gegenüberstanden und handlungsfähig waren. Sie verfügte über Parteien, Gewerkschaften, Medien und auch über Einfluss in der Wissenschaft. Sie konnte mit Streiks und mit Revolten drohen. Sie hatte ein eigenes Instrumentarium zur Kontrolle der Wirtschaft, das sie auch – z.B. über die Montanmitbestimmung – umsetzen konnte.
Das Kapital des 21. Jahrhunderts dreht gerade weiter an der Extraktionsschraube, um Überschüsse zu erzeugen und zu verwerten. Dagegen sind Bündnisse der Gegenkräfte nötig und Strukturen, die auch unabhängig von der bestehenden wirtschaftlichen Macht ein gutes Leben sicherstellen. Anders ausgedrückt: Ohne Klassenkampf und ohne den Aufbau handlungsfähiger und nicht vom Kapital kontrollierter Gegeninstitutionen wird es die ökologisch nötige radikale Transformation der Wirtschaft nicht geben. Im Augenblick gibt es solche Institutionen und damit eine „ökologische Klasse“ nur embryonal – in der Wissenschaft, in Teilen der öffentlichen Bürokratie und in alternativen Segmenten von Wirtschaft und Landwirtschaft.
Ich will nicht selbst – auch im Sinne der „dokumentarischen Methode“ – eine historisch neue Situation, nämlich den Kampf gegen den und im ökologischen Kollaps auf eine alte, nämlich den Kampf zwischen Arbeit und Kapital zurückführen. Der Kampf gegen die Überschreitung der planetaren Grenzen erfordert ein ganz anderes Verständnis der Kapitalismus (und unter anderem des Konsums und der Reproduktion) als der Kampf der Arbeiterklasse für ihre materiellen Interessen – auch wenn er an Errungenschaften dieses Kampfes, z.B. die Institutionen des „roten Wien“, anschließen kann. (Für mich ist Éric Pineaults Buch „The Social Ecology of Capital“ ein Schlüssel zu einem solchen Verständnis.) Ich möchte nur hervorheben, dass Institutionen und institutionalisierte Gegenmacht notwendig sind, um dem extraktiven Kapital der Gegenwart entgegenzutreten. Diese Ebene des sozialen und politischen Kampfes wird verfehlt, wenn man, wie Blühdorn das in seinem Vortrag tut, übergreifende historische Entwicklungen wie den Übergang zur „illiberalen Moderne“ diagnostiziert.