In meinem letzten Blogpost habe ich darüber geschrieben, wie mich Facebook über einen URL politisch klassifiziert. Ich glaube, dass einige das Post vor allem als kritisch verstanden haben. Mir ging es aber gar nicht darum, Facebook als dunkle Macht darzustellen, sondern um die Veränderung in sozialen Kategorisierungen durch das Web, zu dessen Architektur URLs gehören.
Als ich über das Thema weiter nachgedacht habe, erschien mir auf einmal ein Gedanke selbstverständlich, der sich aus einigen anderen Ideen über die Gesellschaft, die ich schon mehrfach formuliert habe, eigentlich zwangsläufig ergibt oder sogar zu ihren Voraussetzungen gehört: Es gibt nie nur eine Version der sozialen Kategorisierung. Es gibt nicht ein geordnetes Ganzes namens Gesellschaft, dem man deskriptiv oder durch Kategorisierung mehr oder weniger nahe kommen könnte. Es gibt stattdessen Kategorisierungsaktivitäten, die ineinandergreifen, sich überlagern oder sich widersprechen können, und die zu den Aktivitäten gehören, die Gesellschaft produzieren—in dem Sinne, wie Armbewegungen zum Schwimmen gehören, nicht in dem Sinn, wie man einen Tisch produziert, der dann als Ding vorhanden ist.
Man kann diesen Gedanken auch umdrehen und sagen: Weil immer verschieden, unterschiedlich kategorisiert wird, gibt es nicht die Gesellschaft als Ganzes oder System. Die Kategorisierungen können an unterschiedlichen Gegebenheiten ansetzen, z.B. an physikalischen oder geographischen Orten (mit territorialen „Gesellschaften“ als Ergebnis), an physischen Eigenschaften (mit „Rassen“ als Ergebnis), an Geschlechtern, Altersgruppen usw. Auch die quantitative, z.B. demographische, „Messung“ sozialer Phänomene gehört zu diesen kategorisierenden und eigentlich Gesellschaft produzierenden Phänomenen. Offenbar gehört es zu diesen Kategorisierungen, dass sie zu festen Zuschreibungen „verdinglicht“ werden können, so dass so dass dann die territoriale Gesellschaft oder die Rasse als etwas Reales erscheint.
Um zu Facebook zurückzukommen: Der Social Graph ist ein Verfahren oder eine Methode der sozialen Kategorisierung, die durch das Web möglich geworden ist und vielleicht sogar im Web zwingend ist. Sie ist nicht unabhängig von anderen Kategorisierungssystemen, zu denen die Adressierung von etwas oder jemand durch URLs gehört. Der Social Graph oder das, was sich unter ihm subsumieren lässt, produziert Gesellschaft, er gibt sie nicht einfach wieder. Er produziert sie nicht allein, und vielleicht sollte man auch—statt von dem Social Graph zu sprechen—eher sagen, ein bestimmter Social Graph, etwa der von Facebook, produziert Gesellschaft. So wie andere Kategorisierungen nicht die Gesellschaft erfassen können, sondern performt werden, so wird sich auch nicht durch Facebook oder im Netz als Ganzem ein sozialer Graph als Beschreibung der Gesellschaft durchsetzen; es wird immer unterschiedliche und sich widersprechende soziale Graphen geben. Aber das „Format“ sozialer Graph gehört zu einer Weise, Gesellschaft zu machen, die erst durch das Web möglich geworden ist.
Noch eine Bemerkung/Einschränkung: Ich weiss, dass ich sehr vage Überlegungen anstelle. Ich tue das bewusst in einem Blogpost, in dem man provisorische Überlegungen formulieren kann. Thomas Pleil spricht von einem vormedialen Raum; ich benutze mein Blog hier als einen vorwissenschaftlichen Raum. Mir ist klar, dass ich Begriffe benutze, die sehr voraussetzungsvoll sind, und dass man zu solchen Themen nicht einfach „drauflosdenken“ kann. Über Zuschreibungen, Rollen oder Messverfahren gibt es Bibliotheken.
Mich interessiert die Frage nach der Gesellschaft wohl vor allem, weil ich in meiner Jugend die damals aktuelle marxistische oder vulgärmarxistische Vorstellung von einer „Gesamtgesellschaft“ aufgesaugt habe. Obwohl ich im Studium Max Weber und Alfred Schütz kennengelernt habe, und obwohl ich Foucault gelesen und in Paris auch gehört habe, hat erst die Lektüre Bruno Latours bei mir dieses Konzept tatsächlich erschüttert, vor allem die von Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Ein irreduzibler Pluralismus von sozialen Kategorisierungen ist Teil einer Soziologie, die die Assoziation von Menschen—und Objekten—in ihren Fokus stellt.