Ein Interview mit Bruno Latour (siehe jetzt hier) hat mich angeregt, mich mit den Querverbindungen zwischen Latour und der Semiotik von A.J. Greimas zu beschäftigen. Der Greimas’sche Begriff des internen Referenten und Latours Konzept der Referenzketten eignen sich möglicherweise dazu, Eigenschaften von Hypertext, vor allem seiner rhetorischen Wirkung, zu beschreiben.
Greimas war einer der großen strukturalistischen Semiotiker. 1980/81 konnte ich sein Seminar in Paris besuchen, vielleicht kann ich das jetzt endlich für meine Arbeit fruchtbar machen. Zu den Verbindungen zwischen Latour und Greimas habe ich online diesen Aufsatz von Roar Høstaker gefunden, in dem die Greimas’sche Semiotik knapp referiert wird.
Latour bezieht sich vielfach auf Greimas; ein für ihn wichtiges Konzept Greimas‘ ist das des internen Referenten:
This is Greimas’s great discovery, that objectivity is the inside referent, it’s never an outside referent [Teil 2 des Interviews].
Høstaker hebt vor allem hervor, dass bei Latour Verweisketten an die Stelle von „externen“ Referenzen, also Verweisen auf eine außersemiotische Wirklichkeit treten:
However, for Latour every notion of an external referent is meaningless. Reference can only mean the chain of translations of internal referents. To what degree scientists speak truthfully about the nature depends upon the quality of this chain (1999a: 310).
…
The external referent disappears and becomes an internal referent. References to the world ‚out there‘ turn into steps of translations between different frames of reference.
Mich interessiert nicht so sehr die Frage der Objektivität der Außenwelt—für Greimas ist die Lebenswelt selbst eine „Semiotik“. Mich interessiert, dass der interne Referent, also das, von dem ein Text spricht, über Verweisketten konstruiert wird, wobei es z.B. in der Wissenschaft, der Rechtsprechung, im Journalismus oder in der Religion unterschiedliche Arten und Weisen gibt, Verweise zu benutzen und damit eine spezifische Realität aufzubauen.
Ausgehend von diesen Verweisketten lassen sich nämlich Unterschiede zwischen Hypertexten/Hypermedien und „analogen“ Texten beschreiben. Bei einem Hypertext kann die Leserin oder der Leser einen Verweis interaktiv auflösen, also die Verweiskette verfolgen. Dadurch unterscheidet sich vielleicht nicht die Bedeutung der Verweise, aber ihre Überzeugungskraft. Ein Text mit Hyperlinks ist überzeugender als ein Text ohne Verweise auf andere Ressourcen, und je leichter der Weg zu den „Quellen“ nachzuvollziehen ist, desto weniger ist ein Text darauf angewiesen, sich auf externe Garanten für seine Glaubwürdigkeit zu beziehen bzw. diese mit semiotischen bzw. rhetorischen Mitteln zu konstruieren.
Eine Onlinejournalistin hat z.B. viele Möglichkeiten, schriftliche Quellen oder Daten direkt zu verlinken, die einem Printartikel oder einer Radiosendung nicht zur Verfügung stehen. Das vergrößert ihr Repertoire bei der Konstruktion der Referenten des Textes und damit ihre Glaubwürdigkeit. Deshalb kann sie möglicherweise auf rhetorische Mittel wie die Nachrichtensprache oder Hinweise auf ihren privilegierten Zugang zu Informanten („aus gutunterrichteter Quelle …“) verzichten.
Latour selbst bezeichnet in dem Interview Zitate als
such a powerful tool to produce the internal referent.
Er weist übrigens auch auf die Möglichkeiten hin, zur wirkungsvollen Konstruktion von Referenten Text und Grafiken zu verbinden, also multimedial zu arbeiten. Auch dazu gibt es online eine Vielzahl von Möglichkeiten, die analog nicht existieren.
Diesen Überlegungen lassen sich in verschiedene Richtungen weiterdenken und hoffentlich empirisch überprüfen. So könnten stilistische Eigenschaften von Online-Texten mit den rhetorischen Qualitäten von Hyperlinks zusammenhängen. Bekanntlich funktioniert z.B. offizieller Verlautbarungsstil online nicht (Stichwort: PR-Bullshit). Ein Grund dafür könnte sein, dass man in einer Hypertextumgebung bessere Mittel zur Erzeugung von Glaubwürdigkeit hat. Damit zusammen hängen die Fragen der Beziehung zwischen Text, Autor und Leser, die online ihrerseits verlinkt repräsentiert sind (z.B. durch Profile, Likes und andere Empfehlungen) und im Raum des Netzes auch anders als potenzielle Sprecher oder Autoren anwesend sind als die Urheber von Printtexten. (Greimas und Latour beschäftigen sich intensiv mit den Phänomenen des débrayage und embrayage, provisorisch übersetzt, des Ein- und Ausklinkens von Sprechern und Angesprochenen im Text; sie müsste man bei Hypertext untersuchen.)
Hier eine knappe Zusammenfassung des Gesagten, ich möchte es gern weiterführen:
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Texte konstruieren interne Referenten
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Ein wichtiges Mittel sind dabei Zitate und Verweise.
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Online sind Verweise direkt auflösbar.
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Unabhängig von der Art oder Bedeutung der chains of reference ist die Überzeugungskraft von Verweisen größer, wenn sie direkt aufgelöst werden können.
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Genauso erweitern und verändern multimediale Elemente die Möglichkeiten von Online-Medien, interne Referenten zu konstruieren.