Ich habe ein paar Tage fast stündlich auf News-Seiten nachgesehen, wie es um die Koalitionsgespräche in Österreich steht. Ich war, wie fast alle in meinem Umfeld, erleichtert, als das Aus für Schwarzblau endlich feststand. Wieder einmal hat Österreich knapp vor dem Abgrund eine Kurve genommen – ähnlich wie beim Sieg van der Bellens über Hofer. Mit Kickls Scheitern hat der für Demokratie und Klimaschutz gefährlichste evil actor in Österreich an Einfluss verloren.
Ich habe oft die Nachrichten gehört, mehr ORF-Sendungen als sonst gesehen und viele Zeitungsartikel gelesen. In meiner Erinnerung bleibt wenig von ihnen zurück – am ehesten Anna Thalhammers Bericht im Profil (Thalhammer, 2025). Es wurde zwar laufend über den Stand der Verhandlungen berichtet, aber nur sehr wenig über die Motive der Handelnden. Dass die „wirtschaftsnahen Kreise“, vor allem Wirtschaftsbund und Industriellenvereinigung, für den Abbruch der Gespräche mit der SPÖ gesorgt haben, wurde in keiner der Publikationen bezweifelt. Aber warum sie sich jetzt auf einmal gegen die FPÖ gestellt haben, bleibt rätselhaft. Die FPÖ hat sich ja nicht verändert. Dass sie ein Sicherheitsrisiko ist, war auch vor den Koalitionsgesprächen bekannt.
Meine Hypothese zum Nichtstart dieser Version von Schwarz-Blau: Das triumphierende Agieren Trumps und seiner Verbündeten in Europa hat der FPÖ geschadet. Wäre es bei der Regierungsbildung nur um Österreich gegangen, hätte sich die ÖVP mit der FPÖ eingelassen. Jetzt wurde aber vielen klarer als vorher, dass eine FPÖ-dominierte Regierung in Österreich sich als entscheidender Dominostein bei der Durchsetzung einer Anti-EU-Politik in Europa erweisen könnte.
Ich habe in den letzten Monate viele Podcasts zu Europa und zur EU gehört, darunter eine These Times-Folge zur den europäisch-amerikanischen Beziehungen nach 1990 (Thompson & McTague, 2022) und eine Folge der Klima-Podcasts Claudia Kemferts zu den Memoiren Angela Merkels (Schödel, 2025). Dabei wurde mir deutlicher, wie Europa seit 1990 – zu einem großen Teil durch die deutsche Politik – in eine geopolitisch schwache Ausgangssituation geraten ist: Man hat sich – am meisten in Deutschland – darauf eingestellt, dass es in Europa nicht mehr zu Kriegen kommen würde und dass man vom Export, also von einem offenen Welthandel, profitieren würde. Deutschland verließ sich auf Energie aus Russland, blockierte aufgrund der eigenen Stärke eine europäische Schuldenpolitik, die die EU-Institutionen gestärkt hätte, und unterstützte Bemühungen um mehr gemeinsame europäische Souveränität zu wenig. Währenddessen haben China, Russland und die USA in unterschiedlicher Weise eine immer nationalistischere (und auf eigene fossile Energien gestützte) Politik betrieben. Ihnen gegenüber ist die EU jetzt in einer schwachen Position, die nach Trumps Amtsübernahme plötzlich sichtbar wird und eine aktive Europapolitik in den EU-Ländern verlangt.
Gerade wird vielen bewussst, dass Europa seine politischen Ziele neu definieren muss und dass es ohne stärkere EU-Institutionen der Dominanz der USA, Chinas und auch Russlands und Indiens wenig entgegensetzen kann. Mit dieser Bewusstseinsänderung könnte Kickls Scheitern zusammenhängen.
Einige der Agierenden haben möglicherweise in letzter Minute erkannt, dass ein antieuropäischer Kurs Österreichs in der aktuellen geopolitischen Situation fatale Konsequenzen haben könnte, weil er nicht nur Österreich, sondern die ganze EU weiter schwächen würde – was das erklärte Ziel Kickls und seiner Verbündeter ist. Je stärker das Trump- und Putinlager in Europa wird, desto schwieriger wird eine einheitliche europäische Politik. Ich vermute, dass die ÖVP-Spitze darauf auch von ihren Verbündeten in anderen Ländern, vor allem von der CDU, hingewiesen wurde. Ohne Trump, ohne die Rhetorik der Orbán-Verbündeten nach Trumps Regierungsantritt (González, 2025), vielleicht auch ohne die Auseinandersetzungen über die AfD in Deutschland wäre eine nationalistischer Kurs Österreichs viel weniger als überregional wichtiges Phänomen wahrgenommen worden.
Um so deutlicher wird, wie wenig die europäische Politik in Österreich als relevant erkannt wird. Die Übernahmen der rechten Rhetorik durch die Konservativen hat auch dafür gesorgt, dass die EU in der österreichischen Öffentlichkeit vor allem als feindliche Macht erscheint. Nicht einmal die Verhöhnung von Zelensky und von der Leyen auf FPÖ-Plakaten hat die ÖVP daran gehindert, Koalitionsgespräche mit dieser Partei zu beginnen. Die Argumente für den Abbruch der Gespräche mit Kickl sprechen dafür, dass sich die ÖVP wieder proeuropäischer verhält. Ihr Schwanken in den Koalitionsverhandlungen dämpft allerdings die Hoffnung auf dauerhafte Änderungen.