Gestern abend habe ich bei John Berger gelesen (und dabei an Elon Musk gedacht):
Die Tatsache, dass die Tyrannen der Welt ex-territorial sind, erklärt das Ausmaß ihrer Überwachungsmacht, weist aber auch auf eine kommende Schwäche hin. Sie operieren im Cyberspace und residieren in bewachten Zonen. Sie haben keine Kenntnis von der sie umgebenden Erde. Außerdem tun sie dieses Wissen als oberflächlich und nicht tiefgründig ab. Nur die extrahierten Ressourcen zählen. Sie können nicht auf die Erde hören. Auf dem Boden sind sie blind. Im Lokalen sind sie verloren.
Für die Mitgefangenen ist das Gegenteil der Fall. Die Zellen haben Wände, die sich über die ganze Welt hinweg berühren. Wirksame Aktionen des nachhaltigen Widerstands werden nah und fern in das Lokale eingebettet sein. Widerstand im Outback, auf die Erde hören. (“Meanwhile,” Übersetzung mit deepl.com, von mir redigiert, in Berger, 2016)
Seit Dienstag, als ich mit Ana in der Dramatisierung seines Romans A und X im KiG gewesen bin, gehen mir Formulierungen Bergers durch den Kopf. Schon länger denke ich über die Bedeutung des Lokalen, des Orts, im Kampf gegen die Klimakatastrophe und die mit ihr verknüpften Krisen nach. Den Horizont dafür bildet für mich der Begriff der geosozialen Klasse (Latour & Schultz, 2022).
In Graz arbeite ich bei 1,5 Graz mit. Müsste ich mich für eine Form von Aktivismus entscheiden, wäre es diese.
Die alte Arbeiterbewegung war erfolgreich, weil sich sehr viele Menschen um konkrete Forderungen herum organisieren und für sie kämpfen konnten. Sie hatten konkrete Ziele: kürzere Arbeitszeiten, mehr Lohn, Betriebsräte und Mitbestimmung. Was sie im Alltag, in ihrer Arbeit erlebten, war direkt mit diesen Zielen verbunden. Das heisst nicht, dass sich ihre Forderungen auf diese Ziele beschränkten. Für konkrete Ziele zu kämpfen war ein Teil des Klassenkampfs. Ob diese Ziele durchsetzbar waren, hing von den Machtverhältnissen in einem Land und darüber hinaus ab. Aber der Klassenkampf wurde auch über diese konkreten Auseinandersetzungen geführt. Vor allem duch Streiks hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter ein Druckmittel, das man ihnen nicht nehmen konnte, wenn sie solidarisch blieben.
Diese Art von Klassenkampf können wir heute nicht mehr führen. Der Gegner ist heute ein globalisierter Finanzkapitalismus, nicht die Bourgeosie in einem Land. Von einer Arbeiterklasse kann man nicht mehr so sprechen wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt, weil zur Klasse auch ein Klassenbewusstsein gehört. Vor allem aber stehen sich heute nicht nur soziale Klassen gegenüber, die man im weitesten Sinne als Gruppen von Menschen verstehen kann.
Ökologisch-soziale Kämpfe werden darum geführt, die Beziehungen zu den Lebensgrundlagen, zur Natur, gemeinsam und mit der Natur zu organisieren statt sie von einem Weltmarkt und denen, die ihn kontrollieren, bestimmen zu lassen. Dadurch werden sie immer lokal geführt. Es geht in ihnen darum zu schützen und zu regenerieren, was für Orte und Gebiete spezifisch ist. Nur wenn wir uns für etwas engagieren, das es an Orten, in bestimmten Landschaften gibt – nicht unbedingt die Orte und Landschaften, in denen wir wohnen – haben wir einen Grund, gegen die globalisierte Zerstörung der Lebensgrundlagen einzutreten.
Die Beziehungen zu den Lebensgrundlagen lassen sich nur lokal organisieren. Man muss sie vor Ort und individuell anders gestalten als es die Märkte tun. Nur lokal und regional lässt sich verfolgen und entscheiden, was unter bestimmten ökologischen Bedingungen möglich ist. Diese Entscheidungen und Handlungen lassen sich dabei nicht in eine ferne Zukunft verschieben. Wenn wir nicht wollen, dass wir in Graz im Sommer nicht mehr auf die Straße gehen können, weil es zu heiss ist, müssen wir jetzt die Stadt entsiegeln. Wenn wir von einer regionalen Landwirtschaft leben wollen, müssen wir die Ernährung der Stadt jetzt regional organisieren – sonst wachsen die Schwierigkeiten exponentiell.
Die Handlungsspielräume, die lokal bestehen, und die an lokale Verständigung und Solidarisierung gebunden sind, werden durch überregionale Verhältnisse und durch einen globalen Markt eingeschränkt – in Graz z.B. durch Abhängigkeiten von einer Automobilindustrie, die für internationale Märkte produziert, aber auch durch Gesetze, die festlegen, was in der Energieversorgung oder im Bauwesen geschieht. Ob und wie weit eine lokale ökologische Transformation möglich ist, hängt deshalb davon ab, die Transformation auf anderen Ebenen voranzutreiben. Städte und Regionen werden sich dabei auch Rechte nehmen müssen – so wie es die Zapatisten in Mexiko getan haben.
Der radikalen Klimabewegung wird oft vorgeworfen, keine konkreten Handlungsmöglichkeiten anzubieten, nicht über den Protest und Appelle an Regierungen hinauszukommen. Veränderung, die auf lokale ökologische Selbstbestimmung hin ausgerichtet ist, nicht nur auf das Ausfüllen der bestehenden Aufgaben für die lokale Selbstverwaltung, ist für mich ein Weg (nicht der einzige), transformative Veränderungen zugleich zu fordern und zu vollziehen, zu reformieren, aber nicht reformistisch zu bleiben.