Der Standard bringt heute ein langes Interview zur Festlegung der europäischen Klimaziele, dass Benedikt Narodoslawsky mit Kywan Riahi geführt hat (Narodoslawsky 2025b). Riahi sagt deutlich, dass Europa bis 2050 nicht CO2-neutral werden kann, wenn die Emissionen nicht bis 2040 um 90% gesenkt werden. Der Standard hat in der letzten Woche darüber berichtet, dass die ÖVP aktiv versucht, dieses Ziel zu blockieren (Narodoslawsky 2025a), die österreichische Regierung darüber aber nicht einig ist. Über die Konflikte auf der europäischen Ebene gibt es einen ausführlichen Artikel im Guardian (Harvey 2025). Macron und Merz spielen hier unrühmliche Rollen und setzen dabei offenbar auch auf den Antieuropäer Orbán.
Die geopolitische Dimension dieser Entscheidung wird in dem Interview nicht erwähnt. Für mich gehört die Rede, die Mario Draghi vor zwei Wochen in Rimini gehalten hat, zum Hintergrund (Draghi 2025). Draghi fordert eine gemeinsame europäische Industriepolitik, eine Stärkung des Binnenmarkts und eine viel engere politische Integration Europas, damit Europa seine Interessen gegenüber China und den USA durchsetzen kann. Er stellt fest, dass die neoliberale Ära, in der Europa fast ausschließlich auf wirtschaftlichen Erfolg gesetzt hat, um internationales politisches Gewicht zu haben, endgültig vorbei ist. Die Klimakrise erwähnt er dabei nicht. Die Dekarbonisierung spielt aber in dem genau vor einem Jahr entstandenen Draghi-Report eine wichtige Rolle, wenn sie auch nur unter dem Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit und damit des Wachstums behandelt wird (“The Draghi Report: In-Depth Analysis and Recommendations” 2024).
Die Politik, die Riahi befürwortet, und Draghis Konzepte sind nicht nur kompatibel, sie setzen sich gegenseitig voraus. Um die (bereits verwässerten) Ziele der EU-Kommission durchzusetzen und damit wenigstens im Wesentlichen bei der bisherigen EU-Klimapolitik zu bleiben, ist die Bereitschaft zu einer Art Neugründung der europäischen Institutionen nötig, wie sie Draghi vorschlägt. Anders ist die dazu nötige Industriepolitik nicht zu finanzieren. Das wäre das Gegenteil der Politik der Rechtspopulisten, mit denen Leute wie Macron im Zweifel gegen die Linke zusammenarbeiten. Eine solche Politik wäre auch weit entfernt von der bisherigen Politik der deutschen und österreichischen Konservativen, die sich vor allem an der kurzfristigen Wettbewerbsfähigkeit der eigenen nationalen Industrien orientiert.
Um die schlimmsten Folgen der Klimakatastrophe zu begrenzen, ist allerdings viel mehr nötig als das Erreichen der derzeitigen europäischen Klimaziele. Auch das wird im Interview mit Riahi nicht angesprochen. Es gibt kein CO2-Budget mehr zu verteilen, um das 1,5°-Ziel des Pariser Abkommens auf irgendeinem Reduktionspfad zu erreichen. Die CO₂-Uhr des Potsdam-Instituts zeigt, dass das globale Budget für 1,5° in nicht einmal 4 Jahren aufgebraucht sein wird. Auch die Politik die Draghi vorschlägt und zu der Riahis Argumentation passt, entspricht also nicht dem Ernst der Lage.
Ich lese gerade Karl Polanyis The Great Transformation (Polanyi 2001). Ausführlich schildert Polanyi darin, wie das, was wir heute als kapitalistische Marktwirtschaft kennen, Anfang des 19. Jahrhunderts durchgesetzt wurde – bevor man begriffen hatte, dass die Grundlagen der bisherigen ökonomischen Strukturen vor allem durch die Industrialisierung bereits zerstört waren. Über Jahrzehnte bemühte man sich mit nicht funktionierenden Gesetzen, an bisherigen Herrschaftsformen festzuhalten und gleichzeitig die Industrialisierung nicht zu blockieren. Mir kommen die Auseinandersetzungen in der EU ähnlich vor. Die Radikalität der nötigen Transformation wird entweder nicht wahrgenommen – oder, und das scheint mir bei Draghi der Fall zu sein – sie wird wahrgenommen, aber im Sinne des bisherigen Wachstumsparadigmas interpretiert. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts mussten ökonomistische (wie es Polanyi nennt) Paradigmen erst durchgesetzt werden, um zu begreifen, wie radikal sich Wirtschaft und Gesellschaft verändert hatten. Heute verhindert vor allem der Ökonomismus das Verständnis der nötigen Transformationen. Wenn man Draghis Konzepte „dreht“ und von der Fixierung auf Wachstum und den globalen Markt löst, kommt man einem solchen Verständnis näher. Man erkennt aber auch – denn Draghis Argumente sind stringent – wie eng jede Form der Bekämpfung des Klimanotstands an geopolitische Auseinandersetzungen gebunden ist.