Guidelines und Governance—das sind Lieblingsausdrücke vieler Manager. Managen bedeutet für sie: Unerwartetes ausschalten, standardisieren, nachvollziehbar machen. So schöne Wörter wie Verfahrensanweisung symbolisieren dieses Verständnis von Management.

Lassen sich Social Media mit Guidelines managen und einer Governance unterwerfen? Am Wochenende hat mich ein Interview mit Bruno Latour auf den Gedanken gebracht, dass das vielleicht ganz grundsätzlich nicht funktioniert.

Latour konfrontiert in diesem Interview zwei Vorstellungen von Politik: Eine, die auf standardisierte Verfahren ausgerichtet ist, und eine, die sich an Objekten, Dingen oder Themen orientiert. Das erste Verständnis gibt vor, wie Inhalte repräsentiert, dargestellt werden. Wo es diese Repräsentation nicht gibt, wo sie vielleicht gar nicht möglich ist, werden Themen, Erfahrungen und auch Passionen ausgeschlossen. Die andere Konzeption von Politik nennt Latour Dingpolitik. Sie verzichtet nicht auf Repräsentation, aber sie ist offen für neue Formen der Vermittlung von Inhalten, für sie ist nie von vornherein klar, was und wer politisch zugelassen ist und was nicht.

Zu der Dingpolitik, die Latour fordert, gehört die Eloquenz, die Rhetorik. Umgekehrt hat die Politik im Sinne von Governance die Eloquenz vertrieben.

At the same time, however, we have also lost the great techniques that ought to still be used today, that of eloquence, of rhetoric. Instead, we have reached a slightly discouraging amalgam of governances. This is all the more obvious in the programs presented to us. We are being asked to imagine that politics is set of programs that we must apply in a problem-solving fashion. Therefore there is no longer the technique of eloquence or spin that gives the quality of everyday life to the political.

Rhetorik hat mit Leidenschaft zu tun. Sie formuliert, was die Leute bewegt, und sie erlaubt es den Menschen, selbst zu formulieren, was sie bewegt. Sie ist das Gegenteil der öden Gleichförmigkeit, die in die Bullet Points von Powerpoint-Folien gegossen werden kann.

Was hat das mit Social Media und Guidelines in Unternehmen zu tun? Ich glaube, dass Social Media auch in Unternehmen eine Dingpolitik erlauben. Social Media haben mit Emergenz zu tun, sie ermöglichen es, zu formulieren, was die schematisierten Verfahren der Darstellung von Themen und Problemen nicht zulassen. Ein gutes Beispiel: Die US-Geheimdienst-Community benutzt Social Media, z.B. Blogs und Wikis, damit ihr Fehler wie vor 9/11 nie mehr passieren. Formalisierte Kommunikationswege hatten damals unterbunden, hinter vielen Detailinformationen das Thema, das Ding, nämlich den bevorstehenden Terroranschlag, zu erkennen. (Genau beschrieben wird das in dem Buch von McAfee, dem ich auch den Ausdruck Emergenz in diesem Zusammenhang verdanke.)

Ich will die Opposition von Eloquenz und Governance nicht zu Tode reiten. Beispiele dafür, wo Eloquenz in Unternehmen notwendig ist, fallen wahrscheinlich jedem ein. Sie ist da gefordert, wo die definierten Verfahren die Realität und damit die Passionen der Mitarbeiterinnen und Kundinnen ausschalten.

Für das Thema, mit dem ich mich gerade am meisten beschäftige, die Web Literacy, bedeutet das: Man geht mit den Kommunikationsmitteln des Web nicht kompetent um, indem man Regeln und Guidelines vorgibt und anwendet. Zur Webkompetenz gehört es vor allem, das Web zu benutzen, um Unerwartetes, Neues sichtbar zu machen, also z.B. immer nach den Formen zu suchen, die etwas artikulieren, das bisher noch nicht ausgedrückt werden kann. Das Web als eine Menge immer neuer Kommunikationmittel bietet die Chance auf Assoziationen und Verbindungen, die nicht vorhersehbar waren. Sie lassen sich nicht durch Guidelines managen, sondern durch eine Haltung, die die bestehenden Kommunikationsverfahren immer nur als provisorisch versteht und es zulässt, dass sie unterlaufen werden.

Ein Kommentar zu “Governance oder Eloquenz?

  1. Spannender Beitrag!
    Obwohl diesbezüglich sehr viel investiert wird, zweifle ich oft am Nutzen von solchen Social Media Guidelines, wenn diese nicht richtig kommuniziert werden. Nur, dass sie da sind, ist nicht genug.
    Womöglich erwecken sie noch den Anschein, dass man Social Media Kompetenz erwirbt, indem man eine Guideline liest. Wer eine Guideline lesen kann, kann noch lange nicht das darin verpackte „Wissen“ anwenden. Vieles lernt man nur, indem man es selbst probiert.
    Bezüglich Social Media Grundsätze ist es für mich wesentlich, dass alle Menschen den Neuen Medien mit Respekt begegnen, d.h. sie haben
    – Respekt vor den Inhalten,
    – Respekt vor den Nutzern und
    – Respekt vor dem Medium selbst.
    Dabei ist für mich unerheblich, ob es um die Kommunikation am Web, um die Kommunikation in Unternehmen, oder um die Kommunikation über ein Unternehmen am Web geht.

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