An einem nicht durchgeplanten Vormittag bin ich heute über den Standard (Altruismus als Überlebenstechnik, Der Beginn des Lebens ist berechenbar) auf den Biologen und Mathematiker Martin Nowak gestoßen. Nowak stellt offenbar in seinem Konzept der Evolution die Kooperation als gleichberechtigt neben Mutation und Selektion. Er beschäftigt sich mit der Kooperation auf allen Ebenen der Evolution, von der Zelle bis zur menschlichen Gesellschaft. Er begründet mathematisch, warum ein egoistisches Verhalten der Mitglieder von Kollektiven letztlich die Individuen im Verhältnis zu den Mitgliedern von Kollektiven, die kooperieren, benachteiligt. Er weist also wohl nach, dass ein strikt individuell zweckrationales Handeln nicht im Interesse des Individuums liegt, und dass sich das Handeln von Menschen auch nicht ädäquat als individuell zweckrational modellieren lässt.

Ich finde diese Ideen faszinierend, und ich möchte mich gerne intensiver mit Nowak (sowie mit Karl Sigmund und Ernst Fehr) beschäftigen. Ich sehe in meiner Lehre drei Anknüpfungspunkte:

  • in der Medienethik bei der Frage der Begründung ethischer Normen: Ich gehe bisher immer von Argumentationen Ernst Tugendhats aus, die man mit Nowaks Resultaten gut erweitern könnte (was den utilitaristischen Aspekt bei Tugendhat betrifft);

  • bei sozialen Medien und anderen Kooperationsformen im Web bei der Frage, warum es sinnvoll ist, Informationen, Wissen und anderes zu teilen, auch wenn kein unmittelbarer return of investment zu erwarten ist, hier passen Nowaks Überlegungen möglicherweise sehr gut zu den Theorien Yochai Benklers ;

  • bei der Online-PR in Bezug auf die Reputation. Reputation spielt bei Nowaks Untersuchungen zur Kooperation wohl eine Schlüsselrolle.

Ich hoffe, dass ich bald die Zeit habe, mich intensiver mit Nowak zu beschäftigen und über ein metaphorisch/populärwissenschaftliches Verständnis seiner Aussagen hinauszukommen. Und vielleicht interessiert sich ja auch jemand von unseren Studierenden für diesen österreichischen Wissenschaftler.

Gestern bin ich vom BarCamp Klagenfurt 2009 zurückgekommen; Ende Januar war ich in Dieburg auf der Tagung Zukunft Online-PR 2009. Ich beginne erst, Eindrücke und Ideen zu ordnen (einen Teil der Präsentationen findet man auf Slideshare hier und hier).

Ein Aspekt, der mich besonders interessiert: Wie kann man sich wissenschaftlich mit der Kommunikation im Web beschäftigen? Welche Aufgaben, welche Methoden hat die Forschung oder könnte die Forschung haben? Mit Jana Herwig habe ich in Klagenfurt über unser Vorhaben gesprochen, eine Zeitschrift für Webwissenschaft ins Leben zu rufen, mit Thomas Pleil in Darmstadt über Feldforschung im Web (ich hoffe, dass dabei unsere Studiengänge kooperieren).

Thomas Pleil geht in seinem Dieburger Vortrag auch auf die Rolle der Forschung ein:

PR der Zukunft – Was bringt das Netz?

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In einem anderen Vortrag in Dieburg hat sich Jan Schmidt mit der soziologischen Untersuchung von sozialen Netzwerken beschäftigt, er sprach unter anderem von der Chance. die Enstehung von Normen zu beobachten:

Öffentlichkeit Im Wandel Darmstadt 2009

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Jana stellte in Klagenfurt ein Projekt zur Twitterforschung vor und beschrieb das Hineinfinden in Twitter als einen Initiationsritus:

Twitter Research: Der Initiationsritus des Microblogger/in Werdens

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In diese Reihe zur Erforschung des Web gehört für mich auch die Untersuchung der politischen Kommunikation, die Max Kossatz in Klagenfurt vorgestellt hat; ich habe sie online noch nicht gefunden.

Alle diese Projekte verbindet ein ethnographischer Zugang zum Web. In allen Fällen kann man von teilnehmender Beobachtung sprechen: Die Beobachter verwenden selbst die Kommunikationsformen, mit denen sie sich beschäftigen. Bei Max Kossatz kommt ein technischer Zugang hinzu: Er nimmt mit selbstentwickelten Webtools Auswertungen zur Präsenz politischer Organisationen im Web vor.

In Klagenfurt habe ich mich mit Jana (wir vorher länger auf dem BarCamp Graz) über das Unbehagen an geisteswissenschaftlichen Thematisierungen des Webs unterhalten, die web-fremd sind, deren Autoren man anmerkt, dass sie selbst nicht mit aktuellen Webtechnologien umgehen und sie wohl auch nicht verstanden haben. Die Präsentationen, auf die ich hier verwiesen habe, sind — bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze — anders. Eine Frage ist: Welche Rolle spielt es für ihre wissenschaftliche Dignität, dass ihre Urheber auch Web-Praktiker sind? Eine weitere Frage, ausgelöst durch das Vorgehen von Max Kossatz: Welche Rolle spielt Web-Technologie als Instrument der Erforschung des Web? Gehört zur Web Science oder wird zur Web Science das Arbeiten mit spezifischen Web-Instrumenten zur Auswertung und Beobachtung gehören?

Der Kleinen Zeitung — der steirischen Regionalzeitung — können meine Kollegen und ich entnehmen, dass die steirische Landesregierung am Montag darüber entscheiden wird, wie die Stelle des Rektors der FH Joanneum ausgeschrieben wird: Vollaths Fachhochschul-Coup. Uneingeweihte können den Artikel nicht verstehen: Im Kern geht es wohl darum, ob die nächste wissenschaftliche Geschäftsführerin wieder Vorsitzende des FH-Kollegiums sein (und damit auch vom Kollegium mitgewählt) wird. Offenbar hält die zuständige Bildungslandesrätin Vollath an dem in Österreich einzigartigen Modell der Personalunion von Geschäftsführung und Kollegiumsvorsitz fest, während ihre Kollegin Edlinger-Ploder nach einem neuen Modell sucht. Frau Vollath gehört der SPÖ an, Frau Edlinger-Ploder der ÖVP; sie war in der letzten Legislaturperiode für die FH verantwortlich. Eine Proporzvorschrift kettet in der Steiermark beide Parteien in der Regierung aneinander. Tatsächlich belauern sie sich, und zur Zeit (wie eigentlich immer) beziehen sie Stellung für den nächsten Landtagswahlkampf. Am Montag dürfte auch darüber entschieden werden, ob und wie die Fachhochschule Joanneum in diesen Landtagswahlkampf hineingezogen wird.

Ich bin als einer der Vertreter der Lehrenden der FH Mitglied unseres Kollegiums, und ich denke wenigstens wöchentlich darüber nach, dieses Gremium zu verlassen. Der Bericht in der Kleinen Zeitung bringt mich diesem Schritt ein Stückchen näher. Zur zukünftigen Führungsstruktur der FH hat das Kollegium eine Stellungnahme formuliert; welche Rolle sie für die Entscheidung der Landesregierung spielt, wissen wir nicht. In der schlechten spätabsolutistischen Tradition der Steiermark werden Entscheidungen nicht offen diskutiert, bevor sie getroffen werden. Es gibt wenige Wissende und einige Personen in deren Umkreis, denen Indiskretionen zugeworfen werden. Auf eine solche Indiskretion dürfte auch der Artikel in der Kleinen Zeitung zurückgehen, der offenbar darauf abzielt, die Bildungslandesrätin zu schwächen. Der Einfluss des FH-Kollegiums, das für die Qualität von Lehre und Forschung verantwortlich ist, ist extrem gering. Noch komplizierter werden die Machtspiele um die FH durch einen politbüroartig agierenden Aufsichtsrat, gegen den sich, wie aus dem Artikel in der Kleinen hervorgeht, auch die vorgesetzte Landesrätin nicht immer durchsetzen kann, und durch die interne FH-Bürokratie, die in der Vergangenheit FH-Geschäftsführungen gefährlich geworden ist und im Gegensatz zu den Studiengängen nie evaluiert wird.

Die FH Joanneum hat einen guten Ruf; die Arbeitsbedingen sind nach wie vor besser als an vielen Universitätsinstituten. Ihren Ruf und ihre Qualität hat sie in einer Zeit erworben, in der sie relativ klein und überschaubar war und unbürokratisch geführt wurde — von Personen, die akademische Ansprüche hatten, auch wenn die FH als GmbH organisiert war. Wenn wir unsere Position auf dem Bildungsmarkt halten oder verbessern wollen, brauchen wir dringend und schnell:

  • eine innovations- und sachorientierte Führung mit Handlungskompetenzen;
  • transparente, entbürokratisierte Entscheidungsstrukturen, und vor allem eine
  • konsequente Entpolitisierung der Hochschule.

Wichtig wäre außerdem, dass tatsächlich ergebnisoffene und öffentliche interne und externe Diskussionen über die Entwicklung der FH und ihrer Studiengänge geführt werden. Alles intern und extern vorhanden Wissen muss genutzt werden, wenn die FH ihre Aufgaben als Wissens- und Innovationszentrum für die Region und ihre Wirtschaft erfüllen soll.

Christiane Schulzki-Haddouti benennt fünf Kernkompetenzen von Journalisten:

  1. Recherche und Monitoring;
  2. Die Erschließung und einfache Darstellung komplexer Zusammenhänge;
  3. Trends erkennen und verständlich visualisieren, kontextualisieren, vertonen, vertexten;
  4. Dialog und Moderation: Einen Diskurs, einen Dialog zwischen verschiedene Interessensgruppen anregen und moderieren;
  5. Aufmerksamkeit generieren, Publizität herstellen, Veröffentlichungsprozesse beherrschen.

Man kann die ersten vier dieser Kompetenzen zwanglos den Bausteinen des Online-Journalismus zuordnen, von denen Jeff Jarvis spricht (Nr.2 und Nr. 3 muss man dazu vertauschen):

  1. Kuratierte Aggregation von Quellen;
  2. ein Blog, dass die Geschichte nicht als Produkt, sondern als Prozess begreift;
  3. ein Wiki mit einer Momentaufnahme des vorhandenen Wissens
  4. Diskussion und Vernetzung mit laufenden Diskussionen über ein Thema.

Die fünfte Kompetenz, das Generieren von Aufmerksamkeit, basiert im Web ebenfalls auf Verlinkungen, so dass sich aus beiden Listen zusammen ein Kompetenzprofil des Linkjournalismus oder Online-Journalismus zusammenstellen lässt.

Ich habe damit begonnen, ein Spreadsheet aus beiden Listen zu erstellen, und durch die entsprechenden persönlichen Fähigkeiten und technischen Tools/Skills zu ergänzen.

Die Listen habe ich schon etwas erweitert; ich möchte die Tabelle zur Selbstverständigung und zur Diskussion der Kompetenzen benutzen, die wir am Studiengang vermitteln. Ich habe mich bewusst auf Online-Journalismus beschränkt; ich glaube, dass die Kompetenzen der Journalisten für Offline-Medien sich daraus ableiten lassen. Ich gehe davon aus, dass sich die Kompetenzen von Fachleuten für Online-PR (die wir an unserem Studiengang ebenfalls ausbilden) nicht von diesen Kompetenzen unterscheiden; Journalistinnen und PR-Leute brauchen zusätzlich natürlich noch ein berufsspezifisches institutionelles Wissen.

Es handelt sich um einen ersten Versuch. Das Dokument lässt sich unter diesem URL von Benutzern editieren, die bei Google eingeloggt sind.

Ich lese gerade Neue Wissensordnungen von Olaf Breidbach.

Im Unterricht verwende ich manchmal das Begriffstripel DatenInformationWissen, das wohl auf Russell L. Ackoff zurückgeht. Bisher habe ich immer versucht, alle drei in einer Art Linie zu verstehen, so wie sie etwa in dieser Grafik gezeigt werden. Nach der Lektüre der ersten Kapitel Breidbachs frage ich mich, ob diese Begriffe nicht eher zu unterschiedlichen Kategorien gehören, vor allem, ob man nicht Wissen als die Fähigkeit verstehen kann, mit gegenwärtigen und zukünftigen Informationen umzugehen. Wissen besteht dann nicht aus Informationen, sondern es basiert allenfalls auf ihnen. (Und Informationen sind nicht kontextualisierte Daten, sonderen Mitteilungen von Daten.)

Damit referiere ich nicht Breidbachs Wissensbegriff; Breidbach spricht vom Wissen als interpretierter Information.

Ich meine damit nicht, dass man Wissen schlechthin als eine Fähigkeit definieren kann, sondern dass ein solches Verständnis dieses Begriffs heute sinnvoll sein könnte. Ich gehe mit der These, dass Wissen in der Fähigkeit besteht, mit vergangenen und zukünftigen Informationen umzugehen, an die weitere Lektüre von Breidbachs Buch.

Wenn diese These sich aufrechterhalten lässt, dann würde sich ergeben, dass man Wissen nicht vermitteln kann, indem man nur Informationen weitergibt. Wissen ließe sich nur weitergeben, indem man auch Praktiken vermittelt, und wäre immer an die Aktivität der Menschen, denen man es vermittelt, verbunden.

Ein solcher Begriff von Wissen widerstrebt unserem alltäglichen Verständnis wenigstens auf den ersten Blick: Wir sagen, dass jemand viel weiß, wenn er viele Informationen über etwas hat, wenn er viel gelernt hat. Andererseits setzt man auch im alltäglichen Gebrauch wissen nicht damit gleich, über viele Informationen zu verfügen. Man würde nicht sagen, dass jemand, der ein komplettes Lexikon wiedergeben kann, viel weiß. Von wissen spricht man erst, wenn er die Informationen in neuen Situationen anwenden kann. Zum Wissen gehören wohl die Aspekte der Anwendung, des Neuen und der Situation oder Situiertheit. (Abgesehen vom sozialen Aspekt: Vielleicht kann man nur in einer Gruppe oder als Mitglied einer Gruppe etwas wissen.)

Mir ist klar, dass ich hier möglicherweise nur den Nordpol wiederentdecke. Aber im Alltag, für mich z.B. im Unterricht, ist es nicht unwichtig, sich diese Basics klarzumachen. Außerdem lässt sich durch eine Klärung des Begriffs Wissen möglicherweise verstehen, dass ein bloßes Mehr an Information nicht nur nicht zu einem Mehr an Wissen führt, sondern im Gegenteil die Entwicklung von Wissen als der Fähigkeit, die Informationen zu verarbeiten, behindern kann.

Heute nehme ich in Dieburg an der Tagung Zukunft Online-PR 2009. Zur Vorbereitung des Workshops RSS – Inhalte jenseits der Website zugänglich machen, den ich dort am Nachmittag moderiere, hier eine Mindmap:

(Direktes Linkzur Mindmap)

Als Diskussionsgrundlage habe ich fünf Thesen formuliert.

  1. Newsfeeds sind eine Form der Benutzer-zentrierten Content-Distribution. Sie unterstützen das Vendor Relationship Management bei Medien und gehören zu den Werkzeugen der PR jenseits der Massenmedien.

  2. RSS existiert schon lange, wird aber vor allem von Profis und Info-Junkies intensiv verwendet. Newfeeds sind ein wichtiges Tool vor allem für die Ansprache professioneller Zielgruppen.

  3. Die PR kann und sollte alle Anwendungsmöglichkeiten von RSS nutzen — außer dem Publish-Subscribe-Mechanismus auch das Aggregieren, Filtern und Mashing up von Feeds.

  4. Die PR kann und sollte das ganze Spektrum der Inhalte verwenden, die über Feeds verteilt werden können: außer Texten und Medien (Podcasts) z.B. auch Eventdaten und geografische Informationen.

  5. Newsfeeds gehören zum zweiten Layer der Publikationsformate im Web; sie erweitern das erste Layer (HTML) und funktionieren zusammen mit ihm. Ein drittes Layer, das von Twitter und XMPP repräsentiert wird, entsteht gerade und erlaubt das Live Web oder Real Time Web.

Mindmap und Thesen werde ich heute vielleicht noch erweitern; ich hoffe auf ein spannendes Gespräch.

In Frankreich hat die Zeitschrift Le Tigre einen Mann ohne seine Zustimmung porträtiert und dazu ausschließlich Daten aus Web-Diensten wie YouTube und facebook benutzt: Französischer Internetnutzer unfreiwillig in Zeitschrift porträtiert. Auf der Website der Zeitschrift findet sich in der Rubrik Portrait Google übrigens nur der Hinweis darauf, dass sich die Zeitschrift nicht an der medialen Aufregung über die Geschichte beteiligen wolle, und dass sie zwischen der realen Person (die offenbar gegen den Artikel geklagt hat) und einer medialen Kunstfigur unterscheide.

Mich interessiert hier nicht die reale Geschichte hinter der Meldung (sie hat offenbar auch die Medien wie den Standard nicht interessiert, die sich auf Agenturmeldungen verlassen haben und nicht einmal auf die Zeitschrift verlinken.) Mich interessiert das Publikumsinteresse, dem sie ihren Nachrichtenwert verdankt. Die Meldung bedient das dumpfe Unbehagen an Google, facebook usw., die in unsere Privatsphäre eindringen. Immer wieder höre ich von Bekannten, man müsse ja nicht alles veröffentlichen; zwei meiner Kollegen haben mich sogar gebeten, ihnen keine Mails via GMail zu schicken.

Ich bin mit diesem Thema (Datenschutz und Web 2.0) nicht fertig, und ich schreibe auch aus einem dumpfen Gefühl heraus: Ich habe den Eindruck, dass es vielen, die sich über Suchmaschinen und soziale Netze beklagen, gar nicht um Datenschutz geht, sondern darum, sich vor der unheimlichen Welt des Netzes zu schützen und möglichst lange bei den gewohnten Formen der Kommunikation und Publikation zu bleiben (so wie die Verlage, die das Netz über Jahre ignoriert haben und dann jammern, weil Google ihre Bücher digitalisieren will.)

Ich möchte drei Gedanken formulieren, die mir bei der Diskussion dieses Themas wichtig sind, und die sicher nicht ausreichen, um hier eine Position zu begründen:

  1. Wer im Internet publiziert, publiziert. Wer Facebook, Twitter oder irgendeinen anderen Service benutzt, um etwas über sich zu veröffentlichen, gibt weder ihnen noch anderen damit einen Zugang zu seiner Privatsphäre, sondern verlässt die Privatsphäre. Er oder sie muss sich genauso überlegen, wie er sich und andere schützt, wie es sich jeder Autor von Büchern immer schon überlegt hat. Es ist schlicht viel leichter geworden, etwas zu publizieren, aber natürlich bleibt es eine persönliche Entscheidung, Daten von sich bei diesen Diensten freizugeben.

  2. Web 2.0-Anwendungen bieten einen konkreten Nutzen, der ohne Publikation von Daten nicht zu haben ist. Es geht nicht darum zu entscheiden, ob man von irgendeinem Moment an keine Privatspäre mehr haben will, sondern darum, ob man selbst und andere von der Teilnahme an einem solchen Service profitieren. Bei allen Formen des Wissenaustauschs profitiert man eindeutig von diesen Möglichkeiten, und warum soll man nicht im Netz auch persönliche Beziehungen beginnen? Dazu muss man immer auch etwas von sich freigeben, nicht nur im Netz.

  3. Man kann den Risiken, die mit Web 2.0-Anwendungen verknüpft sind, nicht dadurch begegnen, dass man auf sie verzichtet. Es ist nicht nur eine Frage von Gesetzen, sondern eine Sache der Liberalität und Toleranz einer Gesellschaft, jedem die Möglichkeit zu geben, sich auch in einer provozierenden und ungewohnten Art zu äußern. Wenn Bewerber um Jobs benachteiligt werden, weil Party-Fotos von ihnen im Netz kursieren, gehören nicht facebook und StudiVZ in den Orkus, sondern die dafür verantwortlichen Personalabteilungen.

Ich will die Gefahren, die mit der Verarbeitung einer Unmenge von persönlichen Daten verbunden sind, nicht ignorieren. Ich bin strikt gegen die Versuche (etwa der deutschen Minister Schäuble und von der Leyen) den kompletten Datenverkehr zu überwachen — dahinter stehen totalitäre Phantasien. Aber ich bin auch dagegen, ensthaft über digitale Burkas zu diskutieren oder sie jungen Leuten zu empfehlen. Eine freie Gesellschaft lebt davon, dass ihre Mitglieder sich äußern und sich zeigen — ich möchte dazu ermutigen, statt davor zu warnen.

Durch Amy Gahrans Artikel über Useful Firefox Add-ons for Journalists bin ich auf einen nicht mehr ganz neuen Service aufmerksam geworden, der mir sehr nützlich vorkommt: Mit Rollyo kann man sich Suchmaschinen für eine bestimmte Gruppe von Quellen selbst zusammenbauen. Da ich mich gerade auf die Tagung Zukunft der Online-PR vorbereite, habe ich mir eine Suchmaschine gebaut, die vor allem Blogs meines Vertrauens zum Thema Online-PR durchsucht: Online PR Search Engine. Wer will, kann sie benutzen. Rollyo wirbt mit Customized Search Engines prominenter Autoren, so einer von Jeff Jarvis zum Media Buzz. Man kann sich für jede dieser Suchmaschinen ein Firefox-Search-Plugin anlegen und hat sie damit ständig im Browser zur Verfügung.

Je größer die Zahl der Seiten zu einem Thema wird, die von den großen Suchmaschinen indiziert werden, desto wichtiger dürften Dienste wie Rollyo werden. Ich habe zum Thema RSS und PR jedenfalls gleich einige interessante Ergebnisse erhalten.

Rollyo nimmt einem nur die Arbeit ab, selbst eine Reihe von Such-Operatoren zu verketten, aber das in einer sehr durchdachten und bequemen Weise. Die Ergebnisse liefert die Yahoo-Suche. Ähnliche Funktionen bietet zum Beispiel Lijit an, aber dort für ein bestimmtes Blog, dessen Blogroll sich ergänzend durchsuchen lässt.

[Mark Buzinkay hat Rollyo und ähnliche Angebote genauer beschrieben: Rollyo: individuelle Suchdienste ruck-zuck und Individuelle Suchdienste mit wenigen Handgriffen erstellt.]

Wenn man Ted Nelson fast nur indirekt kennt — als Erfinder des Ausdrucks Hypertext und als Sonderling, der nicht verwunden hat, dass das WWW viel primitiver ist als das von Nelson konzipierte System — ist man von Nelsons neuem Buch überrascht: Nelson weist zwar auch auf sich und seine Leistungen hin, aber nur sehr zurückhaltend und nicht im Detail. Wenn ich es nicht übersehen habe, ist z.B. von Transklusionen nur einmal die Rede. (Transklusionen gehören wie bidirektionale Links zum Hypertext im Sinne Nelsons.)

Cover des Buchs

Nelson will in diesem Buch nicht seine eigenen Theorien vorstellen, sondern er will zeigen, dass die Computerwelt, wie wir sie kennen — vom PC auf dem Schreibtisch bis zum WWW — historisch geworden ist, überall auf Entscheidungen zurückgeht, die oft politisch oder wirtschaftlich motiviert waren, und dass sie deshalb auch nur historisch zu erklären ist. Nelson schreibt witzig und für ein breites Publikum; sein Buch ist eine gute Einführung in die Geschichte des Computing. Schwierige Konzepte versucht er nicht populär zu erklären, sondern er weist nur auf sie hin. Die Leserin oder der Leser soll erkennen, dass nichts von dem, was uns heute im Computing selbstverständlich erscheint, natürlich und technisch notwendig ist; alles hätte auch anders kommen können, und auch heute ist die Zukunft offen.

Die Geschichte, die Nelson erzählt, beginnt mit der Einführung von Hierarchien:

Hierarchy is the official metaphysic of the computer world.

Die karolingische Minuskel (mit der Nelson die Einführung von URLs durch Tim Berners-Lee vergleicht) spielt in ihr eine ebenso wichtige Rolle wie die Erfindung von Satzzeichen und Lochkarten. Die Kapitelzählung beginnt im negativen Bereich mit dem Kapitel -27; erst mit Unix und dem Jahr 1970 ist das Kapitel 1 erreicht: Unix ist die Basis des heutigen Computing und des Internets. (Für Nelsons Xanadu ist das Kapitel -11 reserviert.) Mit Social Networks und Second Life ist im Kapitel 20 die Gegenwart erreicht: Auch bei ihnen handelt es sich, wie bei allen Schritten vor ihnen, um Konstrukte, nicht um quasi natürliche Realitäten.

Für mich hat Nelsons Methode etwas Nietzscheanisches: Er erzählt eine Genealogie, so wie Nietzsche die Genealogie der Moral erzählt hat. Erzählt wird von Phänomenen, denen sich nicht einfach ausweichen lässt, die man aber verdrehen, ironisieren und subvertieren kann, mit einer gaya scienza, die bei Nelson eine unfeierlich-nerdige Gestalt annimmt.

Den eigentlichen Reiz des Buchs macht die Fülle von Fakten, Beobachtungen und Reflexionen aus, oft aus der Perspektive eines Beteiligten oder eines persönlichen Bekannten der Beteiligten berichtet. Wenige Portraits in Nelsons Buch sind mit so viel Sympathie ausgeführt wie das von Richard Stallman, dem Gründer der Free Software Foundation und Erfinder von GNU/Linux.

Viele Schüler und Studenten bekommen durch Bücher wie Weischedels Philosophische Hintertreppe einen Zugang zur Philosophie. Ich kann mir vorstellen, dass durch Nelsons Buch auch Nichtinformatiker einen Zugang zum Computing als sozialem und historischen Phänomen erhalten. Dabei wird ihnen ein kritischer, aber nicht verbitterter Blick auf die Geschichte vermittelt — und die Lust daran zu zeigen, dass die Metaphysiken der Hierarchie nicht unausweichlich sind.

Ich wollte heute über die neue Site des Weißen Hauses schreiben, aber es ist darüber schon so viel publiziert worden, dass es mir noch nicht gelungen ist, die interessantesten Posts zu der Site auch nur zu lesen. Da ich nicht naiv drauflosschreiben möchte, hier vor allem ein paar Hinweise.

Trotzdem kurz meine persönliche Meinung: Ich finde wie Dave Winer die Site enttäuschend. Vom Anspruch auf Wechsel ist nicht viel zu merken. Man kann nicht kommentieren, und man kann auch nicht anders teilnehmen. Winer hat recht, wenn er schreibt, dass vor dem Auftritt ein Schild mit der Aufschrift Bitte warten! zu hängen scheint, und wenn er von corporate cowardice (das könnte man mit Firmen-Feigheit übersetzen) spricht.

Mich stört am meisten, dass die Site nicht aktuell ist. In den ORF-Nachrichten heute habe ich wesentlich mehr über den ersten Tag Obamas im Amt erfahren als auf der Site des Präsidenten. Das ist schwer zu begreifen.

Allerdings wird schon angekündigt, dass Gesetzesvorhaben auf der Site diskutiert werden sollen:

One significant addition to WhiteHouse.gov reflects a campaign promise from the President: we will publish all non-emergency legislation to the website for five days, and allow the public to review and comment before the President signs it [The White House – Blog Post – Change has come to WhiteHouse.gov].

Offenbar hat ein neues Team die Site erstellt, nicht die Agentur, die noch hinter Change.gov. stand (siehe das unten verlinkte Post von Tim O’Reilly). Vieles ist nicht fertig, nicht einmal das Registrierungsformular. Dass die Site mit Microsoft-Software betrieben wird, trägt irgendwie zu dem Eindruck bei, dass es sich um eine Auftragsproduktion handelt und nicht um ein Kommunikationsmittel.

Reaktionen auf die neue Site

Die treffendste Analyse stammt aus meiner Sicht von Dave Winer — The White House website:

But whitehouse.gov violates the most basic rule — „People come back to places that send them away.“ The White House should send us to places where our minds will be nourished with new ideas, perspectives, places, points of view, things to do, ways we can make a difference. It must take risks, because that is reality — we’re all at risk now — hugely.

Winer verweist auf die Artikel bei Spiegel Online (ausführlich, viele weitere Quellen) und in der New York Times, die wiederum einige interessante Stimmen zitiert.

Positives Feedback gibt es von Tim O’Reilly:

Not only did the Web 2.0 principles of user-engagement, viral outreach, rapid development, and real-time intelligence help Obama to win the presidency, he’s bringing the same principles and the same team to manage his outreach during his time in office [change.gov Becomes whitehouse.gov – O’Reilly Radar].

Jason Kottke hat sofort festgestellt, dass — im Gegensatz zum bisherigen Auftritt — alle Inhalte für Suchmaschinen zugänglich sind: The country’s new robots.txt file.

Ein Signal der Veränderung ist es übrigens, dass sich die Mainstream-Medien sofort mit der neuen Site beschäftigten. Als Mittel der Repräsentation von Politik hat das Web die anderen Medien inzwischen eingeholt.