Wie viele Webnutzer fürchte ich, nicht satt zu werden. Ich verfolge weit mehr Quellen — meist Newsfeeds und Life-Streams —, als ich verdauen kann. Trotzdem erinnere ich mich selten an einen neuen Geschmack, dafür aber an viel Fades: Blogger, Journalisten und Akademiker kochen fast immer nach denselben Rezepten und geben sich zufrieden, wenn die Gäste nicht rebellieren. Der organische Intellektuelle ernährt sich von Fastfood und Hausmannskost.

Martin Lindner hat mir gestern eine Küche gezeigt, in der eine neue und exakte Verarbeitung Eigenschaften gewöhnlicher Zutaten betont, die bisher niemand herausschmeckte. Venkatesh Rao analysiert in einem langen Post die Rhetorik des Hyperlinks, das er als Wasserstoffmolekül der Information bezeichnet. Rao fragt, welche Rolle Links bei der Konstruktion der Bedeutung eines Texts haben. Ich will seinen komplexen und anspielungsreichen Beitrag hier nicht referieren oder zusammenfassen, dazu muss ich noch mehr über ihn nachdenken. Wer sich dafür interessiert, was Hypertext ist, sollte ihn lesen. (Ich werden ihn beim Unterrichten des Schreibens für das Web sicher als einen Basistext benutzen.) Ich will hier nur drei Gedanken oder Themen hervorheben:

  1. Rao unterscheidet scharf zwischen Hyperlinks und herkömmlichen Verweisen in gedruckten Texten. Mit einem Link kann man auf eine Quelle verweisen, also zitieren, man kann aber auch auf ganz andere Informationen zeigen. Links vermischen Stimme, Figur und Grund, sie öffnen die Texte, geben dem Leser die Möglichkeit, eigene Wege in oder zwischen verschiedenen Texten einzuschlagen und heben letztlich die Einheit des Textes auf, lassen alle Texte zu einem werden.

  2. Rao begründet, warum Links zu einer eigenen Rhetorik von Hypertexten führen. Sie bilden nicht nur eine Zusatzschicht neben oder über anderen Textebenen. Dass sich eine verlinkter Text anders auf seinen Kontext bezieht als ein nicht verlinkter Text, drückt sich auch auf der sprachlich-stilistischen Ebene aus. Der Satz Amitabh stared grimly from a tattered old Sholay poster, ist z.B. für einen nicht-indischen Leser nur mit Zusatzinformationen zu entschlüsseln, die gedruckt anders (durch Kommentierungen und Erläuterungen) gegeben werden müssen als es im Web möglich ist, wo man schreiben kann: Amitabh stared down grimly from a ratty old Sholay poster. (Ich sage das hier sehr trocken; Rao führt es mit Beispielen, farbig und spannend aus.)

  3. Rao zeigt — quasi nebenbei — dass der Leser, wenn er einen Text im Web versteht, sich bei der Konstruktion der Bedeutung anders auf den damit verlinkten Autor bezieht als bei gedruckten Texten. Online-Profile des Autors beeinflussen z.B., wie dessen Blogposts interpretiert werden — und umgekehrt.

Eine wichtige Konsequenz dieser Überlegungen: Das Web ist nicht ein Metamedium, also eine Plattform für Text, Bild, Ton und andere Medien, sondern ein eigenes Medium, dessen Grammatik aud den verschiedenen Typen von Links besteht, die in ihm möglich sind.

Für die Analyse könnte der Ansatz Raos bedeuten, dass man für das Web charakteristische Phänomene als als spezifische Formen von Verlinkung oder zumindest als daran gekoppelt beschreiben kann (Web-Wissenschaft als Link-Wissenschaft). Online-Reputation ließe sich dann als Bedeutungkonstrukt erfassen, das von der Verlinkung von Online-Profilen, persönlichen Äußerungen z.B. in Blogs und einem transparenten sozialen Netzwerk abhängt. Auch für die Formate des Online-Journalismus sind Linktypen charakteristisch, durch die z.B. Blogposts, Wikis, Bookmarks und Foren aufeinander bzw. auf einen Topic bezogen werden. Die verschiedenen Formate von Microcontent (Blogs, Wikis, Microblogs) sind unterschiedliche Formen der Entwicklung von Text um Links herum.

Praktisch heisst das: Man führt in die Kommunikation im Web ein, indem man den Umgang mit Links lehrt. Das hört sich sehr bescheiden an — aber nur so lange, wie man Links als technische Phänomene und nicht als soziale Beziehungen begreift.

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