Über Thomas Pleil bin ich auf Jean-Pol Martin gestoßen, der die Theorie des Lernens durch Lehren entwickelt hat. (Ich glaube, dass wir an der FH an seine Arbeiten anschließen können, wenn wir uns mit Network Literacies beschäftigen.) In der Wikiversity beschreibt Martin, was er unter Netzsensibilität versteht — Regeln oder Muster dafür, im Netz Beziehungen zu Mitarbeitern und Mitstreitern aufzubauen. Sie sind alle zu beherzigen (und ich nehme mir vor, mich selbst besser nach ihnen zu richten). Jean-Pol Martin hat sie so konzis formuliert, dass man sie kaum zusammenfassen kann.

Hier nur die erst dieser Regeln; durch sie bin ich in meinem Feedreader auf den Text aufmerksam geworden:

Mach dich transparent: liefere in deinem Profil möglichst viele, für den Benutzer spannende Informationen über dich. Je mehr Informationen du über dich gibst, desto größer die Chance, dass jemand einen Ansatzpunkt zur Zusammenarbeit entdeckt. Angst vor Missbrauch der Angaben ist meistens unbegründet. No risk, no fun!

Martin formuliert hier einen entscheidenden Punkt. Im Netz kommunizieren Menschen miteinander, die als Individuen, mit ihren Wünschen, Vorlieben und Geschichten interessanter sind als die Firmen und Gruppen, zu denen sie gehören. Ich muss mich im Netz nicht hinter einer Institution verstecken oder den Regeln eines Verlags anpassen, um zu publizieren, und ich möchte dort auf Menschen treffen, die sich selbst nicht verstecken. Die interessantesten Texte im Web stammen von Autoren, die sich als Personen zeigen. (Für mich waren das in der Anfangszeit des Bloggens Dave Winer, Jeffrey Zeldman und Jörg Kantel.)

Man muss sich im Netz nicht entblößen, und man kann mit Identitäten spielen. Will man Menschen anspricht muss man ihnen aber signalisieren, welche Beziehung man zu ihnen möchte, und was und wieviel von sich man in diese Beziehung stecken will. Es geht um Angebote, nicht um einen Ausverkauf.

Anmerkung: Mit Kolleginnen bin ich dabei, ein Programm für die Forschung und Entwicklung in meinem Arbeitsbereich an der FH Joanneum zu formulieren. Wenigstens provisorisch möchte ich ihm den Titel Netzwerkkompetenz oder Network literacies geben. Wie vermittelt man besten die Fähigkeit, mit sozialen Medien umzugehen, mit ihnen Ziele zu erreichen und sie mit einem Lebensstil zu verbinden? Ich brauche dieses Wissen für meinen Unterricht, es lässt sich vielleicht auch in anderen Bereichen der Hochschule, an der ich arbeite, verwenden, und wir können es Unternehmen und Organisationen anbieten.

Eine Reflexion über einen Teil meines Jobs — das Betreuen von Diplomarbeiten. Unabgeschlossen und wahrscheinlich nicht sehr interessant für Leute, die nicht ähnliche Probleme haben:

Gestern abend habe ich mich mit fünf Studentinnen und Studenten getroffen, deren Diplomarbeiten ich in diesem Jahr betreue. Ich unterrichte erst seit wenigen Jahren an einer Fachhochschule, die Betreuung von Diplomarbeiten gehört zu den Teilen meiner Tätigkeit, die mir die meisten Schwierigkeiten bereiten. Diplomarbeiten können an unserem Studiengang (Journalismus und Unternehmenskommunikation) als Werkstücke oder als wissenschaftliche Arbeiten angefertigt werden. Auch Werkstücke sollen einen wissenschaftlichen Teil enthalten. Mit diesem wissenschaftlichen Anspruch komme ich nicht recht klar. Welche Wissenschaft unterrichten wir? Welche Rolle spielt die Wissenschaft in einem transdisziplinären, praktisch orientierten Studiengang? Wie schützen wir uns vor Dilettantismus und davor, Wissenschaftlichkeit auf Zitier- und Bibliographierregeln zu reduzieren? (An unserem Studiengang wurden einige Diplomarbeiten geschrieben, die das Niveau guter geisteswissenschaftlicher Abschlussarbeiten haben. Sie waren aber vor allem das Ergebnis der Fähigkeiten und Interessen — und z.T. auch der akademischen Vorbildung — ihrer Autorinnen und Betreuerinnen, und nicht eine direkte Folge der Ausbildung, die wir vermitteln.)

Wir bilden Journalisten und PR-Leute aus. Diese Ausbildung ähnelt eher einer Lehre als dem Erlernen einer wissenschaftlichen Disziplin. Es geht um Praxis, allerdings um eine Praxis, die so komplex und wissensintensiv ist, dass man sie on the job nur schwer erlernen kann — bzw. dass in einem Unternehmen der Freiraum fehlt, sich das erforderliche Wissen anzueignen.

Wenn man Schauspieler oder Regisseure ausbildet, unterrichtet man sie nicht in Theaterwissenschaft. (Auch wenn ihnen theaterwissenschaftliche Kenntnisse selten schaden.) Unseren hochschulischen Anspruch können wir nicht damit begründen, dass wir eine oder sogar mehrere Wissenschaften unterrichten. Als These würde ich formulieren: Hochschulisches Niveau erreichen wir vor allem durch stringente Argumentationen, die sich in unserem Fall auf die Praxis in Journalismus, PR, sozialen Medien beziehen. Die Ausbildung, die wir anbieten, wird akademischen Ansprüchen gerecht, wenn sie systematisch die Fähigkeit entwickelt, argumentativ zwischen besserer und schlechterer Praxis, zwischen Möglichkeiten und Realität zu unterscheiden. Außerdem müssen wir unseren Studenten die Fähigkeit vermitteln, sich Wissen ständig neu anzueignen und Wissen auszutauschen — auch darin dürfen wir hinter einer universitären Ausbildung in einer wissenschaftlichen Disziplin nicht zurückbleiben.

Was bedeutet das für die Wissenschaftlichkeit von Diplomarbeiten in unseren Fächern? Ich finde, die Diplomarbeit sollten (soweit sie nicht als Werkstücke praktische Fähigkeiten demonstrieren) vor allem zeigen, dass die Absolventen die Qualität praktischer Arbeiten begründet beurteilen, kritisieren oder auch verteidigen können. Solche Argumentationen können an ethischen oder auch einfach an wirtschaftlichen Zielen orientiert sein, sie können wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden einbeziehen, wo es für die Beurteilung von praktischen Arbeiten wichtig ist. Sicher arbeite ich mit Unbekannten, wenn ich von stringenten Argumentationen spreche. Ich glaube aber, dass es sich leichter klären lässt, welches argumentative Niveau von einem Absolventen erwartet werden kann, als zu definieren, worin die Wissenschaftlichkeit einer Arbeit bestehen könnte.

Obwohl es leichter ist, im Web als gedruckt zu publizieren, sind die Webauftritte vieler Unternehmen und Organisationen weniger aktuell als ihre Printpublikationen. Oder sollte es eher heißen: weil es leichter ist? Webpublikationen von Organisationen leiden an umgekehrtem Informationsüberfluss. So viele und so unterschiedliche Informationen gehören ins Netz, dass sie sich nicht an einer Stelle kanalisieren lassen. Das Resultat ist, dass so gut wie überhaupt nicht publiziert wird.

Jon Udell spricht vom pattern of shared responsibility, einem Muster der geteilten Verantwortung Umfangreiche Publikationsaufgaben lassen sich leichter, vielleicht sogar nur bewältigen, wenn sie aufgeteilt werden. Udells Beispiel ist der Kalender seiner Stadtbücherei. Niemand hat den Überblik über alle Events, die dort stattfinden. Ein einzelner kann aber leicht die Verantwortung für einen bestimmten Typ von Informationen übernehmen. Technische Lösungen — bei Udell geht es um Mashups — sorgen dann dafür, dass die Informationen zusammengetragen werden. Man kann auch von organisationsinternem Crowdsourcing sprechen — aber vielleicht ist dieser Ausdruck zu geschwollen.

Jedenfalls spricht viel dafür, die Verantwortung für die Webauftritte von Organisationen nicht an einzelne Personen oder Abteilungen zu delegieren. Pflegt eine Stelle den Webauftritt, fühlen sich alle anderen entlastet und informieren nicht von sich aus. Der Auftritt der Organisation sollte sich eher — eben als oder wie ein Mashup — aus den Informationsströmen der einzelnen Mitarbeiterinnen und Abteilungen ergeben. Damit gelangen nicht nur mehr Informationen auf die Website, man gibt den Benutzerinnen auch weitaus mehr Möglichkeiten, sich die Informationen herauszusuchen, die sie wirklich interessieren.

(Ich tagge dieses Posting mit eContentPro. Das ist der Titel eines Projektes, an dem unser Studiengang beteiligt ist. Ziel ist es, die Kompetenz kleiner und mittlerer Unternehmen zur Kommunikation im Web zu erhöhen.)

Im Vorfeld des PolitCamps möchte ich auf Clay Shirky hinweisen, dessen begriffliches Instrumentarium die politischen Konsequenzen des Internets sehr gut begreifbar macht: Shirky analysiert die Folgen des Netzes für die Handlungen von Gruppen und kommt zu dem Ergebnis, dass das Internet kollektive Handlungen (collective actions) in einem Ausmaß erleichtert, das es in der Geschichte nie gegeben hat.

Im April ist Shirky Buch Here Comes Everybody: The Power of Organizing Without Organizations erschienen. Über diesen Text (ich habe ihn selbst noch nicht gelesen) ist bisher in der Blogosphäre eher wenig zu finden. Über zentrale Thesen informieren eine Rezension (einschließlich eines langen Interviews mit Shirky) auf Arstechnica und dieses Video (in besserer Qualität hier) mit einem Vortrag Shirkys im Berkman Center der Harvard University:

In dem Vortrag im Berkman Center unterscheidet Shirky vier Formen von Gruppenbildung, die das Internet unterstützt:

  • Teilen (sharing)
  • Unterhaltung (conversation)
  • Zusammenarbeit (cooperation)
  • Kollektives Handeln (collective action)

Für Teilen, Unterhaltung und Zusammenarbeit finden sich im Netz heute jede Menge Beispiele. del.icio.us zeigt, wie Informationen im Netz geteilt werden können, zur Unterhaltung fällt einem sofort die Blogosphäre, zur Zusammenarbeit die Wikipedia ein. Die Zeit des webgestützten kollektiven Handelns beginnt für Shirky gerade erst. Das Web macht gemeinsame Aktionen lächerlich einfach, wie er sagt. Gesellschaft und politische Institutionen stehen damit vor einem fundamentalen Wandel.

Shirky bringt zwei Beispiele für erfolgreiche kollektive Aktionen, die über das Web organisiert wurden: Die Koalition für eine Bill of Rights der Fluggäste hat es in wenigen Monaten geschafft hat, dass im Staat New York ein entsprechendes Gesetz verabschiedet wurde (mehr dazu hier). In Palermo setzt sich die Zivilgesellschaft mit Addiopizzo weit wirksamer als bisher gegen die Mafia zur Wehr.

Für Shirky entfalten Techniken ihre gesellschaftlichen Konsequenzen erst, wenn sie langweilig geworden sind; dieser Moment sei beim Internet erreicht:

As the Internet radically reduces the costs of collective action for everyone, it will transform the relationship between ordinary individuals and the large, hierarchical institutions that were a dominant force in 20th-century societies [Arstechnica].

Shirkys Verständnis der kollektiven Aktion ist sicher einen Essay wert (zu dem ich hoffentlich komme, wenn ich das Buch tatsächlich gelesen habe): Der Begriff des kollektiven Handelns stammt aus der soziologischen und volkswirtschaftlichen Tradition; er wird z.B. auch von Howard Rheingold verwendet, um die Bildung von Gruppen im Internet zu erklären; er ist wie der Begriff des sozialen Netzes ein Schlüsselkonzept für einen kritischen Diskurs über das Web. Beim Politcamp könnte man ausgehend von diesem Begriff zwei Fragenkomplexe angehen:

  1. Welche neuen Formen des politischen kollektiven Handelns werden durch das Internet möglich? Welche Beispiele für sie gibt es? Welche Techniken lassen sich dabei verwenden? Wie werden sie sich auf die Gesellschaft auswirken? In welcher Beziehung stehen sie zu älteren Formen kollektiven Handelns jenseits der politischen Institutionen z.B. Bürgerinitiativen?

  2. Wo können oder müssen die bestehenden politischen Institutionen durch webbasierte kollektive Aktionen verändert werden? Wo verdienen sie erhalten zu werden, wo nicht? Was bedeutet politische Professionalität in Zeiten des Internets? Wie verändert sich das Verhältnis von Politik und Medien, wenn prinzipiell alle Informationen allen Bürgerinnen im Web zugänglich gemacht werden können? Haben die Parteien in einer Internetdemokratie noch eine sinnvolle Funktion?

Wenn Shirky Recht hat, wenn die Zeit des kollektiven Handelns im Web beginnt, findet unser Politcamp zum richtigen Zeitpunkt statt. Wir sollten die Gelegenheit nutzen und ohne Tabus fragen, welches Veränderungspotenzial das Netz für die Politik hat.

An die Stelle der Presse tritt die Presse-Sphäre. Nicht die Journalisten organisieren die Welt der Nachrichten, sondern die User. Internetbenutzer wählen ihre Quellen selbst aus: von Blog-Postings und Pressaussendungen über Nachrichten-Sites bis zu Fotos bei flickr und Videos auf YouTube.

In wenigen Absätzen und mit ein paar Grafiken zeichnet Jeff Jarvis ein Bild des state of the news media. Er blendet von der Totale — dem Blick auf das neue, globale Medium WWW — auf das Detail hinunter: die einzelne Story. Sie wird im Web zu so etwas wie Umberto Ecos offenem Kunstwerk: Nicht Seitenzuteilungen oder Sendezeiten legen ihren Anfang und ihr Ende fest, sondern die Aufmerksamkeit der Leser. Nicht eine Journalistin oder ein Journalist schreibt die Geschichte; sie wird von vielen Urhebern verfasst und fortgesetzt. Jeder Kommentar, jedes del.icio.us-Link verändert sie.

Jarvis beschreibt die Konsequenzen des Hypertext für den Journalismus, auch wenn er weder Links noch HTML erwähnt. Die hypertextextuellen Strukturen, die Verlinkungen und Verlinkungsmöglichkeiten machen den qualitativen Unterschied zwischen Online- und Offline-Medien aus. Durch Links, die weltweit beobachtet und nachvollzogen werden können, greifen die User in die Geschichten ein und ermögliche es anderen, an ihre Versionen einer Geschichte anzuschließen.

Buzzmachine bleibt für mich das wichtigste Journalismus-Blog. Es sind es nicht Jarvis‘ Thesen, die sein Blog interessant machen, sondern Jarvis‘ Perspektive und seine polyphone Schreibweise, die die Vielstimmigkeit des Webs aufnimmt. Um meinen Studenten zu erklären, warum das Web den Journalismus verändert, werde ich in den nächsten Semestern Jarvis‘ Posting zitieren.

Ein Hinweis auf Eric Altermans Out of print: Alterman reflektiert die Krise der Print-Zeitungen in den USA, deren dramatisches Ausmaß wöchentliche Hiobsbotschaften auch den professionellen Gesundbetern deutlich machen. Ein Viertel der Stellen in den amerikanischen Zeitungen ist seit 1990 verschwunden. Seit Ende 2004 sank der Börsenwert der New York Times um 54%. Nur 19% der 18-34jährigen Amerikaner lesen nach eigenen Aussagen Tageszeitungen. Der Durchschnittsleser ist über 55. Schon seit 2004 stehen Zeitungen bei jungen Amerikanern am letzten Platz der Nachrichtenmedien, weit abgeschlagen hinter dem Internet. Nur 8% dieser Altersgruppe verlassen sich noch auf Zeitungen.

Diese dramatischen Zahlen sind für Altermans Artikel nur der Ausgangspunkt. Er stellt fest, dass die Zeitungen auf die Krise vor allem reagieren, indem sie sparen, Stellen streichen und die Inhalte reduzieren — es den Lesern also noch mehr erleichtern, auf dieses Medium zu verzichten. Alterman stellt den klassischen Qualitätszeitungen einerseits die Online-Zeitung Huffington Post gegenüber, die in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Nachrichtenmedien geworden ist. Sie arbeitet mit wenig Personal, verlässt sich auf Links zu anderen Nachrichtenquellen und vielfach auch einfach auf Tratsch im Netz. Andererseits erwähnt er den investigativen, communitygestützten Online-Journalismus im Stil von Talking Points Memo.

Man kann Altermans dichten Artikel schwer resümieren. Er interpretiert die aktuelle Situation vor dem Hintergrund der Geschichte des Journalismus in den USA; auch deshalb ist er für Leser diesseits des Atlantik sehr aufschlussreich. In amerikanischen Medienblogs löste er eine kleine Lawine von Verlinkungen aus.

Interessant ist die idealtypische Gegenüberstellung zweier Modelle der Funktion des Journalismus, von denen eines auf Walter Lippmann, das andere auf John Dewey zurückgeht. Für Lippmann ist der Normalbürger nicht dazu in der Lage, politischen und sozialen Entwicklungen kompetent zu folgen. Objektive Information ist eine Sache professioneller Eliten, die ihrerseits auch nur Eliten erreichen. Lippmanns intelligence buraus sind der Idealtyp der Redaktionen von Qualitätsmedien, die den Anspruch erheben, umfassend und objektiv zu informieren und dabei strikt zwischen Bericht und Information zu unterscheiden. Für John Dewey vergessen die Anhänger dieses Modells, dass auch die informierten Eliten Interessen vertreten und die Wirklichkeit interessengebunden wahrnehmen — wobei sich übrigens die Interessen der politischen Eliten und der Eingeweihten, die über diese Eliten informiert sind und informieren, überlappen. Dewey steht für ein Modell des Journalismus, das die öffentliche gesellschaftliche Debatte in den Vordergrund stellt. Sehr, vielleicht zu sehr vereinfacht gesagt, stirbt für Alterman mit der gedruckten Qualitätspresse das an Lippman orientierte Modell des Journalismus; in der Blogosphäre siegt Deweys Konzept der öffentlichen Debatte.

Alterman schließt nicht mit Antworten, sondern mit Fragen: Was wird aus der Demokratie, wenn sich nicht länger investigative Journalisten um versteckte oder unerschlossene Quellen bemühen, so dass sie den debattierenden Lesern überhaupt erst sagen können, was diese wissen müssten? Was wird aus verfolgten Aktivisten ohne eine mediale Öffentlichkeit, die sie schützt? Wie lassen sich katastrophale gesellschaftliche Entwicklungen verhindern, wenn sie nicht mehr von einer Armee professioneller Reporter beobachtet werden?

Altermans Perspektive ist die der Qualitätsmedien des letzten Jahrhunderts, nicht die eines media hackers (Dave Winer). Er nimmt an den Internetmedien wahr, was sie mit den älteren journalistischen Medien vergleichbar macht: das Verhältnis zu den Quellen, die Beziehungen zwischen Bericht und Meinung, Darstellung und Diskussion. Er schreibt nicht über die technische Realtät der neuen Medien, über die Infrastruktur des Web, über die Funktion von Verlinkungen und die technisch ermöglichte Verbreitung von Nachrichten in sozialen Netzen. Hier könnte eine Diskussion seines Aufsatzes ansetzen, die Altermans dystopische Wahrnehmung des Endes des Printjournalismus in Frage stellt, ohne euphorisch was fällt, das soll man stürzen zu rufen.

(Zur Debatte zwischen Lippmann und Dewey habe ich diese kurze Darstellung gefunden.

Mark Canter beschäftigt sich in einem langen Posting mit dem, was er mesh nennt: einer Infrastruktur, mit der die User alle Daten, die mit der eigenen Identität und den eigenen Beziehungen zusammenhängen, aggregieren, organisieren und kontrollieren können. Canters Ziel ist ein offenes, standardisiertes, nicht proprietäres System, das es jedem User erlaubt, uneingeschränkt über die eigenen Daten und ihre Freigabe zu verfügen. Er kündigt eine Serie mit Vorschlägen zu diesem Thema an; in diesem ersten Posting gibt er einen Überblick über die aktuelle Situation, die verschiedenen Standards und (meist proprietären) APIs von Twitter bis OpenSocial. Wichtig und plausibel ist, dass die übergreifenden Fragen des Identitäts- und Beziehungsmanagements in fast allen aktuellen Web-Applikationen und Applikationstypen gemeinsam und direkt angegangen werden müssen. Eine Grafik Canters zeigt, wie das digitale Universum einer Person in diesem mesh organisiert sein könnte:

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Die Grafik macht vielleicht am schnellsten deutlich, worum es Canter in seinem dichten und komplexen Posting geht, sie ersetzt die Lektüre natürlich nicht.

Ich bin sicher, dass sich ein großer Teil der Entwicklung des Web in den kommenden Jahren um die Fragen drehen wird, die Canter formuliert. Vermutlich werden dabei auch viele seiner Antworten aufgegriffen werden. Es kommt mir übrigens so vor, als würden sich diese Initiative und die Linked Data-Initiative von Tim Berners-Lee in dieselbe Richtung bewegen.

Tim Berners-Lee ist in der Times grotesk falsch wiedergegeben worden und korrigiert den Bericht in seinem Blog. Dabei erwähnt er den Media Standards Trust, eine Organisation, die Qualitätsstandards bei Nachrichten durchsetzen will. Diese Organisation versucht gemeinsam mit der Web Science Research Initiative Standards für objektive Berichterstattung formal zu definieren. Das bedeutet, dass eine Reportage (maschinenlesbar in einem RDF-Statement) die Information enthalten würde, dass es sich bei ihr um einen Augenzeugenbericht handelt, oder die Matadaten eines Fotos die Auskunft geben könnten, dass es beschnitten, aber sonst nicht bearbeitet wurde.

Wenn diese Initiative Erfolg hat, könnte sie für den Journalismus (oder Postjournalismus) im Web viel bedeuten. Es wäre zum Beispiel möglich, über die Grenzen von Sites hinweg Originalquellen mit anderen Informationen automatisch zu verknüpfen. Man kann sich einen völlig anderen Workflow vorstellen, als er bis jetzt noch in Verlagen üblich ist.

Natürlich können solche Metadaten gefaked sein. Aber das unterscheidet sie nicht von allen anderen journalistischen Produkten. In jedem Fall machen sie es leichter, den Wahrheitsanspruch des Materials zu überprüfen und seine Entstehung nachzuvollziehen.

Mehr zu der Initiative hier.