Wir starten im Herbst einen Bachelor-Studiengang Journalismus und PR. Darin bin ich für das Gebiet Web zuständig — zusammen mit Karin, die uns international vernetzt und sich mit didaktischen Themen beschäftigt, und hoffentlich oft im team teaching mit Boris, Maria und anderen Kollegen. Als ich vor ein paar Jahren begonnen habe, an der Fachhochschule zu unterrichten, bin ich aus der Praxis in die Lehre hineingestolpert. Jetzt haben wir eine Chance, etwas systematischer zu überlegen, was unser Unterricht soll und wie wir ihn anlegen.

Die Studenten haben drei Jahre Zeit, von denen sie ein halbes im Praktikum sind. Für das Thema Web stehen in den ersten Semestern ein paar Stunden zur Verfügung; im letzten Semester ist es dann möglich, sich auf Soziale Medien zu spezialisieren — als Alternative zu Journalismus oder PR. Das ist nicht sehr viel Zeit, und den größten Teil des Studiums werden sich die meisten mit älteren Medien und den herkömmlichen Formen der PR beschäftigen. Ein Teil wird nach dem Abschluss weiterstudieren, alle sollten nach dem Examen darauf vorbereitet sein, in der Medienbranche zu arbeiten. (Natürlich müssen wir alle Themen crossmedial unterrichten. Aber Spannungen, Debatten zwischen den Vertretern alter und neuer Medien sind lehrreicher als künstliche Harmonisierung.)

Was müssen die Studenten wissen? Was sind die wichtigsten Themen? Klar ist, dass es nicht vor allem um Faktenwissen gehen kann, das funktioniert schon quantitiv nicht, und die meisten Fakten, die man ihnen beibringen könnte, sind ohnehin schon in ein paar Jahren veraltet. Der Satz

life is not about stuff; it’s about possibilities

gilt ganz sicher für jede Art von Bildung oder Ausbildung.

Ich suche nach einer Formulierung (einem mission statement oder einer Leitlinie), die unterschiedliche Ansprüche erfüllt:

  1. Die Studenten müssen sie verstehen, und zwar so, dass sich ihr möglichst viel von dem, was wir in unserem Unterricht machen, zuordnen lässt.

  2. Sie muss sowohl für den Journalismus wie für die Unternehmenskommunikation gelten.

  3. Sie muss gültig sein, auch wenn alle hergebrachten Begriffe von Professionalität im Medienbereich in eine Krise geraten sind.

Als allgemeinste Zusammenfassung unserer Ziele fällt mir ein: den Studenten beibringen, wie sie mit den Mitteln des Web Mehrwert für ihre Leser oder User erzeugen. Das klingt nach langweiliger Unternehmenspräsentation. Vielleicht könnte ich auch sagen: den Studentinnen beibringen, wie man die Leser mit den Mitteln des Web so informieren und unterhalten kann, dass sie wiederkommen, dass sie der Autorin oder dem Medium, in dem sie schreibt, die Treue halten. Im Kern ist das eine uralte Zielsetzung. Nur die Mittel sind neu. Die Leserinnen oder Userinnen sollen etwas von dem haben, was ihnen Journalisten oder Unternehmenskomunikatoren bieten, und Professionalität besteht zu einem großen Teil darin, zu wissen, wie sie möglichst viel davon bekommen.

Ganz zufrieden bin ich mit der Orientierung am Mehrwert nicht — aber ich werde daran weiterdenken, bis ich auf eine prägnantere oder präzisere Formel stoße. Vielleicht fällt ja den Studierenden eine ein?

Meine Arbeit bestünde dann übrigens zu einem guten Teil darin herauszufinden, wo und wie sich mit den Mitteln des Web die Qualität von Nachrichten (im allerweitesten Sinn) verbessern lässt, und noch mehr darin, die Studentinnen anzuregen, das selbst zu entdecken. Ein interessanter Job — ich wünsche mir keinen anderen.

Besser als Michael Sippey kann man kaum sagen, was Social Media Literacy ist:

In short, "media literacy" was focused on creating smarter media consumers; understanding how media’s produced and distributed, the biases behind it, etc. (See also deconstructionism, etc.) "Social media literacy," on the other hand, needs to be focused on creating smarter media producers, who understand the ramifications of a hyper-connected zero-cost-of-distribution world. [this is sippey.typepad.com: jason fortuny and social media literacy]

Eine Kollegin hat mir vor einiger Zeit Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein geliehen; gestern habe ich das Buch zum ersten Mal zuende gelesen. Man kann es kaum referieren. Fast jeder hat außerdem bereits gelesen, wie Watzlawick die Paradoxien der Kommunikation beschreibt. Aber man kann sich fragen, wo man selbst dafür sorgt, unglücklich zu bleiben — getreu der Devise des Polonius im Hamlet, die Watzlawick zu Beginn zitiert:

Dir selbst sei treu!

Als Web-User kann man auf Arten und Weisen unglücklich sein, die einem mit anderen Kommunikationsmitteln nicht gelingen oder nicht gelungen sind. Der eigene Anteil ist allerdings nicht leicht zu erkennen, denn man trägt am wirkungsvollsten zu seinem Unglück bei, wenn man tut, was man tut, weil die Wirklichkeit so ist, wie sie ist.

Ich habe zum Beispiel selbst immer schon die Neigung gehabt, erst dann etwas selbst zu machen oder zu schreiben, wenn ich alle zu einem Thema verfügbaren Quellen kenne und mich so umfassend wie möglich informiert habe. Bevor ich das Web entdeckt habe, hatte ich vor allem zwei Möglichkeiten, tatsächlich so viele Informationen zu finden, dass ich mit Sicherheit schon damit überfordert war, sie zu ordnen: Bibliotheken und die Lektüre möglichst vieler Zeitungen. (Bibliotheken und Zeitungen kann man noch besser benutzen, um die eigene Aktivität aufzuschieben, wenn man einige Sprachen halb lernt und sich in ihnen erst noch so lange perfektionieren müsste, bis man wichtige Texte im Original lesen kann.) Erst im Web aber erlebe ich in Echtzeit, wie die Informationen zu jedem Thema so schnell anwachsen, dass allein ihre Beobachtung unmöglich ist. Dazu kann ich mich auch noch auf Mittel konzentrieren, diese Informationsmenge zu organisieren, und auch die Informationen über diese Mittel wachsen so schnell, dass ich sie schlicht nie überschauen kann. Um tatsächlich bei jedem Thema zu wissen, was ich alles nicht gelesen habe, und um auch noch zu merken, mit welchen Themen ich mich auch noch beschäftigen könnte oder müsste, kann ich eine wiederum ständig wachsende Zahl von Hilfsmitteln verwenden: von RSS-Readern über Social Bookmark Tools bis hin zu den Life Streams von Leuten, die wie ich darunter leiden, dass das Problem des information overflow unlösbar ist.

Dass sich die Zahl der Informationen nicht mehr überschauen lässt, ist aber nur eine der Tatsachen, an die ich mein Verhalten erfolgreich anpassen kann. Ich muss mir auch darüber im klaren sein, dass das Web und vor allem die wichtigsten Angebote im Web nur entwickelt wurden, um mir etwas zu nehmen — im fast idyllisch einfachen Fall nur mein Geld, in den wirklich hinterhältigen Fällen aber meine Daten und mein geistiges Eigentum. Ich kann zwar nicht vermeiden, dass gut organisierte Kräfte alle Spuren meines digitalen Lebens für ihre Zwecke verwenden: Ich bin so schwach, dass ich mir gegen die Übermacht keinerlei Erfolgsschancen ausrechnen kann. Ich werde also weiterhin Google als Suchmaschine verwenden, Betriebssysteme von Microsoft oder Apple benutzen und Facebook über meine Freundschaften auf dem laufenden halten. Ich tue es aber wenigstens mit schlechtem Gewissen und halte mich mit Watzlawick an die puritanische Devise:

Du darfst tun, was du willst, so lange es dir keinen Spaß macht.

Mir fällt spontan noch eine dritte, ziemlich einfache Möglichkeit ein, unter den Realitäten des Webs zu leiden: Man muss auf objektive technische, ökonomische und gesellschaftliche Trends setzen, über die einen eine Vielzahl von Studien und Experten (darunter Medienwissenschaftler und Zukunftsforscher) auf dem laufenden halten. Mit dieser Methode kann man nicht nur die eigene Urteilskraft ausschalten, sondern auch nach oben offene Summen an Geld verlieren. Mir ist auf diesem Gebiet selbst — mangels Eigenkapital — nicht viel gelungen, aber immerhin konnte ich schon frühere Arbeitgeber, darunter einen Konzern wie Bertelsmann, dabei beobachten, wie sie den Einsichten von Managern und anderen Fachleuten in aktuelle Megatrends gefolgt sind und dabei außer ihrem Kapital auch eine Menge Arbeitsplätze abgebaut haben. (Ich glaube, dass diese dritte Form des objektiv begründeten Unglücks mit einer Haltung zusammen hängt, die Watzlawick am Schluss seines Buchs beschreibt: der, das Leben als Nullsummenspiel anzusehen, in dem ich nur gewinnen kann, was andere verlieren. Je mehr ich versuche, mir meinen Anteil aus einem Kuchen herauszuschneiden, an dem ich selbst nicht mitbacken will, muss ich mich auf das verlassen, was mir andere über das Rezept mitteilen.)

Der Kampf gegen die Informationsüberflutung, das Ringen mit den Datenkraken und das Wissen um Zukunftstrends: drei sichere Methoden, im Web unglücklich zu sein. Unter den Chancen, die das Web bietet, um, wie Watzlawick sagt, nicht anzukommen, liegen sie vielleicht am nächsten; es dürfte aber durchaus noch größere geben.

Haben FriendFeed, Disqus und seesmic etwas gemeinsam? Mir kommen sie wie die nächste Generation von Social Media Tools vor. Auf verschiedene Art sind sie Plattformen für Kommentare und Dialoge — wobei FriendFeed zugleich als Aggregator und seesmic als Videopublikationsplattform funktioniert. Wie ältere Dienste sind sie Publikations- oder Aggregationswerkzeuge für Microcontent, aber weit besser zeigen und ermöglichen sie Beziehungen zwischen (Mikro-)Inhalten. Seesmic gehört vielleicht als Plattform für eine bestimmte Form von Inhalten, nämlich kurze Videos, nicht in dieselbe Kategorie wie die beiden anderen. Aber auch bei seesmic ist nicht das Format wichtig, sondern die Verbindung, der thread, und interessant ist seesmic vor allem als Instrument für Videokommentare. Alle drei sind so entworfen, dass sie so gut wie möglich mit anderen Plattformen und Services zusammenspielen.

Seit dem Schlüsselsatz des Cluetrain Manifests markets are conversations wird wahrscheinlich kein Wort so oft benutzt wie conversation, um auszudrücken, was Webkommunikation von den älteren Medien unterscheidet. Aber erst jetzt werden Tools entwickelt, die der Konversation im Web den Vorrang vor ihren Bestandteilen wie Blogeinträgen und Kommentaren geben.

Heute arbeiten in den USA 25% weniger Journalisten als vor zehn Jahren; in vier Wochen haben gerade 4000 Angestellte von US-Zeitungen ihren Job verloren. Aus Großbritannien kommen ähnliche Schreckensmeldungen. Paul Bradshaw fragt deshalb:

Should journalism degrees still prepare students for a news industry that doesn’t want them?

Die Diskussion fand (und findet) auf seesmic statt; sie beginnt mit einem Statement Bradshaws:

In seinem Online Journalism Blog hat Bradshaw die Diskussion zusammengefasst.

Great Decoupling, Journalismus als Prozess

Es kommt eine Fülle von Statements, Erfahrungen und Ideen zusammen, äußerst anregend für jeden, der sich fragt, wie Journalismus und Journalistenausbildung aussehen können, wenn das Broadcast-Modell der Massenmedien tatsächlich zuende geht. Zwei zentrale Formulierungen:

JD Lasica spricht vom Great Decoupling: Journalismus löst sich von den Behältern, die ihn bisher ermöglicht, geschützt und gefangen gehalten haben.

Adam Tinworth unterscheidet Journalismus als Prozess und Journalismus als Produkt, ähnlich wie es neulich auch Mercedes Bunz getan hat.

Journalistische Professionalität jenseits des Berufsjournalismus

Zur Diskussion stehen nicht so sehr die Inhalte, die angehenden Journalisten vermittelt werden sollen: klassische journalistische skills wie Schreiben, Recherche, Interviewtechnik; technische Fähigkeiten, z.b. Bild- und Medienbearbeitung und Umgang mit Desktop Publishing Systemen; Social Media Kompetenz, also die Fähigkeit, gemeinsam mit dem einstigen Publikum zu recherchieren und Debatten zu führen. Änderungen gibt es eher in der Zielsetzung und im Berufsbild. Wohl die meisten Teilnehmer gehen davon aus, dass die Fähigkeiten professioneller Journalisten immer mehr außerhalb der herkömmlichen journalistischen Berufsbilder gebraucht werden, z.B. bei Webagenturen. (Journalismus-Fakultäten müssen sich also auch entsprechend vernetzen und nicht nur auf Partnerschaften mit etablierten Medienhäusern und Verlagen setzen.) Immer wieder wird auch von Entrepreneurship gesprochen: Eigene Unternehmen bieten oft bessere Aussichten als etablierte Verlagshäuser und Rundfunkanstalten.

Einstellungen sind wichtiger als Fähigkeiten

Mark Comersford unterstreicht, dass potenzielle Arbeitgeber mehr auf den mind set als auf den skill set von Bewerbern achten. Das ist zwingend: Die Technik ändert sich alle paar Jahren radikal, und Journalismus wird immer weniger isoliert von Publikum und Betroffenen betrieben; Medienprofis müssen mit diesen Veränderungsprozessen umgehen und mit wechselnden und unterschiedlichen Gruppen kommunizieren können. Auch die Hartnäckigkeit in der Recherche und der Wille, komplexe Zusammenhänge selbst zu verstehen und verständlich darzustellen, sind in erster Linie eine Sache der Einstellung, unabhängig vom Medium, in dem man arbeitet. Sie lassen sich kaum direkt lehren, sondern nur auf einer Metaebene vermitteln. Sie werden nicht über die Inhalte, sondern über den Kontext mitgeteilt, in dem die Inhalte unterrichtet werden.

Recherche via Seesmic-Panel

Eine Schlussbemerkung: Die Diskussion, die Bradshaw angestoßen hat, ist selbst ein exzellentes Beispiel für Journalismus als Prozess. Die Recherche wird mit Betroffenen und Interessierten gemeinsam durchgeführt, die journalistische Arbeit ist in allen Phasen nachvollziehbar und transparent; sie endet nicht mit einem fertigen Produkt, sondern mit offenen Fragen, die von anderen aufgegriffen werden können. Die Video-Konversation-Plattform seesmic beweist ihre Tauglichkeit im journalistischen Werkzeugkasten.

Als Versuch habe ich bei Lost and Found das Kommentarsystem Disqus eingebaut. Damit sind Threads bei Kommentaren und — wenn man sich bei seesmic anmeldet — auch Video-Kommentare möglich. Wer sich bei Disqus registriert, kann alle eigenen Kommentare verfolgen und sie in seinen FriendFeed integrieren.

Leider habe ich noch keine Möglichkeit gefunden, die letzten Kommentare in der Sidebar anzuzeigen. Aber wenn es ein entsprechendes Widget nicht schon gibt, wird es nicht lange auf sich warten lassen.

Update, 13:11: Dank zeroks Kommentar konnte ich das Widget mit den letzten Kommentaren einrichten. Dringende Reparaturen (Archiv, Suche) müssen leider noch etwas warten.

Disqus funktioniert bei Typepad im Augenblick nur, wenn man die Advanced Templates benutzt. Widgets u.ä. müssen dann im Quelltext eingebaut werden.

Am Wochenende habe ich mit meinem Vater telefoniert. Er liest mein Blog und hat mir eine ganz einfache Frage gestellt: Was ist denn eigentlich Hypertext?. Mit dieser Frage müsste ich eigentlich in jedem neuen Jahrgang meinen Unterricht beginnen, aber ich habe ich ihr allein noch nie eine Stunde gewidmet. Hier ein erster Versuch einer Antwort. Sie ist etwas trockener ausgefallen als zunächst beabsichtigt, aber als alten Philologen wird das meinen Vater hoffentlich nicht stören: Was ist Hypertext?

Wer jemals auf einer Webseite auf ein Link geklickt hat wie dieses, weiß, wie man mit Hypertext (englische Aussprache hier) umgeht. Wie legt man ein solches Link an? Die Erklärung ist vielleicht etwas trocken, aber sie erleichtert es zu verstehen, um was es sich bei Hypertext handelt.

Die meisten Webseiten sind in HTML geschrieben, einem Code zum Verfassen von Hypertext. Bei einem HTML-Dokument wie dem, das ich hier gerade schreibe, stellt der Browser Code wie den folgenden als Link (oder Hyperlink) dar:

<a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext"
title="Hypertext – Wikipedia">dieses</a>

Das Wort dieses ist mit zwei Tags — das sind die Zeichenketten in den Spitzklammern, englische Aussprache hier — als Links ausgezeichnet oder markiert. Die hintere Auszeichnung, das Schlusstag </a>, sagt nur, dass der markierte Bereich zu Ende ist. Die vordere Auszeichnung, das Starttag, hat mehrere Funktionen. Der Buchstabe a (eigentlich ein Elementnamen), sagt, dass es sich bei dem markierten Textteil dieses um ein Link handelt, eine Verknüpfung mit anderen Informationen. Ein Webbrowser gibt ein solches Link in der Regel farbig und unterstrichen wieder; wenn man mit der Maus darüberfährt, verändert sich der Cursor in eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. (Das a steht für das englische Wort anchor, Anker.) Die beiden Zeichenketten href="http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext" und title="Hypertext – Wikipedia" sind Attribute. Der Wert des ersten Attributs — die Zeichenkette http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext" — bezeichnet eine bestimmte Ressource im Web; nämlich den Artikel über Hypertext in der deutschsprachigen Wikipedia. Wenn ich im Browser auf das Link klicke, öffnet sich dieser Artikel. Der Wert des zweiten Attributs — Hypertext – Wikipedia — sagt mir, um welche Ressource es sich handelt. Wenn ich das Link mit der Maus überfahre, öffnet sich ein ganz kleines Fenster und gibt mit diesen Titel an. Die Buchstabenkette href, der Name des ersten Attributs, steht für hyper reference, deutsch: Hyper-Verweis. Ein Webbrowser, also die Software, mit der ich ein HTML-Dokument lese, ist dazu in der Lage, diesem Verweis zu folgen und sein Ziel darzustellen, im selben oder in einem anderen Browserfenster. Dazu braucht er natürlich sehr viel Infrastruktur, um die es hier jetzt nicht geht.

Ein HTML-Dokument — also ein Text, der in der Hypertext Markup Language geschrieben ist — wird durch Links zu Hypertext. Hypertext ist nicht einfach Text, der mit anderem Text verknüpft ist. Jeder Text bezieht sich auf andere Texte; die Intertextualität ist ein altes Thema in Sprachwissenschaft, Linguistik und Philosophie. Das Besondere an Hypertext ist, dass ich der Verknüpfung sofort folgen kann, dass ich die Verweise nicht nur in meinem Kopf realisiere — eventuell mit Hilfe von Büchern oder anderen Texten, die ich mir besorgt habe. Mit Hypertext habe ich es zu tun, wenn ich — z.B. indem ich auf ein Link klicke — direkt von dem Text, den ich lese, zu einem anderen Text übergehen kann, auf den der erste Text verweist. Aber auch diese Übergangsmöglichkeit reicht eigentlich nicht aus, um Hypertext zu definieren: Zwei Texte die aufeinander verweisen und die nebeneinander vor mir auf dem Tisch liegen, machen noch keinen Hypertext. Zum Hypertext gehört, dass der eine Text die Verbindung zum anderen (das Link) in sich enthält. Goethes Werther ist kein Hypertext, weil ich auf ihn verlinke; aber dieses Link macht meinen Text hypertextuell.

Hypertext ist Text, der mir als Leser die technische Möglichkeit bietet, die Lektüre sofort durch andere Texte, Textpassagen oder Informationen als die unmittelbar benachbarten fortzusetzen. Dabei verknüpft die Autorin nur bestimmte Teile eines Texts mit bestimmten Zielen. Als Leser kann ich diese Verknüpfungen realisieren, muss es aber nicht. Hypertext ist interaktiver Text; ich kann, über das Lesen hinaus, etwas mit ihm machen, Informationen mit ihm ansteuern. Ein Hypertext-Dokument kann ich — selbst wenn es nur ein einziges Link enthält — nicht nur lesen, sondern als Anwendung oder Programm benutzen.

Die Ausdrücke Anwendung und Programm stammen aus der Informatik; Hypertext wird mit Computern (im weitesten Sinn) geschrieben und rezipiert. Das bedeutet aber nicht, dass es sich bei Hypertext um so etwas wie Computertext handelt; Computer werden dazu benutzt, um Hypertexte zu verwirklichen, so wie sie auch dazu benutzt werden, Berechnungen durchzuführen. Hypertexte sind Texte, die die Möglichkeit bieten, mit Informationen zu interagieren, die mit Computern (und Netzwerken) in Echtzeit produziert oder bereitgestellt werden.

Noch zwei Hinweise:

Den Ausdruck Hypertext hat Ted Nelson in der 60er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt. Das Konzept selbst ist älter; oft wird Vannevar Bushs Aufsatz As We May Think von 1945 als erste Beschreibung eines Hypertext-Systems genannt. Durchgesetzt hat sich Hypertext durch das World Wide Web, das nichts anderes ist als ein weltweites Hypertext-System auf der Basis des Internet. (Das Internet ist mit dem World Wide Web nicht identisch; Email ist zum Beispiel auch ein Teil des Internet, hat aber mit dem WWW ursprünglich nichts zu tun.) Im World Wide Web wurde bei weitem nicht alles verwirklicht, was Ted Nelson und andere Vordenker des Hypertexts entworfen haben. Umgekehrt bestimmt vor allem die Entwicklung des WWW, was heute Hypertext ist. Zur Zeit wird die fünfte Version von HTML definiert; HTML ist nach wie vor das wichtigste technische Format für Hypertext, aber nicht das einzige.

Formulierungen wie As we may think oder Ted Nelsons Motto SOMEBODY’S GOT TO DISAGREE legen es nahe: Hypertext ist eine Sache der Leute, die Jean-Pol Martin Weltverbesserer nennt. So wie der Buchdruck eine Kulturrevolution ausgelöst hat, tut es heute der Hypertext — und dieser Wirkung haben seine Vordenker beabsichtigt. Links unterstützen vernetztes, nichtlineares Denken; sie verbinden nicht nur Texte, sondern auch Menschen. Das Video The Machine is Us von Michael Wesh beschwört das utopische Potenzial, das der Hypertext noch nicht verloren hat:

[Erste Version dieses Textes: 23.7.2008]

Heute habe ich (als Gast) eine Doppelstunde Medienethik unterrichtet. Nicht ungern, denn ich kann dabei an mein — unterbrochenes — Philosophiestudium anschließen. Ich glaube allerdings nicht, dass es so etwas wie eine eigene Medienethik gibt. Wenn man überhaupt ethische Regeln begründen kann, gelten sie überall, schon der Ausdruck Medienethik gehört für mich in eine gemeinsame Schublade mit Sexualmoral, Grundwerten und anderern Verlegenheitskomposita.
Trotzdem habe ich versucht, den Studenten so etwas wie Richtlinien oder Werte für soziale Medien vorzuschlagen. Ich bin allerdings nicht sicher, ob es sich dabei überhaupt um ethische Begriffe handelt, und vielleicht gehören sie auch nicht auf dieselbe Ebene. An drei ethischen Prinzipien kann man sich möglicherweise bei Webmedien orientieren:

  1. Transparenz
  2. Dialogbereitschaft
  3. Respekt

Keiner dieser Werte betrifft nur Online-Medien (aber woher sollten auch eigene Werte für Online-Medien stammen?) Aber alle drei gehen Online-Medien in einer besonderen Weise an.

Transparenz ist ein Wert, der bei anderen Medien und jenseits anderer Medien nur bedingt gilt, weil dort schlicht begrenzt ist, wieviel publiziert werden kann. In einer Zeitung erwarte ich keine Fussnoten; es ist auch nicht möglich, dass eine Journalistin alle Details ihrer Recherche publiziert. Online ist es dagegen möglich, die Genese einer Publikation mitzupublizieren, und auch wenn sich dafür nur wenige interessieren werden — es gibt keine Grund sie nicht zu veröffentlichen. So haben alle Leser/User wenigstens eine Gelegenheit nachzuvollziehen, wie ein bestimmtes Ergebnis zustande gekommen ist. Erst recht ist bei einem Online-Medium zu erwarten, dass alle möglichen Befangenheiten einer Autorin offen gelegt werden.

Dialogbereitschaft gehört wahrscheinlich zu jeder Form von Ethik; sie ist eine Voraussetzung ethischen Argumentierens. Soziale Medien bauen aber direkt auf ihr auf. Dialogbereitschaft bedeutet dabei, dass es immer möglich sein muss, dass Leser und Betroffene antworten. Ich muss also so arbeiten, dass ich dem anderen seine Fähigkeit zu antworten nicht nehme oder abspreche, etwa durch verletzende Polemik. Die Dialogbereitschaft kann erst aufhören, wo der Adressat nicht zum Dialog willens oder fähig ist. Soziale Medien sollten also vorsichtiger sein als herkömmliche Massenmedien, die nicht auf Antworten ihrer Nutzerinnen angelegt sind; bashing ist in ihnen mindestens schlechter Stil, auch wenn sie dadurch gegenüber der älteren Konkurrenz an Prägnanz verlieren.

Respekt ist für mich der schwierigste der drei Begriffe, aber der entscheidende. Mit Respekt meine ich Rücksicht auf die Bereitschaft oder Fähigkeit, Publikationen über sich zu ertragen. Warum ist es verwerflich, Hinrichtungsvideos zu publizieren oder anzusehen? Es wird dabei etwas veröffentlicht, das nicht öffentlich gemacht werden soll, die Publikation ist ein Teil der Entwürdigung, die das eigentliche Ziel jeder Hinrichtung ist. Es wird ein Tabu gebrochen — vielleicht geht es hier um einen Bereich jenseits oder diesseits einer rationalen ethischen Argumentation. Respektlos ist es aber auch — um ein viel alltäglicheres Beispiel zu nennen –, in Konversationen einzugreifen, um ein Produkt zu verkaufen. Die Frage des Respekts stellt sich bei Online-Medien besonders heftig, weil sie die tradionellen Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem verschieben oder sogar aufheben. Schon die Publikation eines Namens oder Bildes kann respektlos sein.

Sicher kann man Transparenz, Dialogbereitschaft und Respekt nicht voneinander trennen. Die Perspektive ist bei diesen drei Prinzipien aber unterschiedlich: Transparenz betrifft die Autorin selbst, Dialogbereitschaft ihr Verhältnis zu ihrem Publikum und Respekt die Beziehung zu Dritten, über die publiziert wird. Vielleicht forden sich die drei Werte deshalb gegenseitig.

[Letzte Version: 7.6.2007]