Ich beschäftige mich noch mit den Inhalten des Vortrags von Dieter Gerten über die planetaren Grenzen. Für mich ist er auch ein Anlass, meine eigene Tätigkeit als Lehrender an einer wirtschaftsorientierten Fachhochschule in Frage zu stellen.
Die Indikatoren für das Anthropozän
Gerten verweist auf den zentralen Aufsatz The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration aus dem Jahre 2015 (PDF-Download hier). In diesem zusammenfassenden Text werden eine Reihe von Indikatoren für soziale Veränderungen seit dem Beginn der Industrialisierung mit einer Reihe von Indikatoren für Veränderungen im Erdsystem verbunden. Die Schlussfolgerung ist, dass wir seit etwa 1950 die Periode, die man als Holozän kennt, verlassen haben. Durch menschlichen Einfluss hat sich das Erdsystem schon jetzt tiefgreifender verwandelt als beim Übergang zum Holozän, also zu einer für die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, günstigen planetaren Umwelt. Die Grafiken mit den verschiedenen Indikatoren sind oft publiziert worden (verschiedene Versionen hier).
Mir ist bei der Lektüre dieses Aufsatzes etwas klarer geworden, worum es geht, wenn man vom Anthropozän spricht: nicht so sehr darum, ob und wie man eine neue geschichtliche oder sogar erdgeschichtliche Epoche beschreibt, sondern vor allem darum, dass ein System von Umweltbedingungen schon jetzt zu großen Teilen verloren gegangen ist und ganz verloren zu gehen droht, von denen die Menschheit, so wie wir sie kennen, und auch die ganze Biosphäre abhängig ist—wobei Menschheit und Biosphäre zu den Akteuren gehören, die dieses System mitproduzieren. Noch bedrohlicher als das, was wir über die Epoche nach dem Holozän schon wissen, ist, dass wir so wenig über sie wissen: Es lässt sich nicht wirklich prognostizieren, wie das Erdsystem nach den von Menschen verursachten massiven Veränderungen reagieren wird. Damit befinden wir uns in einer extrem riskanten Situation, und man muss jede Art von menschlicher Praxis daraufhin befragen, wie sie zu dieser Situation beiträgt. (Es ist mir klar, dass es verkürzt ist, hier von dem Menschen zu sprechen. Relevant ist bei dieser Epochenunterscheidung, dass es um mit der Spezies Mensch verbundene Veränderungen geht, nicht darum, ob man für die Veränderungen Phänomene wie den Kapitalismus verantwortlich machen muss.)
Normative Begriffe als Instrument der Erkenntnis
Mir ist nach der Lektüre dieses Aufsatzes eine These des französischen Epistemologen Georges Canguilhem, eines Lehrers von Michel Foucault, eingefallen: In den Wissenschaften vom Leben sind normative Begriffe ein Instrument der Erkenntnis, auf das man nicht verzichten kann. Von Leben lässt sich nur in Verbindung mit einem Konzept von Normalität oder Nicht-Normalität sprechen. Begriffe wie Anthropozän oder Holozän, aber auch planetare Grenzen oder Klimanotstand haben ebenfalls eine normative Komponente. Diese Komponente ist aber kein Defizit, ohne sie lässt sich über die Phänomene, um die es hier geht, überhaupt nicht rational sprechen, die Phänomene würden unerkennbar. Canguilhems These betrifft das Verhältnis der Akteure der Erkenntnis zu den Erkenntnissen selbst. Latour formuliert diesen Zusammenhang in einer anderen Weise immer wieder in seinem Gaia-Buch wenn er von der Bindung wissenschaftliche Erkenntnisse an als menschliche Akteure vorgehende Forscher spricht. Wissenschaft, so schreibt Latour, wird nicht vom Sirius aus gemacht sondern auf der Erde von irdischen Menschen.
Das Verlassen des Holozän als Vorgabe für akademische Praxis?
Damit stellt sich die Frage, wie man mit solchen Erkenntnissen umgeht, wenn man an einer wirtschaftsnahen Institution mit wissenschaftlichem Anspruch arbeitet. Sind die erkennbaren negativen Folgen der Technologien, mit denen wir uns beschäftigen, relevant für das, was wir als Lehrende und Forschende tun? Gibt es hier Gebote und Verbote für Lehre und Forschung? Wie kann man unter den Bedingungen des Anthropozän von Wertfreiheit der Wissenschaft sprechen – kann und soll man überhaupt davon sprechen? (Bei der Rebellion Week in Wien hat mir Giuseppe Delmestri gesagt, er beschäftige sich mit Max Weber, um seinen Kollegen verständlich zu machen, warum er sich bei Extinction Rebellion engagiert.) Kann man verantwortungsvolles Handeln von Wissenschaftlern und akademischen Lehrenden verlangen, es ihnen vorschreiben, ohne Denk- und Forschungs-Verbote zu fordern oder sie auf eine Ideologie zu verpflichten? Anders formuliert: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem normativen Charakter von Begriffen, wie sie etwa in der Erdsystem-Wissenschaften verwendet werden, und ethischen Normen, vor allem ethischen Normen für das wissenschaftliche Handeln? In der Biologie, dem Gebiet, mit dem sich Canguilhem vor allem beschäftigt hat, lässt sich diese Frage in Bezug auf die Medizin und Vorschriften wie den hippokratischen Eid formulieren. An den hippokratischen Eid haben Gruppen, die ähnliche Normen in der Wissenschaft und im Design formuliert haben, immer wieder angeschlossen (siehe z.B. I Commit to the Tech Pledge and Ask You to Do the Same – Interdependent Thoughts).
Verantwortlichkeit als Berücksichtigung aller absehbaren Folgen
Ich habe auf diese Fragen keine Antwort, die ich ganz überzeugt vertreten würde. Ich weiß, dass diese Fragen immer wieder gestellt wurden und dass es eine Fülle von Diskussionen und Positionen zu ihnen gibt. Als Minimalposition—ohne weitere Antworten vorwegzunehmen—gehe ich davon aus, dass es zur Wissenschaftlichkeit gehören muss, die erkennbaren Folgen des eigenen Handelns mitzuberücksichtigen, sie also nicht abzublenden. Wer verantwortliches Handeln in der Wissenschaft und speziell in unseren wirtschaftsorientierten Studiengängen verlangt, fordert nicht Denk- und Forschungsverbote sondern umgekehrt, Denk- und Forschungsverbote hinsichtlich der Folgen und auch der Bedingungen des wissenschaftlichen Handelns zu vermeiden. Es ist gerade nicht wissenschaftlich und nicht rational die Augen davor zu verschließen, dass man mit dem, was man an einer wissenschaftlichen Institutionen tut, die Risiken für das menschliche Leben allgemein und damit auch für die Menschen, mit denen man konkret zu tun hat, noch vergrößert—ob man nun mit Firmen kooperiert, die Verbrennungsmotoren verwenden, bauen oder konstruieren oder ob man effizientes Marketing für noch mehr Konsum unterrichtet. Wenn man sich daran orientiert, dass es zu Wissenschaft und aufgeklärtem Handeln gehört, Scheuklappen abzulegen, dann lässt sich eine Verantwortungsethik für akademisch oder wissenschaftlich tätige Menschen formulieren, ohne sie auf eine Ideologie oder ein Konzept einer perfekten Welt festzulegen.
Konkret: Kommunikation als Instrument der Konsumsteigerung
Was bedeutet das konkret für jemand, der wie ich an einer Fachhochschule Kommunikation unterrichtet? Es bedeutet, dass ich mir darüber im Klaren sein muss, wie die Inhalte meines Unterrichts zu dem wirtschaftlichen System beitragen, das zu der riskanten Situation geführt hat, die ich oben angesprochen habe. Dieser Situation wird von jeder Form weiteren materiellen Konsums und weiteren Wachstums des Bruttosozialprodukts in den industrialisierten Ländern verschärft. Zwar sind die Folgen des Handelns eines einzelnen sehr klein, aber sie lassen sich nicht ignorieren. Ich kann nicht einerseits auf das Fliegen oder das Essen von Fleisch verzichten und andererseits Studierenden dabei helfen, Firmen und Marken zu unterstützen, die die Prozesse, bei denen die menschlichen Lebensgrundlagen zerstört werden, weiter beschleunigen.
Laufe ich damit Gefahr, eine Totalverweigerung zu fordern, also eine Position außerhalb der existierenden Gesellschaft einzunehmen und sie von dort aus zu verurteilen? Ich glaube, dass die in der Biologie oder der Erdsystem-Wissenschaft implizierte Normativität sich vom Postulieren abstrakter Normen und einer manichäischen schematischen Trennung von Gut und Böse unterscheidet. Aus dieser Normativität kann man eine Orientierung an Gesundheit, so fragwürdig dieser Begriff ist, auch in Bezug auf Gesellschaft und Kommunikation ableiten, ohne dass man Gesundheit als eine abstrakte moralische Norm konzipieren muss. Innerhalb des Marxismus würde man hier wahrscheinlich von Dialektik sprechen: Das Handeln des einzelnen ist zwangsläufig widersprüchlich und diese Widersprüchlichkeit lässt sich unter den bestehenden Bedingungen nicht auflösen, man muss aber innerhalb dieser Widersprüche Partei annehmen. Wenn man sich nicht an dieses Konzept hält, kann man davon ausgehen, dass das Handeln und die Situationen, in denen man handelt, kontingent sind, und dass man dieser Kontingenz nicht entgeht, indem man etwas Absolutes als real oder realisierbar ansieht. Es geht eher darum, die Kontingenz anzuerkennen und ausgehend von ihr und damit, auf Lebewesen übertragen, von der Verletzlichkeit oder Verwundbarkeit aller Lebewesen zu handeln.
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Überlegungen nachvollziehbar sind, und ich bin nicht mit ihnen fertig. Es geht mir um den Zusammenhang von ethischen Normen und wissenschaftlicher oder intellektueller Praxis in einem Handlungsfeld, in dem man es mit Lebewesen und mit dem eigenen Leben zu tun hat. In meinem konkreten Fall geht es darum, welche Rolle die Kommunikation in diesem Feld, so wie es sich für mich in meiner alltäglichen Praxis konkretisiert, spielt. Dass man aus solchen Überlegungen Konsequenzen für das eigene politische Handeln ableiten kann, ist für mich relativ klar. Wie man ein praktisches Fach an einer wirtschaftsorientierten Hochschule unterrichtet, ohne die Konsequenzen der aktuellen Wirtschaft und konkret die Konsequenzen der Aktivitäten der Unternehmen, mit denen wir genau an dieser Hochschule zu tun haben, zu ignorieren, diese Frage kann ich bisher nur sehr vorläufig beantworten.