Will Steffen ist für mich eine Schlüsselfigur bei den Versuchen, mich in die Literatur zur Erdsystemforschung und Klimakrise einzulesen und ihre Konsequenzen zu verstehen. Steffen hat zentrale Aufsätze der Erdsystemforschung mitverfasst, mehrfach als Lead-Autor. Er gehört zu den Wissenschaftlern, die seit Jahren radikale Maßnahmen gegen die Klimakrise fordern und den zivilen Ungehorsam als Methode von Extinction Rebellion von Beginn an unterstützt haben. Mich interessiert besonders, wie Steffen das Verhältnis von Wissenschaft und politischer Praxis, vor allem politischem Aktivismus interpretiert. Für Steffen ergibt sich aus den Erkenntnissen der Forschung zum Erdsystem die Notwendigkeit, sofort und radikal politisch aktiv zu werden. Die Verbindung von empirischer Forschung und politischer Praxis hängt dabei damit zusammen, dass sich ihr Zeithorizont nicht mehr voneinander trennen lässt. Die Forschung zeigt, dass wir—wenn überhaupt—nur noch wenige Jahre haben, um die Entwicklung des Erdsystems hin zu einer Hothouse Earth zu verhindern.
Zur wissenschaftlichen Haltung gehört eine distanzierte Perspektive auf die Zeit—sowohl auf die erdgeschichtliche Zeit, mit der es die Erdsystemforschung zu tun hat, wie auf den zukünftigen Fortschritt der Forschung selbst, in der Erkenntnisse immer wieder revidiert und weiterentwickelt werden. Diese Perspektive unterscheidet sich von der lebensweltlichen Perspektive auf die Zeit und auf historische Ereignisse, die praktisch beeinflusst werden können. Wenn die Wissenschaft aber durch ihre eigene Entwicklung mit diesen lebensweltlichen Ereignissen, und zwar mit extrem bedrohlichen Entwicklungen konfrontiert ist, dann lässt sich die wissenschaftliche Distanz nur noch zynisch aufrechterhalten. Die homogene, neutralisierte und unendliche Zeit der von der Wissenschaft untersuchten Ereignisse und des wissenschaftlichen Fortschritts lässt sich nicht mehr von der endlichen Zeit der historischen Erfahrung und der politischen Praxis trennen. Angesichts apokalyptischer Ereignisse, deren hohe Wahrscheinlichkeit sich mit der überhaupt möglichen wissenschaftlichen Sicherheit voraussagen lässt, werden die Möglichkeiten, diese Ereignisse zu verhindern, zur wissenschaftlichen Priorität.
Steffen geht in seinen Texten auf verschiedene Aspekte der Verschränkung der erdgeschichtlichen und der erfahrbaren Zeit der praktischen Aktion ein. In The Big U-Turn Ahead blendet er von einer auf unvorstellbar große Zeitspannen ausgerichteten Perspektive über zu einer Perspektive auf die dringende, kurzfristig notwendige Aktion. Er stellt die Verantwortung der heute lebenden Menschen für die Zukunft des Erdsystems in einem Appell dar, dessen Begründung sich aus den Erkenntnissen ergibt, die Steffen und andere Autoren in dem Aufsatz Trajectories of the Earth System in the Anthropocene zusammenfassen.
In Our climate is like reckless banking before the crash – it’s time to talk about near-term collapse (zusammen mit Aled Jones) wird das Verhältnis der Perspektiven auf langfristige und auf kurzfristige Ereignisse ebenfalls angesprochen. Hier werden aber nicht nur Handlungen thematisiert, die kurzfristig notwendig sind, sondern die Auswirkungen von menschlich verursachten Veränderungen des Erdsystems innerhalb des Ereignishorizonts eines menschlichen Lebens: ökologische Krisen und Katastrophen, die in den letzten Jahren die Medien beherrschen. Sie wurden, wie die Autoren feststellen, bisher von der Forschung zu wenig berücksichtigt. Die Warnungen der Klimaforscher vor den Folgen der globalen Erhitzung seien bisher
not connected with complex human systems, such as food, finance and logistics, leaving them to evolve as if climate change didn’t exist.
Das Anthropozän und die Unterscheidung von Lebenszeit und Weltzeit
Mir fallen Begriffe und Ideen Hans Blumenbergs ein, wenn ich die Texte Steffens lese. Blumenberg hat sich immer wieder mit der Natur als einem stabilen Raum für menschliche Theorie und Praxis beschäftigt, der menschliche Autonomie und Selbstbehauptung ermöglicht, und der den Eingriffen eines verborgenen Gottes entzogen ist. Die Neuzeit ist für ihn die Epoche, in der der Mensch eine nicht länger von göttlichen Eingriffen destabilisierbare Natur erforscht und beherrscht. Der neuzeitlichen Natur droht keine Apokalypse. Ich erinnere mich daran, wie Blumenberg in der ersten Vorlesung, die ich bei ihm gehört habe, mehrfach die Verse
musst mir meine Erde
doch lassen stehn
aus Goethes Prometheus-Gedicht zitiert hat. Die Stabilität der Erde ist die Voraussetzung für die Selbstbehauptung des Menschen in der Neuzeit.
In der Neuzeit haben sich Lebenszeit und Weltzeit immer mehr voneinander getrennt, parallel zur Herausarbeitung einer Natur, die durch ihre Unabhängigkeit von Interpretationen charakterisiert ist, und einer Wissenschaft, die diese Natur als einen von Menschen unabhängigen Gegenstandsbereich erforscht. Die Zeit der Naturgeschichte, in der Veränderungen so langsam sind, dass sie in der menschlichen Lebenszeit nicht wahrgenommen werden können, unterscheidet sich von der subjektiv erfahrbaren Zeit mit Ereignissen, die unser Leben verändern und in die wir während unseres Lebens eingreifen können. Die neutralisierte Natur mit ihrer eigenen, nicht von der Erfahrung entkoppelten Zeit ist ein Raum, in dem sich der Mensch behaupten kann.
Die drohenden apokalyptischen Folgen der Klimakrise und des Überschreitens der planetary boundaries entziehen der menschlichen Selbstbehauptung die Grundlage, zu der die neutralisierte Zeit der neuzeitlichen Naturwissenschaft gehört. Bei Steffen wird dieser Zusammenhang deutlich artikuliert, bis hin zur Thematisierung des Anthropozän. Die wissenschaftliche Distanz führt zu Erkenntnissen, die dieser Distanz ihre Voraussetzungen und ihre moralische Legitimation entziehen. Die Rahmenbedingungen der theoretischen Neugierde—um noch einen Ausdruck Blumenbergs zu benutzen—haben sich radikal verändert. Das hat Konsequenzen für jede Art von Wissenschaft, weit über Klimaforschung und Erdsystemwissenschaft hinaus.
Danke Dir! Sehe ich ähnlich, die andere aus meiner Sicht hilfreiche Perspektive ist die der transformativen Forschung, wobei ich die Varianten nicht als Gegensätze sehe
Danke für die Zustimmung! Nein, ich sehe auch keinen Gegensatz zwischen diesen Varianten. (Content strategy for degrowth würde wohl zur transformativen Forschung passen.)