Am Dienstag wurde im Schubertkino der Film 20 Days In Mariupol gezeigt, leider nur einmal¹. Durch Zufall habe ich davon erfahren.

Der Film berichtet aus der Perspektive des ukrainischen AP-Journalisten Mstyslav Chernov über die Belagerung und Eroberung von Mariupol durch die russische Armee. Seine wichtigsten Schauplätze sind Wohngebiete, die beschossen werden oder wurden, Kampfzonen in der Nähe der Stadt und vor allem das Hospital Nr.2, in dem sich Chernovs Team länger aufhielt. Die Kamera verfolgt die oft vergeblichen Versuche, das Leben von Opfern der russischen Angriffe zu retten. Immer wieder sieht man Menschen, die sterben oder gerade gestorben sind. Ein kaum erträglicher Abschnitt zeigt, wie Menschen in einem Massengrab aufgeschichtet werden—im Hospital Gestorbene in schwarzen Plastiksäcken und Todespfer aus der Stadt in ihrer Alltagskleidung. Ich habe an Lanzmanns Shoah-Film gedacht.

Die Kameraperspektive entspricht der des in der ersten Person berichtenden Journalisten. Teile seiner Gespräche mit Menschen in Mariupol, manchmal unmittelbar nach Angriffen, werden im O-Ton wiedergegeben. Der Film dokumentiert, wie Aufnahmen der Belagerung von Mariupol entstanden, die im Frühjahr 2022 international ausgestrahlt wurden—darunter die Berichte über eine von den Russen zerstörte Geburtsklinik. Die Fernsehbilder von damals, das Material, das für sie verwendet wurde und Aufnahmen der Bedingungen, unter denen es produziert wurde, sind ineinandergeschnitten. In seinem Kommentar erklärt Chernov , wie schwierig es war, das Material zu publizieren. Die Telekommunikationsverbindungen brechen immer wieder zusammen. Schließlich verlässt das AP-Team die Stadt im Auto der Familie des ukrainschen Offiziers, der es vorher bei den Dreharbeiten unterstützt hat. Die Zusammenarbeit mit ukrainschen Soldaten wird nicht verschwiegen. In einer der Fernsehaufnahmen sieht man, wie der russische UN-Botschafter die Berichte aus Mariupol zu Fake-News erklärt.

Man kann 22 Days in Mariupol als Film über die Wirklichkeit des Kriegs in der Ukraine und über das journalistische Berichten über diese Wirklichkeit interpretieren. Der Film ist offen für das, was man mit Lacan das Reale nennen könnte, das, was sich im Bild nicht zeigen lässt und immer wieder verdrängt wird. Die Bilder der Körper der Opfer, die Präsenz der Kamera bei den terrorisierten Menschen in improvisierten Schutzräumen, bei denen öffentliche und intime Privatsphäre ineinanderübergehen, das gehetzte Tempo von Aufnahmen, die in Fluchtsituationen entstehen: sie verweisen auf das, was nicht abgebildet werden kann. Durch diese Präsenz des Realen—durch das Zeigen der Grenzen des Abbildens—werden die Abbildungen, wird die Realität des Films authentisch. Die Dokumentation des journalistischen Handwerks in diesen Extremsituationen, auch seiner Einbettung in institutionelle Bedingungen—von der Aufforderung an die Interviewten, ihren Namen zu nennen, über die Unterstützung durch die ukrainische Armee bis zur Ausstrahlung in den TV-Networks—zeigt, dass historische Ereignisse dargestellt werden, dass es sich nicht um eine Fiktion handelt. Diese Dokumentation war und ist dabei Teil des Geschehens, sie gehört selbst zur Geschichte der Belagerung von Mariupol und des Kriegs gegen die Ukraine.

Hier in Graz haben die Neos die Vorführung des Films organisiert. Der kleine Saal im Schubert-Kino war überfüllt. Es was viel Ukrainisch zu hören. Philipp Pointner von den Neos und Fritz Möstl, der ukrainische Honorarkonsul, leiteten die Vorführung kurz ein. Am Schluss forderte Pointner dazu auf, so vielen Menschen wie möglich von dem Film zu erzählen.

Im Film selbst wird das Geschehen außer von den Beteiligten nicht ausdrücklich kommentiert oder interpretiert. Der Film zeigt deutlich, dass die Eroberung von Mariopol ein systematischer Angriff auf die Bevölkerung war, um sie zu zermürben und zu unterwerfen. Massenmord an Zivilist:innen und Vertreibung gehörten zu dieser Strategie.

Man kann diesen Film über einen Krieg, der noch anhält, nicht ansehen, ohne sich die Frage zu stellen: Kann ich etwas tun? (Auch die Möglichkeiten, etwas zu tun, und die Unmöglichkeit, genug zu tun, sind ein Thema des Films.) Damit verbunden ist für mich die Frage: Erfahre ich etwas darüber, was zu tun ist? Erfahre ich etwas über Handlungsmöglichkeiten, ohne dass ich in das halbinformierte Kommentieren von Amateur-Politiker:innen verfalle? Dabei weiss ich, dass ich diesem halbinformierten Kommentieren nicht völlig entgehen kann.

Ich glaube, dass ich den Film nicht überinterpretiere, wenn ich ihn als Film nicht nur über Mariupol, sondern über den ganzen Krieg gegen die Ukraine verstehe. Er zeigt einen Teil des noch immer andauernden Versuchs, die Ukraine in das russische Imperium einzugliedern. Er zeigt die Folgen dieses Kriegs für die Bevölkerung. Er zeigt, wie die für diesen Krieg Verantwortlichen handeln: die russische Armee und damit das russische Regime. Er zeigt auch, wie schwer es für die ukrainische Armee ist, sich gegen diese Armee zu verteidigen, und dass sie dabei vor Ort keine Verbündeten hat.

Der Film sagt nichts darüber, wie man politisch mit dieser Situation umgehen kann oder soll. Aber er verweist auf die Brutalität und Rücksichtslosigkeit des Putin-Regimes. Auch sie gehört zum verdrängten Realen, das sich nicht direkt zeigen lässt. Sie lässt sich nicht relativieren. Die Entschlossenheit zur Unterwerfung und zur Vernichtung von Menschen, die Widerstand leisten, nicht zu verdrängen, sondern sie ernstzunehmen und der Konfrontation mit ihr nicht auszuweichen, verstehe ich als die wichtigste Aufforderung des Films an sein Publikum. Diese Entschlossenheit wird nicht durch ein Wunder verschwinden.

¹: Update: Bis zum 24. Mai ist der Film in der ARD-Mediathek zu sehen: Video: 20 Tage in Mariupol – Dokumentation & Reportage – ARD | Das Erste. Danke Michael für den Hinweis!

16 Kommentare zu “„20 Days In Mariupol“ im Grazer Schubertkino

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