Am Wochenende habe ich für ein Interview Nadja Hahn in der Argentinierstraße getroffen. Außer über das eigentliche Thema, die österreichischen Parteien im Internet, haben wir uns über Social Media im öffentlich rechtlichen Rundfunk und speziell beim ORF unterhalten. Nadja Hahn hat im Januar die Studie What Good is Twitter? (PDF) zum public value von Social Media bei öffentlich rechtlichen Sendern publiziert, die ich jetzt endlich gelesen habe. In der Studie stellt sie gründlich dar, wie Social Media den öffentlich rechtlichen Auftrag einer Anstalt wie des ORF einerseits unterstützen und andererseits verändern können. Sie stützt sich vor allem auf Beispiele aus England—die BBC und Channel 4. Es wird schnell klar, dass wir in Österreich—jedenfalls was den öffentlich-rechtlichen Rundfunk betrifft—im Vergleich dazu in einem unterentwickeltem Land leben.

Gute Zusammenfassungen der Studie findet man hier und in dieser Präsentation Nadja Hahns.

Mich bringt diese Studie zu einem Thema, über das ich öfter nachgedacht habe: Wie sieht es mit einer Contentstrategie für Newsmedien aus? Wäre eine Contentstrategie für journalistische Medien etwas Ähnliches, wie das, was man bisher verlegerische Strategie nennt, oder würde sie sich davon deutlich unterscheiden? Anders formuliert: Könnte man hier von einer Contentstrategie sprechen, um den Unterschied zu einer herkömmlichen verlegerischen Strategie deutlich zu machen?

In Texten zur Contentstrategie finden sich einige Themen immer wieder:

  1. Eine Contentstrategie orientiert sich an expliziten Zielen einer Organisation, die sie in Kernbotschaften übersetzt. Sie fragt bei Inhalten nicht nur nach dem Was, sondern vor allem nach dem Warum.
  2. Sie hat es nicht mit Plattformen, Kanälen oder Distributionswegen zu tun, sondern mit Inhalten, die auf unterschiedlichen Wegen verbreitet werden können. Sie geht also davon aus, dass durch das Internet, vor allem das Web, die Mediengattungen ineinander fließen und andererseits dieselben Medien auf unterschiedliche Weisen und prinzipiell überall und jederzeit genutzt werden können.
  3. Sie geht davon aus, dass Inhalte im Netz immer auf die Benutzer, die Fragenden und Nachfragenden bezogen sind. Im Netz werden Inhalte nicht auf einer leeren Fläche angeboten—dem Bildschirm, der dunkel ist, bevor der Fernseher eingeschaltet wird oder der Zeitung, die nur von Journalisten gefüllt wird. Im Netz eröffnen die Benutzer das Gespräch. Inhalte stehen in einem vom Nutzer bestimmten konkreten Kontext und beantworten Fragen. Sie werden z.B. aufgerufen, weil sie die Benutzer bereits geteilt haben. Sie sind der Ausgangspunkt für weitere Interaktionen.
  4. Contentstrategie beschäftigt sich nicht nur mir dem Produzieren, sondern auch mit dem Kuratieren von Inhalten. Für die Contentstrategie ist die Perspektive der Nutzer wichtiger als die der Quelle. Die Nutzer müssen die richtigen, nicht unbedingt die eigenen Inhalte erhalten.
  5. Contenstrategie ist eine Basis für Contentmarketing. Inhalte dienen dazu, glaubwürdig Aufmerksamkeit für Produkte und Organisationen zu erzeugen. Der Boom des Contentmarketing ist keine Folge des Interesses an Contentstrategien, aber er ist ein wichtiges Motiv dafür, sich mit Contentstrategien zu beschäftigen.

Die Contentstrategie geht davon aus, dass Inhalt heute in anderer Form präsent ist als früher, und sie formuliert, wie Inhalte entwickelt werden können, die unter diesen neuen Bedingungen die Bedürfnisse von Nutzern erfüllen. Vieles spricht dafür, dass auch News Organizations heute nicht nur eine Produkt und eine Markenstrategie brauchen, sondern eine Inhaltsstrategie. Auch sie sind heute vor allem durch ihre Inhalte im Netz, nicht durch ihre Distributionswege präsent und werden durch ihre Inhalte als Einheit wahrgenommen. Ich versuche in diesem Post, einige der Erkenntnisse von Nadja Hahn auf eine Contentstrategie für Öffentlich-Rechtliche zu beziehen. Dabei habe ich nicht die Absicht, an alles und jedes mit dem Buzzword Contentstrategie heranzugehen, sondern die Besonderheiten der Erstellung von Inhalten für das Web herauszuarbeiten.

Public Value als Kernbotschaft

Die Orientierung an expliziten Zielen ist für eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt sicher nichts Neues. Beim ORF gehört der public value zu den expliziten Zielen der Organisation. Allerdings verändert sich durch soziale Medien, wie Nadja Hahn schreibt, der Inhalt des Begriffs public value. Die Benutzer definieren mit, was public value heisst:

Social Media is also changing the definition of public value, since the voice of the audience has more influence on editorial decisions than ever before. Therefore, regulation that limits the social media activities of public service broadcasters stands in the way of delivering public value to the audience. Media laws should clarify the role of new technologies. (S. 27/28)

Vereinfacht könnte man sagen: Die Gemeinwohlorientierung gehört zur Mission einer öffentlich-rechtlichen Anstalt (und zwar in einer anderen Weise als bei privaten Anbietern). Soziale Medien erlauben, dass in einem laufenden Dialog mit dem Publikum bestimmt werden kann, was public value jeweils konkret bedeutet. Was Gemeinwohl ist, kann also nicht von Führungsgremien dekretiert werden.

Konkretisieren lässt sich die Orientierung am Gemeinwohl dadurch, dass der einzelne Journalist oder die einzelne Journalistin dem Publikum für ihre Tätigkeit verantwortlich, accountable, ist. Nadja Hahn stellt ausgehend vom Jimmy-Savile-Skandal dar, was accountability im Journalismus heute bedeuten kann: Die immer mitlaufende Pflicht zur Begründung der eigenen Tätigkeit und ihres journalistischen Charakters.

Entkoppelung von Inhalten und Plattformen

Der zweite und dritte Punkt der Liste oben, die Entkopplung der Inhalte von Kanälen und ihre Abhängigkeit von den Interaktionen der Benutzer, unterscheiden eine Contentstrategie deutlicher von den Strategien von Medienhäusern in der Vornetzwelt. Abgelöst von Publikationsformaten, z.B. einer Sendung, werden die auf den verschiedensten Wegen erreichbaren Inhalte zum eigentlichen Produkt. Von einer Inhaltsstrategie kann man sprechen, wenn diese Inhalte unabhängig von den bisherigen Kanälen wie Radio oder Fernsehsendern bzw. unabhängig von Sendeformaten (Nachrichten, Feature) konsistent entwickelt werden. (Das wird oft als crossmedial bezeichnet; aber es geht eher darum, jenseits der Grenzen der bisherigen Gattungen zu produzieren.) Um diese Konsistenz geht es in Nadja Hahns Studie, wenn sie über die Integration der Social Media-Aktivitäten in den Newsroom bei der BBC schreibt. Sie zitiert einen Verantwortlichen:

Frankel explains why it is important to have this team at the centre of the newsroom: “The social news team have to work closely together with Internet team. The website is constantly being refreshed. It would be nonsense for them to sit separately. We need to ensure that every tweet and post on Facebook is complied by journalists around them and matches the content on the website. (S. 23)

What’s the public value in this? The audience gets a coherent product and is not hearing different takes on the same story on different platforms and that increases credibility, Frankel says (S. 24)

Konkret wird die Ablösung der Inhalte von Formaten im Newsroom, also in einer Art und Weise, die Redaktion zu organisieren.

Der integrierte multimediale Newsroom verändert die Kontrolle über die Inhalte und ihre Erstellung in einer Weise, die deutlich an die Forderung der Contentstrategie nach einer einheitlichen Content Ownership in einer Organisation erinnert. Journalistische Praxis und redaktionelle Praxis im Web gehen hier ineinander über.

Nutzererfahrung und journalistische Arbeit

Am meisten erinnert der journalistische Umgang mir sozialen Medien an die Arbeitsweise der Contentstrategie, wenn es darum geht, direkt auf die User zu reagieren. Inhalte bewusst und methodisch für die Bedürfnisse der Nutzer zu produzieren, ist eines der wichtigsten Ziele einer Contentstrategie. Wenn Journalisten mit sozialen Medien arbeiten, werden die Inhalte, die Geschichten, nicht nur für User sondern auch mit Usern und durch User entwickelt. Dabei sorgen soziale Medien für ein ständiges Feedback. Nadja Hahn schreibt nicht über User Experience Design. Es ist aber die Konsequenz ihrer Beobachtungen, dass sich Journalisten konsequent und im einzelnen am konkreten Nutzen für User orientieren. Selbst da, wo das Nutzerverhalten noch deutlich an das Anschalten des Fernsehers oder das Aufschlagen der Zeitung erinnert, gehen sie mit den Inhalten anders um als Fernsehzuschauer und Zeitungsleser: Die User können jederzeit auf die Inhalte zugreifen, sie suchen gezielt nach einzelnen Themen, sie können sie mit Inhalten aus anderen Quellen und eigenen Inhalten verbinden. Dabei stellen die sozialen Medien nicht zuletzt einen Feedback-Kanal dar, an dem sich Journalisten laufend orientieren können:

“I have no doubt that social media enriches the experience of the viewer, it’s a dialogue”, says Enders. “It’s not just a dialogue between individuals and the organisation, but a dialogue between individuals which the organisation is tracking and understanding how people are reacting”. (S. 11)

Journalisten als Kuratoren

Wenn Journalisten Inhalte von Usern aufgreifen und sie gemeinsam mit ihnen weiterentwickeln, werden sie zu Kuratoren. Journalisten wissen nicht unbedingt mehr als die User, sie haben auch keinen privilegierten Zugang zu Quellen. Sie sorgen dafür, dass die Inhalte auf die User zugeschnitten sind, sie arbeiten Geschichten auf und rahmen sie. Auch darin nähern sich journalistische Arbeit und Contentstrategie einander an.

“We talk to ordinary people in extraordinary situations. We get information nobody else has. The audience is at the heart of what we do. If we didn’t do that, nobody would watch the BBC” (Dhruti Shah, BBC) … Doble says this was real interactive journalism: “We didn’t say to people: ‘Hey look at our story’, we were saying ‘tell us your story and we will make it our news”. (S. 16/17)

Contentmarketing

Contenstrategie und Contentmarketing werden oft miteinander verwechselt. Auch wenn es beim Marketing mit Content um einen anderen Aspekt geht als bei der Entwicklung von nutzbaren Inhalten im Sinne der strategischen Ziele einer Organisation, verweisen Contenstrategie und Contentmarketing doch aufeinander. Wenn Öffentlich-Rechtliche soziale Medien verwenden, dann betreiben sie Marketing mit journalistischen Inhalten für journalistische Inhalte und für ihre eigene Organisation. Für einige der Gesprächspartner, die Nadja Hahn zitiert, ist Content Marketing der wichtigste Aspekt von sozialen Medien. Soziale Medien erreichen die User, vor allem jüngere User, da, wo sie sich im Netz aufhalten:

More strikingly, 43% of young people, aged 16-24, find their news on social media rather than through search engines. Almost 60% of the respondents say they are more likely to click on a news link that comes from someone they know compared to a link from elsewhere. Most links are shared via Facebook (55%), followed by Email (33%) and Twitter (23%).4 These numbers show that increasingly, people don’t actively look for news, but instead the news finds them on social media. In effect, young people especially tend to “stumble upon” news. (p.8)

Contentstrategien sind mehr als Produktstrategien

Ich habe in diesem Post einige Argumente dafür aufgezählt, dass auch journalistische Anbieter und speziell Öffentlich-Rechtliche für das Web eine Inhaltsstrategie entwickeln. Eine Inhaltsstrategie ist etwas anderes als eine Produktstrategie, denn sie geht von den verknüpften Inhalten einer Organisation und ihrer spezifischen Nutzung im interaktiven Medium Web aus (wobei sie auch andere Plattformen einbezieht). Wie sich Inhaltsstrategien von Markenstrategien unterscheiden, wäre ein eigenes Thema.

Abschließend möchte ich gerne auf ein weiteres Konzept hinweisen, das man ebenfalls als Teil einer Inhaltsstrategie für Öffentlich-Rechtliche verstehen kann: Lorenz Lorenz-Meyer hat den Öffentlich-Rechtlichen auf der letzten re:publica und dann in einem Carta-Beitrag nahegelegt, sich als Kuratoren gesellschaftlicher Debatten zu verstehen. Eine mögliche Plattform dafür wäre eine Synthese aus dem größtenteils automatisch arbeitenden Rivva und dem redaktionell erstellten Perlentaucher. Solche Kuratier-Umgebungen würden sehr gut zu einer Social Media-orientierten Contentstrategie passen, wie sie sich aus Nadja Hahns Studie ableiten lässt.

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