Wie viele Webnutzer fürchte ich, nicht satt zu werden. Ich verfolge weit mehr Quellen — meist Newsfeeds und Life-Streams —, als ich verdauen kann. Trotzdem erinnere ich mich selten an einen neuen Geschmack, dafür aber an viel Fades: Blogger, Journalisten und Akademiker kochen fast immer nach denselben Rezepten und geben sich zufrieden, wenn die Gäste nicht rebellieren. Der organische Intellektuelle ernährt sich von Fastfood und Hausmannskost.

Martin Lindner hat mir gestern eine Küche gezeigt, in der eine neue und exakte Verarbeitung Eigenschaften gewöhnlicher Zutaten betont, die bisher niemand herausschmeckte. Venkatesh Rao analysiert in einem langen Post die Rhetorik des Hyperlinks, das er als Wasserstoffmolekül der Information bezeichnet. Rao fragt, welche Rolle Links bei der Konstruktion der Bedeutung eines Texts haben. Ich will seinen komplexen und anspielungsreichen Beitrag hier nicht referieren oder zusammenfassen, dazu muss ich noch mehr über ihn nachdenken. Wer sich dafür interessiert, was Hypertext ist, sollte ihn lesen. (Ich werden ihn beim Unterrichten des Schreibens für das Web sicher als einen Basistext benutzen.) Ich will hier nur drei Gedanken oder Themen hervorheben:

  1. Rao unterscheidet scharf zwischen Hyperlinks und herkömmlichen Verweisen in gedruckten Texten. Mit einem Link kann man auf eine Quelle verweisen, also zitieren, man kann aber auch auf ganz andere Informationen zeigen. Links vermischen Stimme, Figur und Grund, sie öffnen die Texte, geben dem Leser die Möglichkeit, eigene Wege in oder zwischen verschiedenen Texten einzuschlagen und heben letztlich die Einheit des Textes auf, lassen alle Texte zu einem werden.

  2. Rao begründet, warum Links zu einer eigenen Rhetorik von Hypertexten führen. Sie bilden nicht nur eine Zusatzschicht neben oder über anderen Textebenen. Dass sich eine verlinkter Text anders auf seinen Kontext bezieht als ein nicht verlinkter Text, drückt sich auch auf der sprachlich-stilistischen Ebene aus. Der Satz Amitabh stared grimly from a tattered old Sholay poster, ist z.B. für einen nicht-indischen Leser nur mit Zusatzinformationen zu entschlüsseln, die gedruckt anders (durch Kommentierungen und Erläuterungen) gegeben werden müssen als es im Web möglich ist, wo man schreiben kann: Amitabh stared down grimly from a ratty old Sholay poster. (Ich sage das hier sehr trocken; Rao führt es mit Beispielen, farbig und spannend aus.)

  3. Rao zeigt — quasi nebenbei — dass der Leser, wenn er einen Text im Web versteht, sich bei der Konstruktion der Bedeutung anders auf den damit verlinkten Autor bezieht als bei gedruckten Texten. Online-Profile des Autors beeinflussen z.B., wie dessen Blogposts interpretiert werden — und umgekehrt.

Eine wichtige Konsequenz dieser Überlegungen: Das Web ist nicht ein Metamedium, also eine Plattform für Text, Bild, Ton und andere Medien, sondern ein eigenes Medium, dessen Grammatik aud den verschiedenen Typen von Links besteht, die in ihm möglich sind.

Für die Analyse könnte der Ansatz Raos bedeuten, dass man für das Web charakteristische Phänomene als als spezifische Formen von Verlinkung oder zumindest als daran gekoppelt beschreiben kann (Web-Wissenschaft als Link-Wissenschaft). Online-Reputation ließe sich dann als Bedeutungkonstrukt erfassen, das von der Verlinkung von Online-Profilen, persönlichen Äußerungen z.B. in Blogs und einem transparenten sozialen Netzwerk abhängt. Auch für die Formate des Online-Journalismus sind Linktypen charakteristisch, durch die z.B. Blogposts, Wikis, Bookmarks und Foren aufeinander bzw. auf einen Topic bezogen werden. Die verschiedenen Formate von Microcontent (Blogs, Wikis, Microblogs) sind unterschiedliche Formen der Entwicklung von Text um Links herum.

Praktisch heisst das: Man führt in die Kommunikation im Web ein, indem man den Umgang mit Links lehrt. Das hört sich sehr bescheiden an — aber nur so lange, wie man Links als technische Phänomene und nicht als soziale Beziehungen begreift.

Norbert Bolz schreibt in Medienkompetenz und Weltwissen:

Was einer heute weiß, ist das recht zufällige Resultat riskanter Selektionen. Mit Bildung im humanistischen Sinn hat das nichts mehr zu tun. Statt Bildung fordert der Markt ein Lernen des Lernens. In der modernen Welt kann man nicht mehr für das Leben lernen, sondern macht die fundamentale Erfahrung: je mehr man gelernt hat, um so mehr muss man noch lernen. [Texte zur Medientheorie, p.328]

Zufällig bin ich vor ein paar Tagen auf diesen Text gestoßen. Am selben Abend twitterte mir Colin Gregory-Moores:

@heinz We have long paid lip service 2 non-hierarchical learning, but neglected the prerequisites: high-level literacy & critical thinking.

Ich mache immer wieder dieselbe Erfahrung. Nicht-hierarchisches Lernen — selbstgesteuertes Lernen, das sich nicht an fixen Autoritäten und Wissenshierarchien orientieren kann — setzt ein hohes Maß an Bildung und Kritikfähigkeit voraus. Dem Satz von Norbert Bolz würde ich entgegenhalten: Lernen des Lernens funktioniert nicht ohne Bildung — oder: Es ist eine ihrer wichtigsten Komponenten.

Seit ein paar Tagen finde ich mich in Feedly hinein. Feedly ist ein Firefox-Addon, das die Inhalte des Google Readers in einer für meinen Geschmack sehr viel angenehmeren, magazinigen Oberfläche präsentiert. Bei mir sieht das gerade so aus:

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Man kann die Feedly-Oberfläche individuell anpassen; sie unterscheidet sich von der üblichen Oberfläche des Google Readers vor allem durch eine intuitive visuelle Hierarchie zwischen Meldungen und dadurch, dass Feedly viele Nachrichten in der Normalansicht überhaupt nicht anzeigt, also herausfiltert. Außerdem werden einige Fotos und Videos präsentiert, die man im Google Reader nur nach dem Klick auf eine der Meldungen sieht. Die Oberfläche erinnert an eine Zeitung; bestimmte Inhalte werden „gefeaturet“, während der Google Reader optisch nicht zwischen Inhalten unterschiedlicher Wichtigkeit unterscheidet.

Nicht Redakteure, sondern Algorithmen entscheiden bei Feedly, ob und wie wichtig eine Nachricht ist. Feedly kann außer der Aktualität auswerten, ob ein Newsfeed zu den Favoriten eines Users gehört, und ob ihn andere Benutzer der Google Readers empfohlen (geshared) haben. Wenn man Feedly installiert hat, zeigt eine Mini-Toolbox auch bei anderen Seiten an, ob die Seite bereits empfohlen wurde bzw. wie oft sie bei FriendFeed erwähnt wurde. Außerdem kann man die Seite über die Toolbox selbst sharen bzw. für späteres Lesen markieren:

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Wie dieses Empfehlungssystem genau funktioniert, durchschaue ich noch nicht. Auch mit den anderen Funktionen muss ich mich noch vertraut machen. Sehr gut gefällt mir, wie die kompletten Texte von Artikeln angezeigt werden, auf die man klickt. Außerdem kann man mit Feedly direkt in der jeweiligen Originalquelle, also z.B. einem Blog, kommentieren. Interessant ist auch die Integration mit Ubiquity, durch die man Feedly-Funktionen via Text-Kommando auf jeder im Firefox dargestellten Seite verwenden kann.

Das Experimentieren mit Feedly macht mir klar, dass ich mich in der Lehre mit dem Theman Nachrichten-Interfaces im Web bisher viel zu wenig bzw. gar nicht beschäftigt habe. Dabei interessiert mich selbst vor allem der soziale Aspekt dieser Interfaces, deren visuelle Eigenschaften soziale Wertungen übersetzen, bei Feedly z.B. direkt die Bewertung einer Information durch das Netzwerk eines Benutzers. Feedly erleichtert die people centered navigation innerhalb der persönlichen Nachrichtenquellen.

Mehr Informationen zu Feedly — möglicherweise Anlass für weitere Posts:

Max Kossatz und Mathew Ingram waren schon von der ersten Beta vor einem Jahr begeistert; Max geht auch kurz auf das Geschäftsmodell von Feedly ein.

Gutes Tutorial bei Geek Girl. ReadWriteWeb zu Feedlys Version der River-of-News-Darstellung, die Robert Basic bei der ersten Version vermisst hatte. Das Feedly-Blog über das Exposé-Feature, das better filtering, more density and better integration with the real-time web ermöglicht.

Dieses Tutorial behandelt die Implementierung von Feedly-Kommandos mit der Mozilla-Erweiterung Ubiquity — die ich für einen von vielen Gründen halte, am Firefox als wichtigstem information broker festzuhalten.

Am 10. Juni habe ich Martin Langeder einige Fragen zu Lost and Found beantwortet. Martin Langeder stellt mein Blog heute im Österreichischen Journalist vor. Hier meine Antworten; Martin Langeder hat mir erlaubt, sie zeitgleich zum Artikel online zu publizieren.

1) Warum bloggen Sie? Und seit wann?

Ich versuche, Dinge festzuhalten, Gedanken zu klären, die mir wichtig
sind, und für andere erkennbar zu werden. Ich habe kein bestimmtes
Ziel. Mir gefällt diese Schreibform.

Ich weiß nicht genau, wann ich angefangen habe. Ich hatte ziemlich
früh einen Account bei Pyra Labs, und etwa ab 2002 habe ich mit Chris Langreiters vanilla gebloggt. Damals habe ich das Blog aber eher als Werkzeug benutzt, um Links zu sammeln. Intensiver blogge ich seit
2005.

2) Wie lautet die Selbstcharakterisierung Ihres Blogs?

Sie ist für mich ein dauerndes Problem, und ich ändere sie
gelegentlich. Im Augenblick lautet die Tagline: Notizen aus Graz über
Soziale Medien und Journalismus im Web
.

3) Wie viel Zeit verwenden Sie täglich für das Schreiben der Beiträge,
das Lesen der Kommentare etc.? Ist es Teil des Jobs oder reines
Privatvergnügen?

Zwischen 0 und zwei Stunden, je nachdem, wieviel Zeit ich dafür habe
(in den letzten Monaten leider kaum). Das Bloggen ist für mich Teil
des Jobs und Privatvergnügen. In den vergangenen Monaten habe ich
versucht, in meinem Büro in der Fachhochschule zu bloggen – es ist mir
nicht gelungen. In einem Büro ist wohl für das Schreibvergnügen zu
wenig Platz.

4) Was ist Ihre Hauptinspirationsquelle?

Ich habe ein paar Vorbilder in der ersten Generation der Blogger. In
Amerika Dave Winer, Jeffrey Zeldman, Tim Bray, David Weinberger, Doc Searls; in Europa Jörg Kantel und Chris Langreiter. Inzwischen lese ich sehr viele andere Blogs. In Österreich sind Max Kossatz, Helge Fahrnberger und Luca Hammer für mich am wichtigsten, außerdem Georg Holzer, Jana Herwig und Christoph Chorherr, hier in Graz auch Christian Klepej. Es gibt auch ein paar fernere Quellen — ohne dass ich mich mit großen
Namen schmücken will. Montaigne und Erasmus von Rotterdam würde ich
gerne als Vorbilder nennen können.

5) Welches Feedback bekommen Sie auf Ihre Bloggerei – von Studenten,
Kollegen und Lesern?

Von Studenten: wenig, außer dass ich vielleicht einige zum Bloggen
gebracht habe. Ich schreibe wohl nicht unmittelbar genug. Mir ist aber
wichtig, dass die Studenten sehen können, was ich denke und wie ich
schreibe. Kollegen an der FH lesen mein Blog, können aber nur selten
etwas damit anfangen. Ein paar besonders Wohlmeinende haben mich schon
wegen frecher Bemerkungen in Blogs und auf Twitter bei unserer
Geschäftsleitung verpetzt. Am meisten Echo bekomme ich von anderen
Bloggern und Leuten aus der Social Media-Szene. Und — nicht zu
vergessen — von meinem inzwischen 87-jährigen Vater, der mein Blog
sehr genau liest.

Ich habe durch das Blog eine Reihe von sehr interessanten und sehr
netten Leuten kennengelernt. Obwohl ich wenig Leser habe, hat das Blog
meinem Ruf außerhalb der Blogosphäre genutzt.

6) Wie viele Besucher klicken im Schnitt täglich auf Ihren Blog?

Ich habe auf meinem Blog Links zu Sitemeter und einen FeedBurner-Button installiert, damit diese Zahlen transparent sind.
Auf die Website gehen zwischen 30 (wenn ich nichts schreibe) und über
100 Leuten (bei neuen Einträgen, die verlinkt werden) pro Tag; der
RSS-Feed hat ca. 300 Abonnenten.

7) Wie heißt Ihr aktueller Lieblingsblog? Warum ist er derzeit Ihr Favorit?

Mein Lieblingsblogger ist nach wie vor Dave Winer. Ich schätze seine
Schreibweise — ungekünstelt und sehr präzise — und seinen Blick auf
Medien und Technik.

8) Was können Blogger in Österreich von Bloggern z.B. in den USA noch lernen?

Vor allem: selbstbewusst Themen zu setzen. Wichtiger finde ich aber,
dass die Österreicher außerhalb der Blogspäre lernen, was man mit
Blogs machen kann.

9) Ein Blick in die Zukunft: Welche Pläne haben Sie für Ihren Blog?

Mehr und leichter schreiben. Ich möchte Lost and Found noch mehr
als meine persönliche öffentliche Plattform nutzen und dabei mit
unterschiedlichen Tonlagen experimentieren. Außerdem würde ich gerne
die älteren Inhalte besser erschließen. Eine offene Frage für mich
ist: In welchem Verhältnis zueinander stehen die verschiedenen Social
Media-Plattformen die ich nutze, außer meinem Blog z.B. auch Twitter,
Friendfeed, delicious und Facebook?

10) Was können denn österreichische Journalisten vom Bloggen lernen?

Bloggen ist eine onlinetypische Schreibweise – eine der ersten, die
sich herausgebildet haben und in der es sogar schon Traditionen gibt.
Plakativ gesagt: Journalisten können vom Bloggen lernen, wie man fürs
Web schreibt. Es gibt einen eigenen zeitlichen Rhythmus: Laufende
Aktualisierungen. Man schreibt immer verlinkt, mit Beziehung auf
andere Texte. Man steht im Dialog mit anderen Bloggern und mit den
Leuten, die kommentieren. Man ist als Person deutlicher erkennbar als
in herkömmlichen Medien und muss an seiner individiuellen „Marke“
arbeiten. Man schreibt improvisierter, mündlicher als für den Druck –
denn ein großer Teil des Redaktionsprozesses findet erst in der
Diskussion oder in anderen Posts statt.

11) Warum sollten – sowohl aus Ihrer persönlichen Sicht, als auch aus
Ihrer Sicht als Medienwissenschafter – mehr Journalisten bloggen?

Durch Blogs können Journalisten ihre Arbeit in Kontexte stellen, die zum Web passen. Sie dokumentieren wie sie arbeiten, klären über ihre
Motive auf, stellen Vermutungen, Interviewfragen und Quellenmaterial
zur Diskussion und können ihre Arbeiten laufend aktualisieren. Jeff
Jarvis hat in Replacing the article beschrieben wie Blogposts mit anderen Formen (Wiki, kommentierte
Links, Diskussionsforum) zusammen funktionieren können.

Persönlich sehe ich die Blogger noch immer als eine Community. Diese
Community wird interessanter, wenn mehr Journalisten, die etwas zu
sagen haben, an ihr teilnehmen.

12) Und eine Bitte habe ich noch: Können Sie mir bitte Ihr Alter verraten?

Ich bin 1956 geboren und gerade noch 52. Für dieses Genre also alt. Ich bin sehr früh mit Computern in Berührung gekommen und habe mich später auch für Software-Entwicklung interessiert — von dort ist der Weg zum Bloggen vielleicht kürzer als vom herkömmlichen
Journalismus.

Wer im Web Fehler vermeiden will, begeht wahrscheinlich den schwersten möglichen Fehler. Bei den Grazer Minoriten haben Christoph Chorherr und Dieter Rappold über das Scheitern gesprochen. Chorherr zitierte — wie in seinem Blog — Beckett:

Ever tried.
Ever failed.
No matter.

Try again.
Fail again.
Fail better.

Dieter Rappold verwies auf einen Satz von Jeff Jarvis:

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Learn more in Amazon Kindle’s privacy policy.

Videojournalismus von Andre Zalbertus und Michael Rosenblum verstanden. Sie schreiben über die Erfindung der Kleinbildkamera:

Diese technischen Erfindungen waren die Grundlage der Vorstellung von Kodak, dass jeder ein Fotograf sein konnte. Dies war die Demokratisierung der Fotografie und in vielerlei Hinsicht auch die Geburt der visuellen Welt, in der wir heute leben.

Da es jetzt Rollfilme statt Planfilme gab, konnten mehr Fotos gemacht werden. Der Fotograf konnte so mehr Risiken eingehen und die künstlerische Freiheit von Fehlschlägen genießen.

Wenn es fast nichts mehr kostet zu scheitern, wird mehr probiert. Und je mehr probiert wird, desto größer sind die Chancen, dass Neues und Brauchbares entsteht. Man braucht heute nur noch Zeit, aber kein Kapital, um etwas zu publizieren. Massen können es sich leisten die Freiheit von Fehlschlägen zu genießen. Wer in dieser Umwelt Fehler vermeiden muss (z.B. weil er einen teuren Distributionsapparat unterhält), wird untergehen.

Gestern: Telefongespräch mit @brodnig über die Frage: Wozu Twitter? Ich habe schon einmal versucht, diese Frage nicht zu beantworten, und ich glaube noch immer, dass es keinen Sinn hat, nach dem Sinn, der wahren Bedeutung oder dem höheren Zweck von Twitter zu fragen.
Spätestens die Ereignisse nach der angeblichen Wahl im Iran haben aber gezeigt, was man mit Twitter besser machen kann als mit allen Werkzeugen, die es vorher gab: Man kann Nachrichten an eine beliebige Zahl von Followern verschicken, die die Nachricht weitergeben, wenn sie sie interessant finden. Twitter ist die Open Source-Version der Nachrichtenagentur. Dass Michael Jackson gestorben ist, habe ich gestern Nacht via Twitter erfahren. So wie jeder Informationen, die er für wichtig hält, in der Wikipedia veröffentlichen kann, so kann jeder via Twitter auf Ereignisse hinweisen. In der Wikipedia kontrollieren freiwillige Redakteure, ob die Information stimmt und relevant ist. Bei Twitter entscheiden die User, welchen Quellen sie trauen.
Mit Twitter kann man nicht mehr tun, als auf ein Ereignis hinzuweisen. Alle weiteren Informationen kann man nur verlinken. Twitter ist also eine Art Headline-Service.
Nachrichten zu veröffentlichen, ist im Web auch ohne Twitter möglich. Aber Twitter vereinfacht es radikal und bietet eine Infrastruktur, die es extrem einfach macht, Nachrichten zu folgen. Twitter ist — viel mehr als Blogging-Umgebungen — ein Werkzeug zum Publizieren wie zum Verfolgen von Nachrichten.

Einige wenige meiner Kollegen lehnen Gmail ab. Ich muss das hässliche und unpraktische Outlook benutzen, wenn ich ihnen Mails schicke. Und sie verlangen sogar, dass ich Mails von ihnen oder an sie nicht in meinem Gmail-Account speichere. Sie befürchten, dass Google Profile von ihnen anlegt und diese Profile missbraucht.

Für mich ist Gmail — ich verwende es mit der GTDInbox — eines der wichtigsten Arbeitsinstrumente. Ich kann praktisch unbegrenzt viel speichern (die interne Mailbox bei meinem Arbeitgeber ist immer wieder überfüllt), finde die Informationen wieder und und kann sie leicht organisieren. Der Komfort ist so gross, dass ich darüber hinwegsehen kann, dass Anzeigen für Liebe ab 30 oder mit der Aufforderung Folgen Sie Ihrer Berufung….Werden Sie Schamane! eingeblendet werden. Außerdem unterrichte ich Web Publishing und muss brauchbare webbasierte Tools kennenlernen — das geht nicht, ohne sie selbst intensiv zu benutzen. Wer Gmail nicht verwendet, wird Google Wave kaum benutzen können, und wer nicht versteht, was Google Wave bedeuten könnte, sollte nicht zu angehenden Journalisten über das Web sprechen.

Handle ich unverantwortlich, wenn ich Gmail benutze? Liefere ich vertrauliche Informationen einer Datenkrake aus? Ich glaube: Nein! Ich bin mir aber nicht ganz sicher, und ich bitte um Diskussion und Kritik — nicht zuletzt übrigens Kollegen, die das hausinterne Exchange-System (von dessen Sicherheit wiederum auch nicht alle überzeugt sind) für vertrauenswürdiger halten.

Ein paar Überlegungen dazu:

  1. Viele mögen diese erste Überlegung für naiv halten: Google hat Datenschutzbestimmungen. Wer Dienste von Google benutzt, erkennt diese Bestimmungen an, und Google verpflichtet sich dazu, sie einzuhalten. Diese Bestimmungen lassen, wenn ich sie richtig verstehe, nicht zu, dass Google Profile von erwähnten Personen, z.B. Adressaten, anlegt, und sie schließen definitiv aus, dass diese Profile zu kommerziellen Zwecken weitergegeben werden. Sollte ein Missbrauch vorkommen, kann man dagegen klagen. (Mir sind solche Klagen nicht bekannt.) Warum sollte sich Google dem Risiko solcher Klagen — und dem PR-GAU, den Verstöße gegen diese Regeln bedeuten würden — aussetzen? Gibt es Gründe, die Seriosität des Unternehmens Google anzuzweifeln?

  2. Email-Daten sind prinzipiell nicht sicher; sie lassen sich an vielen Stellen scannen und werden gescannt, z.B. um Spam zu bekämpfen. Will man ausschließen, dass Emails von Dritten gelesen werden, muss man Programme wie Pretty Good Privacy zur Verschlüsselung verwenden. Die Verwendung solcher Verschlüsselungen ist zusammen mit Gmail möglich (ich habe sie noch nicht probiert). Anders gesagt: Wer vor Gmail Angst hat, sollte keine unverschlüsselten Emails versenden.

  3. Es besteht sicher ein nicht geringes Risiko, dass Google personenbezogenen Daten an Regierungsstellen und z.B. amerikanische Geheimdienste weitergibt. Googles Datenschutzbestimmungen schließen das nicht aus. Allerdings ist auch nicht auszuschließen, dass andere Emails von Geheimdiensten verwendet werden. Ich würde über Gmail nicht unverschlüsselt Informationen austauschen, die für Geheimdienste (und ihre Klienten, z.B. möglicherweise US-Unternehmen, die Wirtschaftsspionage betreiben) interessant sein könnten — wobei fraglich ist, ob Gmail dabei angesichts einer Vielzahl anderer Überwachungstechniken das oder auch nur ein Hauptrisiko darstellen würde. In meinem beruflichen Umfeld an einer steirischen Fachhochschule habe ich mit Geheimdienst-relevanten Informationen noch nicht zu tun geabt.

  4. Wer Gmail nicht toleriert, darf prinzipiell keine Speicherung von Daten außerhalb eines geschlossenen Systems zulassen, also z.B. auch nicht andere Webmail-Anbieter oder Amazon EC2. Das wäre weltfremd und reaktionär, es würde wohl bedeuten, auf moderne Web- und Internettechnologie überhaupt zu verzichten. Gmail im Arbeitsleben verlangt wie viele andere Technologien — vom Firmenlaptop, den man mit nach Hause nimmt, bis zum privaten Telefon, über das man dienstliche Gespräche führt — dass man es verantwortungsvoll benutzt. Davon muss eine Firma bei ihren Mitarbeitern ausgehen — und ganz sicher eine Hochschule bei ihren Lehrern.

Mein persönliches — sicher nicht ganz begründbares — Gefühl ist: Die Furcht vor Gmail ist wie andere Formen der Anti-Google-Hysterie Teil der amorphen Angst vor weiterer Modernisierung, dem Internet überhaupt und obskuren Kräften wie dem Neoliberalismus. Sie trägt zur Sicherheit der Benutzer nicht nachweisbar bei und erschwert es, über die wirklichen Risiken von Internettechnologien zu diskutieren. Ich lasse mich aber gern korrigieren.

Für morgen ist die Wahl des nächsten Rektors der FH Joanneum angesetzt. Gewählt wird vom Kollegium, das die Lehrenden, die Studierenden und die Studiengangsleiter vertritt. Ich habe bereits auf die Profile der Kandidaten im Web hingewiesen.

Der Betriebsrat unserer Hochschule hat den Kandidaten drei Fragen gestellt und ihre Antworten hier veröffentlicht. Der Rektor der FH Joanneum ist auch wissenschaftlicher Geschäftsführer und damit Partner und Antipode des Betriebsrats.

Die Antworten bestätigen mir, dass nur einer der Kandidaten wählbar ist. („Die Phrase ist das gestärkte Vorhemd vor einer Normalgesinnung, die nie gewechselt wird.„)

Sollen wir über die Wahl nicht öffentlich diskutieren? Ich sehe nichts, das dagegen spräche. Die Steuerzahler finanzieren uns, und wir arbeiten für die Allgemeinheit. Die Öffentlichkeit darf erfahren, wer uns als Rektor vorgeschlagen wird.

Immer wieder stellen Blogger in Listen zusammen, welche Kompetenzen Online-Journalisten und Online-Kommunikatoren heute haben müssen. Interessant finde ich unter anderem:

Ich arbeite mich gerade durch diese und weitere Listen hindurch, um genauer beschreiben zu können, welche Kompetenzen wir unseren Absolventen vermitteln sollten. Vor allem für die Studenten selbst ist es wichtig, dass wir genau sagen können, was wir ihnen beibringen wollen. Ich möchte präzisieren, was ich hier begonnen habe.

Die meisten dieser Listen sind — oft sehr brauchbare — ad-hoc-Zusammenstellungen. Eine Sonderrolle spielen die Ergebnisse des Convergence Journalism Skills Survey der Skills Group, die mit einer Reihe britischer Institutionen zusammen unternommen wurde. Der Ansatz ist sicher konservativer als bei den oben zusammengestellten Links (Besonderheiten sozialer Medien geraten nicht in den Blick); dafür sind die Thesen aber empirisch belegt.

Eine Zusammenfassung hat Paul Bradford in einem Video dokumentiert. Was vermissen Arbeitgeber bei Bewerbern um journalistische Jobs? Am wichtigsten sind ihnen nach wie vor klassische journalistische Fähigkeiten; vor allem bei folgenden Kompetenzen stellen sie ein skills gap fest:

  • Finding own stories 64%
  • Use of language 51%
  • Writing 48%
  • Media law 46%
  • Shorthand 43%
  • News gathering 38%

Mehr Kowhow bei der Produktion digitaler Medien wünschen sie sich vor allem auf diesen Gebieten:

  • Video skills — recording and editing 59%
  • Writing for search engine optimization 57%
  • Writing for multi-platforms — 24hr rolling news 56%
  • Prioritising ways to tell a story 53%
  • Assembling news bulletins and audio/video packages 53%
  • Using Freedom of Information Act 53%

Die core skills würde ich den kommunikativen Kompetenzen zuordnen, die new skills dem Produktionswissen. Wahrscheinlich würde eine Untersuchung hier in Mitteleuropa zu ähnlichen Ergebnissen führen, abgesehen wohl von shorthand und Using Freedom of Information Act.

Wir sind übrigens an unserem Studiengang gar nicht so weit von den Anforderungen entfernt, die sich aus der britischen Studie ergeben — wenn wir uns auch sicher noch mehr auf die zentralen Kompetenzen konzentrieren müssen. Und: Wir müssen unser Angebot noch mehr auf einen Markt einzustellen, der durch seine Fähigkeit zur Veränderung mitdefiniert wird.