Eine der treffendsten Formulierungen, um die Ziele der Degrowth-Bewegung auszudrücken, lautet Living well within limits oder Gutes Leben innerhalb von Grenzen1. In seinem Buch Grenzen reflektiert Giorgos Kallis darüber, wie diese Grenzen zu verstehen sind. Er erklärt, warum die Grenzen, innerhalb derer wir gut leben können, nicht Grenzen sind, die uns die Natur oder die Erde setzt. Wir sind ausschließlich selbst dafür verantwortlich, diese Grenzen zu ziehen und zu respektieren. Ein gutes Leben führen wir nicht trotz, sondern wegen ihnen.
Kallis erläutert, warum es für die Gesellschaft wie für den einzelnen sinnvoll ist, Selbstbegrenzung anzustreben und dass unbegrenztes Wachstum im Widerspruch zur menschlichen Autonomie und zur Demokratie steht. Kallis Argumentation koppelt den Degrowth-Ansatz nicht von der aktuellen Situation des Planeten ab. Sie macht aber klar, dass es bei Degrowth nicht um eine Adaptierung der Wachstumslogik angesichts einer offenkundigen Krise geht, sondern um eine grundsätzliche gesellschaftliche Alternative zum Expansionismus.
Dazu unterscheidet Kallis zwei verschiedene Begriffe von Grenzen: das zuerst von Thomas Robert Malthus formulierte Verständnis von Grenzen als Ergebnis von Knappheit und die bis auf das antike Griechenland zurückgehende Vorstellung, dass Grenzen die Autonomie der Angehörigen einer Gesellschaft ausdrücken und sichern. Die Grenzen im malthusianischen Verständnis schränken lediglich ein und fordern deshalb dazu heraus, sie zu überschreiten: Sie begründen eine potentiell unendliche Expansion. Grenzen im von Kallis formulierten Sinn zu überschreiten, gefährdet dagegen die gesellschaftliche und die individuelle Freiheit.
Der Zirkel von Knappheit, Wachstum und grenzenlosen Bedürfnissen
Für Malthus und seine Nachfolger sind Grenzen das Ergebnis von Knappheit. Die Notwendigkeit des Wachstums wird mit dem Zwang begründet, der Knappheit zu entgehen. Da die menschlichen Bedürfnisse unbegrenzt sind, lässt sich die Knappheit nie aufheben. Sie ist Ansporn, unbegrenzt zu wachsen.
Kallis kritisiert diese ideologische Figur, mit der die unbeschränkte Ausbeutung von Menschen und Natur legitimiert wird. Die Beschränktheit der Ressourcen, die Notwendigkeit von Ökonomie, Arbeit und Wachstum und die Unbegrenztheit der Bedürfnisse setzen sich in ihr zirkulär gegenseitig voraus: Aus der Unbegrenztheit der Bedürfnisse folgt, dass die Ressourcen immer zu knapp sind. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, durch wirtschaftliche Aktivität das herzustellen, was nicht bereits gegeben ist. Durch die verbesserte wirtschaftliche Situation wachsen wiederum die Bedürfnisse und stehen in demselben Missverhältnis zu den Ressourcen wie in der Ausgangssituation.
Diese Erzählung über Knappheit ist … zirkulär oder tautologisch. Sie beginnt mit der Annahme, der Wunsch der Menschen, etwas zu tun oder zu haben, sei grenzenlos. Daraus wird Knappheit gefolgert, die Wachstum rechtfertigt, welches wiederum das grenzenlose Wollen und Streben der Menschen rechtfertigt. (S. 46)
Für Giorgos Kallis hat Robert Malthus diesen Zusammenhang zum ersten Mal formuliert. Malthus stellte Ende des 18. Jahrhundert die These auf, dass die Bevölkerung geometrisch wachsen würde, wenn sich die Menschen unbegrenzt fortpflanzen können (und nicht durch Not und Krieg daran gehindert werden). Die landwirtschaftliche Produktion lasse sich aber maximal arithmetisch steigern, wachse also im Gegensatz zur Bevölkerung nicht exponentiell. In Kallis‘ Interpretation prophezeite Malthus nicht die Bevölkerungskatastrophe, die später meist mit seinem Namen verbunden wurde. Er forderte, der Verschärfung des Mangels, zu der das Bevölkerungswachstum führt, durch Anstrengung zuvorzukommen. Damit formulierte er, wenn auch noch nicht ausdrücklich, die Wachstumslogik, der die kapitalistische Wirtschaft folgt. Die Nachfolger Malthus‘ in der Wirtschaftstheorie beschäftigen sich mit anderen Arten von Mangel—vor allem mit dem Mangel an Zeit, Kapital und Arbeit—und mit anderen Arten von Bedürfnissen. Immer sind diese Bedürfnisse nicht durch die vorhandenen Ressourcen, wohl aber durch Wachstum zufrieden zu stellen. Da es für die Bedürfnisse keine Grenze gibt, muss die Wirtschaft wachsen, müssen die Ressourcen also immer besser ausgenutzt werden.
Diese Gedankenfigur oder ideologische Konstruktion bezeichnet Kallis als Malthusianismus. Eine Pointe des Malthusianismus ist es, die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft zu rechtfertigen. Da die Ressourcen nicht ausreichen, können die Bedürfnisse aller Mitglieder einer Gesellschaft nicht befriedigt werden, indem man sie gerecht verteilt. Im Gegenteil wirkt sich die Gleichheit demotivierend aus und verhindert, dass die Menschen sich so anstrengen, dass sich ihre Lage verbessert. Ungleichheit steigert die Bereitschaft zur Arbeit und fördert das Wachstum. Malthus selbst argumentierte gegen den Frühsozialismus William Godwins. Mit in der Struktur ähnlichen Argumenten wird heute eine Politik der Austerität gerechtfertigt.
Der Malthusianismus setzt auf zwei Ebenen eine unveränderliche Natur voraus aus: Zum einen ist die nichtmenschliche Natur begrenzt und erlaubt den Menschen nicht, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Zum anderen liegt die Unendlichkeit der Bedürfnisse in der Natur des Menschen. Das Wachstum der Wirtschaft und die zu ihm gehörende Ungleichheit ergeben sich also aus der Natur. Alternativen dazu zu suchen ist widernatürlich. Für Malthus war es pervers, durch Geburtenkontrolle die Anstrengungen zu verringern, die die Versorgung der wachsenden Bevölkerung erforderte. Spätere Malthusianer erkären den homo oeconomicus zu einer Naturtatsache.
Selbstbegrenzung im Überfluss statt Malthusianismus
Kallis kritisiert diesen—wenn man ihn so bezeichnen kann—Naturalismus des Malthusianismus auf beiden Ebenen. Im Malthusianismus ist die Gesellschaft zur Heteronomie verurteilt. Sie muss die unveränderbare nichtmenschliche und menschliche Natur akzeptieren. Kallis begründet dagegen, dass durch autonomes Handeln die Menschen einerseits ihre Bedürfnisse steuern und begrenzen können und dass andererseits die Natur nur als knapp angesehen wird, wenn die menschlichen Bedürfnisse als unbegrenzt verstanden werden. Kallis illustriert Alternativen zum Malthusianismus unter anderem durch Hinweise auf die altgriechische Gesellschaft und die Romantik. Die altgriechische Kultur war eine Kultur der Grenzen und der demokratischen Begrenzung der Bedürfnisse der Einzelnen. In der Romantik wird die Natur als unerschöpflich und großzügig wahrgenommen.
Kallis kehrt also eine von Ökonomen und vielen Umweltschützern gern verwendete Argumentation um, weil er die Ebene der Autonomie, der Selbstbegrenzung einfügt: Die Ökonomie ist nicht ein Ergebnis der mehr oder weniger mangelhaften Natur, sondern gesellschaftliche Regeln bestimmen, welche Bedürfnisse die Natur erfüllen soll. Anders ausgedrückt: Sowohl Wachstum wie Degrowth oder Postwachstum sind nicht Ergebnis unzureichender Ressourcen sondern gesellschaftlicher Festlegungen der Grenzen oder Nichtgrenzen für die Befriedigung der Bedürfnisse. Die Art und Weise, wie die Gesellschaft ihre Beziehungen zueinander regelt, bestimmt auch über die Rolle der Natur.
Kallis leugnet damit nicht, dass man über die Ressourcen der Natur zutreffende oder nicht zutreffende Aussagen machen kann. Er sagt vielmehr, dass es von individuellen Entscheidungen und gesellschaftlichen Vereinbarungen abhängt, wie der Umgang mit den Ressourcen der Natur gestaltet wird. Mängel oder Bedürfnisse, die eine unbegrenzt wachsende Wirtschaft begründen, werden nur dann festgestellt, wenn die Menschen ihre Bedürfnisse nicht selbst begrenzen. Eine Gesellschaft, die sich selbst Grenzen setzt, versteht die Natur anders als nur unter dem Aspekt der (nie ganz gelingenden) Bedürfnisbefriedigung.
Für Kallis ist die Einsicht, dass es für mich als Individuum und für uns als Gesellschaft sinnvoll ist, Grenzen zu setzen, davon unabhängig, ob äußere Gegebenheiten zur Begrenzung zwingen. Selbstbegrenzung schreibt er in einer Anmerkung, bedeutet, die eigenen Grenzen selbst zu bestimmen, und nicht sich selbst zu begrenzen (S. 161). Sie ist nicht eine Begrenzung des Selbst, also heteronom, sondern eine Begrenzung durch das Selbst.
Die Selbstbegrenzung ist Ausdruck der Autonomie, aber auch Vorausetzung der Autonomie. Ohne die Selbstbegrenzung wären Begrenzung oder Nichtbegrenzung des Selbst Ergebnisse von Fakten, auf die das Selbst keinen Einfluss hat.
Die Begründung von Postwachtum oder Degrowth durch die Fähigkeit, Grenzen zu setzen, also autonom und demokratisch zu handeln, statt sich heteronom von angeblich nicht ausreichenden Ressourcen und einer sich daraus ergebenden ökonomischen Logik beherrschen zu lassen, ist der bestimmende Gedanke von Kallis‘ Buch Grenzen. Er richtet sich vor allem gegen ideologische Rechtfertigungen des kapitalistischen Wachstums. Er richtet sich aber auch gegen ökologische Argumentationen, die sich auf natürliche Grenzen des Wachstums beziehen. Diese Argumentationen übernehmen die Wachstumslogik, gegen die die sich richten, weil sie nicht die Wünschbarkeit des Wachstums in Frage stellen, sondern nur seine Realisierbarkeit. Daraus kann sich die Förderung nach einem grünen Wachstum ergeben. Es kann aber auch ein fruchtloser ideologischer Streit über die grundsätzliche Vereinbarkeit des Wachstums mit den planetaren Grenzen entstehen. Der ökologische Malthusianismus legt es nahe, die Natur einem ökonomischen Kalkül zu unterwerfen, und zum Beispiel die Funktionen der Biospäre als Services, als Dienstleistungen zu verstehen. Kallis fordert dagegen, demokratisch zu entscheiden, welche Bedürfnisse überhaupt erfüllt werden sollen und so die Autonomie der Gesellschaft und ihrer Mitglieder zu wahren.
Kallis verwechselt die ideologische Begründung des Wachstums nicht mit den Praktiken des Kapitalismus.
Diese Vorstellung grenzenloser Expansion in einer begrenzten Welt ist eine unserer Zivilisation eigene Fantasie. Die Fantasie ist eine besondere Konstruktion des Kapitalismus, denn der Kapitalismus benötigt Expansion, und Expansion benötigt eine Grenze… Es ist die Unfähigkeit des Systems, den Überfluss, den es produziert, zu teilen, die einen ständigen Antrieb erzeugt, sich nach außen zu erweitern. (S. 144)
Seine Kritik am Malthisianismus ist eine Kritik an den Begründungen des Wachstums, ohne dass er die Ursachen auf diese Begründungen reduziert, also den Kapitalismus zum Ergebnis einer Ideologie erklärt.
Grenzen ist ein vielschichtiger Essay, der den Gedanken der Selbstbegrenzung und die Kritik an der zirkulären Logik des Malthusianismus aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Das Buch ist wissenschaftlich belegt und enthält zugleich autobiographische Passagen, Kallis beschäftigt sich mit historischen Beispielen von ethnografischer Literatur zu Jäger- und Sammlergesellschaften bis zu Texten des Anarchofeminismus. Eine besonders prominente Rolle haben dabei die Überlegungen von Cornelius Castoriadis zu Autonomie und Demokratie und die Untersuchungen Richard Seafords zur Kultur der Grenzen im antiken Griechenland.
Malthusianismus und das Scheitern der Klimakommunikation
Ich habe Grenzen in Dubrovnik zuendegelesen. Aus dem Fenster kann ich auf die Altstadt schauen, ein Zeugnis einer Kultur der Selbsbegrenzung, die die Freiheit einer kleinen Republik über Jahrhunderte bewahrte. Leider hat sie der grenzenlose Massentourismus inzwischen entvölkert. Ich beschäftige mich gleichzeitig mit der Kommunikation der Klimabewegung und der Frage, warum die immer dramatischer werdenden Berichte über ökologische Katastrophen nicht zu einem Aufstand führen. Die Kommunikation der Klima- und der mit ihr verbundenen ökologischen Krisen ist oft malthusianisch: Sie malt Katastrophen aus, beschreibt natürliche Grenzen und fordert uns auf, uns diesen Grenzen anzupassen und uns zu beschränken. Das 1,5- und das 2-Grad-Limit des Pariser Abkommens werden nicht als menschlich gesetzte Ziele dargestellt, sondern als natürliche Grenzen, über die uns Wissenschaflerinnen und Wissenschaftler informieren.
Kallis schreibt ausführlich darüber, warum diese Form der Kommunikation oft das Gegenteil des Gewünschten erreicht:
- Sie macht uns zu Untergangspropheten,
- sie unterscheidet nicht zwischen den Hauptbetroffenen und denen, die für die Klimakrise verantwortlich sind,
- sie rechtfertigt die Verteidigung der knappen Ressourcen gegen andere,
- sie suggeriert, dass man politische Konflikte wissenschaftlich lösen könne, und
- sie legt – kapitalistische – ökonomische Lösungen nahe, bei denen die Natur als Ressource behandelt wirt, die man wirtschaftlich bewerten kann („Wieviel Klimaschutz ist leistbar?“).
Nicht malthusianisch über die Klimakrise zu kommunizieren ist für mich eine der Lehren, die ich aus Kallis‘ Buch ziehe. Es zeigt, wie sehr wir alle dem Malthusianismus und seiner jüngsten Form, dem neoliberalen Ökonomismus, verfallen sind.
- Living Well within Limits ist der Titel eines Forschungsprojekts an der Universität Leeds ↩