
Wahrscheinlich habe ich in diesem Blog über keinen Autor so viel geschrieben wie über Bruno Latour. Seit meiner Arbeit für das Web Literacy Lab an der FH Joanneum lese ich Latour. Vor allem durch Latours Bücher Face à Gaïa (Latour, 2015; dt. Kampf um Gaia 2023a) und Où atterir (Latour, 2017; dt. Das terrestrische Manifest 2018) habe ich erkannt, wie radikal sich unsere historische Situation durch die Klimakrise und die Anthropozän-Situation verändert hat.
Fast immer hatte ich beim Lesen Latours den Eindruck, dass ich ihn nicht ganz oder vielleicht sogar nur zu einem kleinen Teil verstehe. Ich konnte viele Aussagen der Texte nachvollziehen – vor allem da, wo sich Latour auf die Erdsystemwissenschaften bezieht – aber seine Kritik am gängigen Wissenschaftsverständnis blieb für mich dunkel. Weil ich nicht verstand, wie Latours Kritik am Konzept einer – auf französisch mit dem großen Anfangsbuchstaben „S“ geschriebenen – Wissenschaft (La Science) und einer für sie charakteristischen, angeblich einheitlichen „wissenschaftlichen Methode“ (méthode scientifique) begründet ist, konnte ich bisher auch keine Schlussfolgerungen daraus für die Klimakommunikation und auch nicht für content-strategische Überlegungen zur Wissenschaftskommunikation ziehen.
Im vergangenen Jahr habe ich mich noch einmal intensiv mit Latour beschäftigt, als ich einen Text für das Buch Fokus Klima geschrieben habe (2024). Erst dabei – und vor allem durch einen Aufsatz von Noortje Marres (2023) – ist mir aufgegangen, wie sehr Latour an Argumentationen des amerikanischen Pragmatismus anschließt und dass er nicht die Objektivität der Wissenschaft in Frage stellt, sondern die Postulierung eines „wissenschaftlichen Weltbilds“ und die Entgegensetzung von Wissenschaft und Politik als getrennte Sphären.
Damals habe ich zum ersten Mal Latours Buch Cogitamus (2010/2020; dt. 2016) gelesen: eine Einführung in seine soziologische Arbeitsweise, verfasst als Folge von Briefen an eine deutsche Studentin, die es nicht schafft, 2009 (während und nach der Klimakonferenz von Kopenhagen) eine Lehrveranstaltung Latours in Frankreich zu verfolgen. Jetzt habe ich das Buch wiedergelesen, angeregt durch das Hörbuch La mutation écologique (Latour, 2023b), in dem Latour ausführlich in sein Werk einführt – vor allem in seine späteren Arbeiten zu Ökologie und ökologischer Politik.
Cogitamus steht am Anfang der letzten Arbeitsphase Latours, die durch Begriffe wie Gaia und das Terrestrische charakterisiert ist, und in der er eigene Formen des Klimaaktivismus entwickelt und praktiziert hat. La mutation écologique bezieht sich immer wieder auf die Arbeiten dieser Phase, auch auf das letzte von Latour selbst (mit Nikolaj Schultz) publizierte Buch über die ökologische Klasse (2022; dt. 2023).
Dingpolitik und Politik der Erde
In der deutschsprachigen Klimabewegung, so wie ich sie bisher kennengelernt habe, spielen die Argumentationen Latours keine große Rolle. Dabei bietet das auf den Pragmatismus zurückgehende Politikverständnis Latours und in Verbindung damit seine Kritik am gängigen Verständnis der Beziehungen von Politik und Wissenschaft eine Chance aus der Sackgasse herauszukommen, in der sich die Klimabewegung gerade befindet. Latour fordert eine Politik, die man als „objektorientiert“ bezeichnen könnte. Sie soll sich nicht an imaginären Totalitäten wie „der Wissenschaft“, „der Gesellschaft“, „der Wirtschaft“ oder „der Natur“ und deren angenommenen Gesetzmäßigkeiten orientieren, sondern – sehr vereinfacht gesagt – an den neuartigen Objekten und Abhängigkeiten des Anthropozäns, die uns zwingen, die politisch relevante Welt neu zusammenzusetzen. (An der Neuartigkeit dieser Objekte, z.B. der Treibhausgase in der Atmosphäre, ändert es nichts, wenn man vom „Kapitalozän“ spricht. Ich benutze den Ausdruck Anthropozän, weil er diese Neuartigkeit unterstreicht, nicht weil ich den Zusammenhang der Klimakatastrophe mit dem Kapitalismus leugne.)
Latour hat in einer Phase seiner Arbeit gern von „Dingpolitik“ gesprochen – wobei der Ausdruck „Ding“ für Objekte steht, deren Eigenschaften nicht vorgegeben sind, sondern sich in Debatten und Interaktionen ergeben. Die „Dinge“, von denen er spricht, sind immer issues, öffentliche Themen. Aufgrund der Auseinandersetzung mit den Erdsystemwissenschaften und dem von Lovelock und Margulis entwickelten Gaia-Konzept spricht Latour später nicht mehr von „Ding-Politik“ sondern von einer „Politik der Erde“. Damit gibt er den objektorientierten Ansatz nicht auf. Die Objekte, die „Dinge“ werden aber in ihren Interaktionen mit den Objekten, Beziehungen und Akteuren des Erdsystems verstanden.
Abhängigkeiten als Ausgangspunkt der Politik
Ausgangspunkt der „Dingpolitik“ wie der „Politik der Erde“ ist das Verständnis der Abhängigkeiten von den Objekten. Die Abhängigkeiten verringern sich nicht dadurch, dass wir mit immer mehr wissenschaftlich und technisch erzeugten Objekten zu tun haben, sondern sie nehmen zu, werden komplexer und sind mit immer mehr Unbekanntem, mit immer mehr Risiken verbunden. Im Gegensatz zum Politikverständnis der – wie sie Latour nennt – „Modernen“, das von einer zunehmenden Beherrschung der Objekte ausgeht, nimmt die Politik der Erde die zunehmende Abhängigkeit von den Objekten ernst, die immer nur partiell bekannt sind. Deshalb fordert sie, sich nicht – imaginär – immer weiter von der Erde zu entfernen, sondern umgekehrt auf der Erde zu „landen“, also bei den Objekten und den Abhängigkeiten von ihnen anzukommen.
Dass Sozialität immer über Objekte vermittelt ist, unterscheidet für Latour schon in seinen ersten publizierten Texten menschliche von tierischen Gesellschaften. In allen seinen Arbeitsphasen ging es Latour darum, die Verwicklung von menschlichen Handlungen mit Objekten zu erforschen und Konsequenzen daraus zu ziehen – wobei zu diesen Objekten Viren, Treibhausgase, die Institute der Erdsystemwissenschaft und die in ihnen erforschten Prozesse gehören. Die Anzahl, die Komplexität und die Vielfalt der Verbindungen zwischen den Objekten haben in den letzten Jahrhunderten enorm zugenommen – und damit auch die Abhängigkeit von den Objekten und von den Prozessen des Erdsystems, die mit diesen Objekten verbunden sind und zunehmend von ihm beeinflusst werden.
Die Analysen der Abhängigkeiten von Objekten stellt Latour der neuzeitlichen Erzählung von der Autonomie des Subjekts entgegen, das durch seinen Gegensatz zur Sphäre der Objekte definiert ist. Das neuzeitliche Subjekt ist ein Konstrukt, das auf der kollektiven Arbeit mit Objekten in Laboratorien, aber z.B. auch in den Büros der Verwaltungen, beruht, dann aber zum Urheber einer von ihm erzeugten und in einer – zwangsläufig utopischen – immer weiter zu erzeugenden sozialen Wirklichkeit erklärt wird.
Ein Schlüssel für Latours Verständnis von Objekten und Politik ist John Deweys Buch The Public and its Problems (1927/2023), auf das Latour mehrfach verweist. Auch Dewey spricht von der zunehmenden Bedeutung immer komplizierterer Objekte und den Schwierigkeiten, diese Objekte und ihre Konsequenzen sozial und politisch zu kontrollieren. Die Demokratie sei dann erfolgreich, wenn es gelinge, Öffentlichkeit um die Probleme herum zu organisieren, die mit den neuen und neuartigen Objekten verbunden sind, die die moderne soziale Realität bestimmen. Die Objekte, das Publikum und die politischen Kommunikationsformen verändern sich laufend. Es gibt keine Garantie dafür, dass die politischen Prozesse der Komplexität der Objekte angemessen sind und zu einer demokratischen Kontrolle der modernen Lebenswirklichkeit führen.
Durch das, was man Anthropozän-Situation nennen kann – Latour verwendet Isabelle Stengers Formulierung von der „Intrusion Gaïas“ – haben diese Abhängigkeiten von Objekten eine neue Dimension erreicht. Latour spricht in Cogitamus von „neuen Kosmogrammen“ und in La mutation écologique oft von einer „neuen Welt“. Das Erdsystem, von denen das menschliche und alles andere Leben abhängt, wird inzwischen vor allem von menschlich erzeugten Objekten beeinflusst, und es verändert sich in Weisen, die immer weniger kontrolliert werden können. Damit muss an die „Dingpolitik“, die vor allem auf die Objekte der menschlichen Zivilisation bezogen ist (auch wenn diese Zivilisation nie nur „menschlich“ ist), zu einer „Politik der Erde“ erweitert werden.
Weder „Dingpolitik“ noch „Politik der Erde“ sind eine Angelegenheit subjektiver „Meinungen“. Sie ergeben sich aus dem Verständnis für die Abhängigkeiten von Objekten und den Prozessen des Erdsystems. Diese Objekte, die „Dinge“, „Gaia“ sind aber nicht etwas Gegebenes, das sich neutral erfassen und beschreiben lässt. Sie sind Ausgangspunkte oder Teile politischer Konflikte. Die Aussage, dass die Verbrennung von Öl und Gas zu einer Erhitzung der Erde mit katastrophalen Folgen führt, ist nicht politisch in dem Sinn, dass ihre Wahrheit von einer politischen Überzeugung abhängt (sie ist keine „Meinung“), aber sie ist zwangsläufig mit Konflikten verbunden, die politische Neutralität ausschließen. Sie zu formulieren ist eine politische Stellungnahme, auch und gerade, wenn diese Formulierung z.B. im Namen eines unabhängigen Forschungsinstituts oder Gremiums erfolgt.
Das Ende der modernen Begrenzungen des Politischen
Große Teile der Klimabewegung haben immer wieder den Grundsatz „Follow the Science!“ propagiert. Auch ein großer Teil der Wissenschaftskommunikation folgt dieser Devise. „Die Wissenschaft ist glasklar“, sagt Johan Rockström, die Politik müsse sich nur nach ihren Erkenntnissen richten. Dieser Ansatz trennt eine wissenschaftliche, eigentlich eine nur von der Wissenschaft erfassbare Wirklichkeit von der politischen Debatte, die auf die Erkenntnisse der Wissenschaft angewiesen ist, wobei die Wissenschaft als Wissenschaft aber nicht in die Politik eingreift.
Eine objektorientierte ökologische Politik bestreitet nicht die Relevanz der Wissenschaft, aber die Existenz einer autonomen Sphäre der Wissenschaft, von der andere gesellschaftliche Bereiche wie „die Politik“ oder auch „die Wirtschaft“ deutlich unterschieden werden können – sodass dann z.B. Politik auf Kompromisse zwischen Wirtschaft und Politik ausgerichtet ist. Ein solches Politik- und Wissenschaftsverständnis nimmt die Komplexität der Objekte und Akteure, die für die Politik heute relevant sind, nicht ernst. Angesichts eines Objekts wie z.B. eine Flüssiggasterminals kann man nicht wissenschaftliche, wirtschaftliche und politische Dimension und ihnen entsprechende eigene Logiken sauber voneinander trennen, sondern man muss eine Debatte darüber führen, zu welchen anderen Objekten dieses Objekt in Beziehung steht und wie mit diesen Beziehungen umzugehen ist. Wissenschaftliche Aussagen z.B. über die Emissionen durch Flüssiggas-Produktion, -Transport und -verbrennung definieren das Objekt Flüssigas-Terminal mit, lassen sich aber nicht aus den politischen Debatten um das Terminal herauspräparieren. In den Konflikten über das Terminal ist jede Aussage zu den Emissionen eine politische Aussage.
Man könnte einwenden, dass es trivial ist, die Mehrdimensionalität und die Implikationen eines Objekts wie eines LNG-Terminals und der Beteiligten festzustellen. Niemand bestreitet, dass Debatten um solche Objekte Wissenschaft, Wirtschaft und Politik berühren. Aber die faktische Mehrdimensionalität jeder solchen Debatte wird dann nicht mehr anerkannt, wenn eine – illusorische – Trennung von z.B. Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gefordert wird. Meist werden damit wissenschaftliche Aussagen zum Schweigen gebracht, um dann zu fordern, dass die Politik sich nicht anmaßen soll, die Wirtschaft zu kontrollieren – so als wäre der wirtschaftliche Aspekt eines Objekts wie eines LNG-Terminals etwas nicht in diesem spezifischen Fall zu Untersuchendes und zu Debattierendes. Statt über ein Objekt, seine Implikationen und die Abhängigkeiten von ihm wird über scheinbar getrennte soziale Sphären wie Politik, Wirtschaft und Wissenschaft diskutiert.
Eine objektorientierte Politik – ob man sie Dingpolitik oder Politik der Erde nennt – geht nicht von vorab definierten Bereichen wie Politik und Wissenschaft aus, sondern von den konkreten Verwicklungen von Objekten und Agierenden. Sie berücksichtigt auch, dass sich diese Verwicklungen voneinander unterscheiden können, dass neuartige Objekte dazu zwingen, im Einzelfall auf sie bezogen zu debattieren und festzulegen, wie sie politisch mit ihnen umgegangen wird. Die Debatten über m-RNA-Impfstoffe sind dafür ein gutes Beispiel.
Ein weiterer Einwand gegen einen solchen objektorientierten Ansatz könnte sich darauf beziehen, dass er Fragen der Macht und Fragen der Gerechtigkeit zu ignorieren scheint. Dieser Einwand triff möglicherweise bestimmte Debatten über Objekte (ich bin mir nicht sicher, ob man ihn nicht auch gegenüber Latour selbst erheben könnte), aber er verkennt, dass sich Macht und Gerechtigkeit nicht von Objekten lösen lassen. Macht ist an Objekte gebunden, bis hin zu den modernen sophistizierten Waffen, die die Handlungsmöglichkeiten geopolitischer Akteure mitbestimmen.
Eine ökologische Dingpolitik ist offen für die Zugänge der Ökologischen Ökonomik und den spatial turn in den Sozialwissenschaften. Ich halte sie für komplementär zu diesen Ansätzen, in denen es ebenfalls um Verständnis und Veränderung der konkreten materiellen Dimension der Gesellschaft geht. Bei Latour selbst habe ich bisher keine Überlegungen zur ökologischen Ökonomik und zur kritischen Geografie gefunden – ich sehe aber viele Verbindungsmöglichkeiten sowohl zu einer Ökonomik, die den sozialen Stoffwechsel und die Flüsse und Bestände von Stoffen und Energie untersucht, wie zu einem Verständnis menschlicher Gesellschaften als geografisch lokalisierter Phänome, für die Räumlichkeit nicht nur eine untergeordnete Eigenschaft ist.
Charakteristika einer Politik der Erde
Latour hat nicht so etwas wie eine ganz neue oder andersartige Politik, eine Art politisches big design up front, gefordert oder praktiziert. Er hat auch keine politische Theorie oder Ideologie formuliert. Er hat vor allem darauf bestanden die Abhängigkeiten von Objekten und Prozessen nachzuzeichnen und nicht davon auszugehen, dass bereits bekannt ist mit was die Agierenden in Verbindung stehen und worauf es in neuartigen Situationen ankommt.
1. Neuartigkeit von Objekten und Situationen als Schwerpunkt
Ein wichtiges Element dieser Politik der Erde besteht darin zu erkennen, dass wir es heute mit Objekten zu tun haben, für die es in vielen Fällen keine historischen Beispiele gibt. Das gilt sowohl für technische Objekte, die es vorher schlicht nicht gab, wie für Gegenstände der Erdsystemwissenschaften, die unbekannt waren oder deren Relevanz man nicht erkannt hat. Der Salzgehalt des Meers in der Nähe Grönlands und in der Nähe der Antarktis hat Folgen für das gesamte Erdsystem und er hängt in Weisen, die noch nicht alle verstanden sind mit den Emissionen von Treibhausgaben zusammen. Die Politik muss sich damit nicht nur auf ein Phänomen einstellen, das unbekannt war, sondern auch auf die verschiedenen Ungewissheiten, die mit diesem Phänomen verbunden sind. Eine objektorientierte Politik darf nicht so tun, als würden für einen solchen neuartigen Gegenstand automatisch Regeln gelten, die für ganz andere Objekte etabliert wurden.
2. Distanz zu den Ideologien der Moderne
Die großen politischen Ideologien, die in der Neuzeit formuliert wurden, gehören zu einer anderen Welt als diese Arten von Objekten und die mit ihnen verbundenen politischen Fragestellungen. Das gilt zum einen für die Ideologien, die die Abhängigkeit von Objekten nicht anerkennen, vor allem für das wirtschaftsliberale Leugnen der Anthropozän-Situation. Es gilt aber auch für ein traditionell linkes Politikverständnis, das sich an einem von Objekten unabhängigen Etablieren sozialer Gerechtigkeit orientiert. Auch viele Vertreter:innen dieser Ideologien ignorieren die Besonderheiten der heute gegebenen Objekte. Sie postulieren einen allgemeinen Referenzrahmen, etwa den „des Kapitalismus“, auf den sich diese Objekte und die mit ihnen verbundenen Probleme rückbeziehen lassen. Durch diese Essentialisierung des Kapitalismus können sie es erschweren, die Materialität des gegenwärtigen Kapitalismus und die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten zu verstehen.
3. Neue Formen der politischen Repräsentation
Eine Politik der Erde in diesem objektorientierten Sinn versucht vor allem der Besonderheit von Objekten und Situationen Rechnung zu tragen. Sie kann deshalb die bereits vorhandene Einteilungen in Bereiche wie Politik, Wissenschaft und Wirtschaft genausowenig akzeptieren wie die territorialen, vor allem die nationalstaatlichen Einteilungen, die ganz offensichtlich nicht dazu geeignet sind, mit der Klimakrise und verwandten Krisen umzugehen.
4. Wissenschaftler:innen als politische Vertreter:innen von Objekten und nichtmenschlichen Agierenden
Wenn man nicht von großen für sich bestehenden sozialen Sphären wie „der Wissenschaft“ oder „der Politik“ ausgeht, dann kann man nicht eine Wissenschaftskommunikation fordern, bei der in Namen der Wissenschaft gesprochen, aber nicht in die Politik eingegriffen wird. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind objektiv, aber sie beziehen sich auf bestimmte Situationen in oft sehr komplexen Kontexten. Damit haben die Wissenschaftler:innen in solchen Situationen eine entscheidende politische Funktion. Deshalb muss die Wissenschaft politisiert werden – aber nicht im Sinne einer Manipulation ihrer Resultate oder auch der Annahme alle wissenschaftlichen Resultate seien manipuliert. Politisierung bedeutet vielmehr, das Wissenschaftler:innen repräsentieren, was nur sie oder sie vor allem repräsentieren können: die Objekte, mit denen sie sich beschäftigen.
5. Vorsorge-Prinzip
Latour hat mehrfach die Bedeutung des Vorsorgeprinzips hervorgehoben. Eine Orientierung am Vorsorgeprinzip ist zwingend, wenn man von der Konfrontation mit neuartigen Objekten oder Prozessen oder Akteuren als dem eigentlich grundlegend grundlegenden Phänomen für die Politik im Anthropuozän, im, wie Latour es nennt, „neuen Klimaregime“ ausgeht. In vielen und vor allem in den meisten relevanten Fällen ist unbekannt, wie sich diese Objekte in Zukunft verhalten werden. Das deutlichste Beispiel dafür sind die Kipp-Elemente des Klimasystems. Das Vorsorgeprinzip fordert strikt, hier Aktionen zu unterlassen, die Risiken noch weiter vergößern.
Latour spricht in La mutation écologique davon, dass es nicht die Aufgabe der Philosophen ist, den „Strömen der Tränen, die die Kollapsologen vergießen“, noch weitere Tränen hinzuzufügen. Philosophie solle die Handlungsmöglichkeiten erweitern. Seine Ideen zu einer Politik der Erde erweitern Handlungsmöglichkeit, indem sie Objekten und den Abhängigkeiten von Objekten Priorität zusprechen und damit die Parameter in Frage stellen, an denen sich das Politikverständnis der Moderne orientiert hat. Diese Konzepte verändern die Machtverhältnisse nicht direkt. Aber sie entziehen deren Verteidigung die Grundlagen, weil sie neue Definitionen des Politischen fordern und es leichter machen, die Neuartigeit der Themen einer ökologischen Politik zu erfassen.