Dirk Baecker erläutert sein Konzept der catjects, mit dem er sich direkt oder indirekt schon in einer ganzen Serie von Postings für das System One – Journal beschäftigt hat. Baecker versucht, die entstehende Netzgesellschaft – er nennt sie next society – systemtheoretisch zu interpretieren – oder die Systemtheorie ausgehend von den sozialen und technischen Entwicklungen seit der Erfindung des Web zu reinterpretieren. Er spricht von der

idea of the network synthesis of social action with respect to the next society superposing itself to the tribal, the ancient, and the modern society. [System One – Next Society’s Hypokeimenon]

Den Begriff der next society übernimmt Baecker von Peter Drucker:

We call what is emerging „the next society“ to honour Peter F. Drucker who gave it not only that name but also looked in the consequences of it for management and organization (see his book „Managing in the Next Society“, New York 2003). [System One – The Next Society]

Man kann Baeckers neue Texte auf verschiedenen Ebenen interpretieren – als Diskussion soziologischer Grundbegriffe wie Handlung und System, als Beiträge zu einer materialen Gesellschaftstheorie, die sich mit der Evolution sozialer Formationen beschäftigt, und auch als eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Ich lese sie als eine Reflexion über Kategorien, mit denen sich die Kommunikation im Netz als soziales Phänomen beschreiben lässt.

Hier möchte ich nur drei Themen hervorheben, die für eine Theorie des Web Publishing relevant sind: das der Kontrolle der Kommunikation im Netz, das des medialen Charakters des Web und das – fundamentale – Thema der Festlegung von konstanten oder stabilen Einheiten im Web.

Kontrolle

Das Thema der Kontrolle ist grundlegend für Baeckers Ansatz. Seine Beiträge im System One-Weblog beschäftigen sich alle ausdrücklich oder implizit damit, wie die Kommunikation im Netz, und damit die entstehende Gesellschaft, kontrolliert wird bzw. sich selbst kontrolliert. Baecker schreibt

that the control problem of the next society is setting the stage for both the dealing with all other dissemination media and for a sociological understanding of the self-organization of social action. [System One – Self-Organization via Double Closure.]

Kontrolle ist dabei im Sinne der Kybernetik zu verstehen, man kann auch von Selbstorganisation sprechen:

Note that understanding here means cybernetic control, not hermeneutic understanding, which is impossible given the requisite variety lacking for dealing with the complexity of the matter involved. [System One – Understanding.]

Eine fundamentale Form der Kontrolle ist dabei die Selbstkontrolle aller sozialen Handlungen, für Baecker gebunden an die Möglichkeit, über diese Handlungen zu sprechen:

The model maintains that social action first of all consists in any kind of *action* occurring which is framed by a kind of *talk* which presents it with definitions of its identity, thus giving it a control of itself. [System One – Action in Context.]

Das Problem der entstehenden Gesellschaft besteht dabei darin, die Kontrolle selbst zu kontrollieren:

What is defining the relations between people, events, and situations, when, at any instant, an overflow of network control is to be contained by form and to be structured by knowledge? [System One – Overflow, and Social Order.]

Gesellschaft ist ohne Kontrolle nicht denkbar:

The first one of the two degrees of freedom getting lost due to a system’s self-organization is the possibility to act arbitrarily. [System One – Self-Organization via Double Closure.]

Das ist eine Reformulierung des fait social total Durkheims und des Satzes Man kann nicht nicht kommunizieren. Soziale Handlungen sind immer für andere soziale Handlungen anschlussfähig; das Handeln kann beliebig fortgesetzt werden und wird dabei nie zu einem nicht mehr sozialen bloßen Verhalten. Baecker spricht von der ersten Schließung des sozialen Handelns. Die zweite Schließung ergibt sich daraus, dass die Interpretation einer sozialen Handlung nicht frei ist, dass Kategorien und Ordnungen vorgegeben sind, die dem Handeln einen sozialen Sinn geben:

The second one of the two degrees of freedom getting lost is the possibility to call on new criteria, or categories, or schemata, in order to self-determine, describe, and account for one’s own action. […] This loss of a second degree of freedom makes up for the double closure of the system which consists in not only operations (first closure) but also organization (or regulation) having to relate to itself. [System One – Self-Organization via Double Closure.]

Zwischen diesen beiden Schließungen bleibt ein Raum der Unbestimmtheit. Wie Handlungen Organisationen zugeordnet werden, ist nicht vollständig determiniert.

This space provides for the organization of social action being at some variance with the ties and links it actually calls upon to connect to previous and to next action. This space of a distinction, of a severance between the first and the second closure again makes up for error and correction, indeterminacy and determination, overflow and framing being possible. [System One – Self-Organization via Double Closure.]

Der Überschuss an Sinn, oder möglichen Fortsetzungen, der sich mit dem Handeln – hier mit dem Operieren in einem Netz – ergibt, wird auf vier Ebenen organisiert, die Baecker als talk, group, grid und society bezeichnet. Mit Organisation ist gemeint, dass eine Form durch aufeinander verweisende Unterscheidungen erzeugt wird. Die Begriffe der Form und der Unterscheidung übernimmt Baecker aus dem Form-Kalkül George Spencer-Browns. Auf der Ebene des talk wird eine Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz eingeführt; es wird Sinn organisiert. Auf der Ebene der Gruppe werden Elemente unterschieden (nämlich abgezählt), die zu einer Einheit gehören oder nicht. Auf der Ebene des grid werden die Beziehungen einer Einheit zu anderen Einheiten festgelegt bzw. wieder aufgelöst. Auf der Ebene der Gesellschaft werden Bezüge zu dem hergestellt, was von den Unterscheidungen auf den anderen Ebenen nach außen verwiesen wird, was also innerhalb der dort erzeugten Form nur vorkommen kann, wenn die Grenze nach außen selbst zum Gegenstand der Form wird (re-entry).

Medien

Dabei sind für Baecker die Probleme, die das soziale Handeln löst, von der Verbreitung von Kommunikation oder dissemination of communication nicht zu trennen. Zu dem Überschuss an Sinn, in dessen Organisation und Kontrolle soziale Strukturen bestehen, kommt es durch die Verbreitungsmedien, zu denen für Baecker auch die Sprache gehört. Baecker unternimmt den Versuch einer

theory of the meaning form of the society with respect to dominant media of dissemination. [System One – Luhmann’s Conjecture.]

Die Verbreitungsmedien – Sprache, Schrift, Druck und Computer – ersetzen sich dabei nicht, sondern sie überlagern sich (!):

Note, that we do not assume the meaning forms of the different dissemination media to replace, but to superimpose, each other. As writing does not displace language, but transforms it, so the printing press and the computer do not displace all earlier dissemination media, but transform them to some new function, thereby at the same time in a way possibly toning down their criticality. [System One – Luhmann’s Conjecture]

Für die bestehenden sozialen Strukturen bedeutet die Einführung eines neuen Mediums eine Katastrophe. Baecker schließt mit dieser These direkt an Luhmann an:

The idea, which Luhmann here is conceiving, consists in assuming that any new dissemination medium overtaxes the given structures of the society by presenting them with a surplus meaning, an overflow, which it is not used to deal with (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, chap. 2.XIV.). This triggers a catastrophe… [System One – Luhmann’s Conjecture]

Da jede soziale Kontrolle Sinnüberschüsse organisiert, die es ohne Verbreitungsmedien wie die Schrift und den Buchdruck nicht gäbe, brechen soziale Organisationen durch ein neues Medium zusammen. (Baecker bezeichnet meist den Computer als das Medium der next society; vielleicht wäre es besser, vom Computing zu sprechen oder einen Begriff zu suchen, der sich direkt auf die Vernetzung der Kommunikation bezieht.)

Die älteren sozialen Formationen oder Gesellschaftssysteme lösten das Problem der Sinnüberschusses in einer Weise, die an das dominierende Verbreitungsmedium gebunden war: vorstaatliche Gesellschaften durch das, was Baecker als Stammesorganisation bezeichnet; die alten staatlichen Gesellschaften durch Stratifizierung, also durch die Bildung von sozialen Schichten, zwischen denen hierarchische Beziehungen bestehen; moderne, funktional differenzierte Gesellschaften durch Erfolgsmedien (wie Macht und Geld). Es ist relativ einfach festzustellen, dass diese Formen der Kontrolle im Netz höchstens partiell funktionieren.

That is, we propose to switch from ethnological (tribes), ontological (strata), and ethical (media) explanations of social action to an *ecological* (or knowledge) model, which takes the notion of form serious and looks into ways to self-select inside networks constituted of neighborhood relations, producing a synthesis which is always beyond action and self-similarly built into it at the same time. [System One – Self-Organization via Double Closure.]

Einheiten/catjects

catjects sind eine Antwort auf die Frage, wie in einem Netzwerk, oder vielleicht besser: in der entstehenden Netzwerk-Gesellschaft von Einheiten gesprochen werden kann (network sysnthesis). In der antiken Philosphie lässt sich mit Kategorien ein Ding als die Einheit beschreiben, die Eigenschaften und Beziehungen zugrundeliegt. Die neuzeitliche Philosophie beschreibt das Subjekt als eine Einheit, die von allen Einheiten in der Welt der Objekt vorausgesetzt wird.

catjects

describe the general case of synthesis brought about by distinctions recursively organizing themselves. [System One – Next Society’s Hypokeimenon.]

Wie kommt es in einem Netz, das auf – immer löschbarer – Speicherung von Daten beruht, zu einer Einheit? Worauf beruht im Netz die Identität einer Person? Wann kann man von einer Website oder einer Community als Einheit sprechen? Wodurch sind die Grenzen einer Firma im Netz definiert, wenn Kunden und Mitarbeiter nicht mehr voneinander unterschieden werden könen? Diese Probleme sind miteinander verwandt; sie lassen sich nicht durch Rekurs auf die Einheiten außerhalb des Netzes in der analogen Welt lösen (also z.B. auf die Einheit des Körpers für ein Individuum). Es handelt nicht um technische Probleme – auf der technischen Ebene setzt ein Netzwerk vielmehr Einheiten voraus, damit zum Beispiel ein URI eine Ressource im Web identifizieren kann. Einheiten werden auch im Netz sozial oder kommunikativ erzeugt. Baecker:

we propose to switch from objects and subjects to *catjects* as informing the network synthesis of social action. Objects and subjects are special cases of catjects, which describe the general case of synthesis brought about by distinctions recursively organizing themselves. [System One – Next Society’s Hypokeimenon.]

Das catject ist mit dem Konzept des sich selbst organisierenden Systems verwandt. (Es handelt sich um einen Begriff auf der Ebene der Beobachtung der zweiten Stufe, also der Beobachtung von Beobachtern. catjects sind nicht etwas, das man auf der Ebene der Beobachtung der ersten Stufe in der Realität finden und dann beschreiben kann.) catjects sind weder Subjekte noch Gruppen. Man könnte sie als Kommunikationszusammenhänge interpretieren, die Subjekte und ihre Objekte determinieren oder Gruppen strukturieren. Baecker bezeichnet soziale Formationen wie die moderne, auf der Druckpresse als Verbreitungsmedium beruhende Gesellschaft als catject. Vielleicht lässt sich eine community of practice als ein catject verstehen. Auch zu einem Begriff wie dem der social design patterns lassen sich Beziehungen herstellen. catjects definieren für Baecker how values must network, i.e., prejudice their choice, in order to lend determination to the indeterminate. Auch Metadaten lassen sich als catjects verstehen:

If the web 2.0 is indeed about the organization of metadata in addition to the production and storing of data (Tom Fürstner, this journal), then this organization may well prove to be another example of catjects in that the search, the linking, and the socially distributed use of the data will only be sustainable if there is some self-reference informing the links, some reference becoming reliable, and some accounting for the network becoming visible, which make the data trustworthy. Metadata will have to be informed by knowledge, that is, they will both be drawn from, and producing, a kind of knowledge, which is no longer considered to be consisting of definite data stored away in some memory, but will emerge and disappear along with natural and artificial users producing it while surfing the data surface of the natural, social, and artificial world.[System One – Next Society’s Hypokeimenon.]

Wenn Webpublikationen als selbstreferentielle Phänomene beschrieben werden können, lassen sie sich möglicherweise als catjects analysieren – oder dieser Begriff lässt sich durch sie explizieren. Mich interessiert dabei vor allem, welche Rolle der Begriff Wissen in diesem Zusammenhang spielt. Das Wissen verbindet die Ebene der Metadaten – die ja als solche Daten bleiben und sich nur in ihrer Verwendung von anderen Daten unterscheiden – und die Ebene der Kommunikation. Erst in einer selbstreferentiellen Struktur werden die Metadaten sichtbar, also kommununizierbar, und vertrauenswürdig.

Ein Kommentar zu “Baecker/catjects

  1. Vielen Dank für Ihren hilfreichen Kommentar.Ich bin auf dem Weg zu einem Ansatz einer Handlungstheorie, die zur Psychoanalyse anschlussfähig ist.

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