(Eine zweite Notiz zu Olaf Breidbachs Buch Neue Wissensordnungen, das ich gestern zuende gelesen habe. Auf Breidbachs deutliche Unterscheidung von Information und Wissen bin ich hier eingegangen.)

Ich habe Breidbachs Buch gekauft, weil mich die Frage des Untertitels Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht interessiert hat. Treffend ist dieser Untertitel nicht. Breidbach sagt vor allem, dass Wissen eine kulturelle Interpretation von Daten und Informationen ist; wie sie im einzelnen geschieht, beschreibt er nicht. Breidbachs Buch ist vor allem eine Kritik an der Vorstellung, es gebe so etwas wie eine Ordnung, die alles wirkliche und mögliche Wissen umfasst. Die neuen Wissensordnungen, von denen er spricht, sind dynamisch und zunächst lokal.

Zwei Wege, die nahe liegen, wenn man überhistorische Theorien des Wissens ablehnt, schlägt Breidbach nicht ein: die radikale Historisierung des Wissens, die es ablehnt, nach mehr als historischen Ordnungen zu fragen (diese Position ordnet Breidbach ausdrücklich Michel Foucault zu), und die Hermeneutik, die Wissen rekonstruiert, indem sie Konzepte des untersuchten Wissens übernimmt und zugleich den Abstand zwischen den eigenen Voraussetzungen und denen der interpretierten Konzepte reflektiert. Mit Hermeneutik beschäftigt sich Breidbach nicht ausdrücklich.

Das argumentative Gewicht des Buchs beruht nicht auf den Aussagen über die neuen Wissensordnungen, die immer sehr vage und vorläufig sind und sich möglicherweise mit Methoden wie denen der Actor Network Theory füllen und präzisieren ließen (z.B. was die Beziehungen zwischen Lokalem und Globalem angeht). Gewicht hat das Buch vor allem in seiner Kritik an allen Vorstellungen von Wissen als einer abschließbaren symbolischer Repräsentation der Realität, sei es die frühneuzeitliche Universalwissenschaft, seien es Expertensysteme.

Dabei enthält das Buch verschieden Argumentationen gegen das Verstehen von Wissen als symbolischer Repräsentation: Das Scheitern der Operationalisierung solcher Ansätze in der KI spielt für Breidbach eine wichtige Rolle, ebenso die These, dass diese Konzepte letztlich auf nicht mehr haltbaren theologischen Voraussetzungen beruhen (Gott sorgt dafür, dass der Mensch die Welt adäquat versteht.) Die wichtigste und wohl auch originellste Argumentation beruht auf der Evolutionstheorie: Wenn Wissen letztlich in evolutionären Prozessen entsteht, und wenn die Evolution nicht von einem intelligent design abhängig, sondern zufällig ist, dann gibt es keinen Grund dafür, die Entwicklung des Wissens teleologisch als Annäherung an die sich immer mehr erschließende Realität zu verstehen.

Eine interessante Ebene des Buchs bilden Breidbachs Reflexionen über die Metaphorizität und Nichtmetaphorizität der Begriffe, mit denen man über Wissen spricht. Für Breidbach gehören Unbestimmtheit und Offenheit zu kognitiven Prozessen, und sie drücken sich in einer metaphorischen Sprache, z.B. in Ausdrücken wie Netzwerk, aus. Diese Metaphern lassen sich aber durch Kritik und Explikation auflösen; die Sprache, in der man über das Wissen spricht, ist für Breidbach nicht notwendig metaphorisch. So wie Breidbach das Wissen einerseits historisiert und andererseits von Ordnungen des Wissens spricht, so erkennt er die Metaphorizität des Ausdrucks von Wissen an, glaubt aber, sich ihr entziehen zu können.

Was bedeutet das für die Themen, mit denen ich mich beschäftige, also für die Vermittlung und Erzeugung von Wissen mit Online-Medien? So etwas wie eine direkte Anwendung finde ich nicht, das würde dem Buch nicht gerecht. Interessant in Hinblick auf den Journalsmus ist, was Breidbach über die Abhängigkeit jedes Wissens von Strukturen (damit meint er materielle Voraussetzungen im weitesten Sinn, z.B. Apparate und Praktiken) sagt. Die journalistischen Methoden (von der Interviewtechnik bis zum check!, cross check! double check!) lassen sich wohl ganz ähnlich wie wissenschaftliche Methoden beschreiben, auch in ihnen geht es um die Erzeugung von Wissen, und auch die journalistische Arbeit hängt von technischen und institutionellen Voraussetzungen und von erlern- und tradier- aber nur zum Teil beschreibbaren Praktiken ab. Speziell im Online-Journalismus verändern sich die Strukturen radikal, insbesondere dadurch, dass und wie Daten journalistisch relevant werden. Andererseits entstehen neue Praktiken, z.B. der Kommunikation in sozialen Netzwerken oder auch auf BarCamps.

Noch wichtiger könnten Breidbachs Argumentationen für Kommunikationspraktiker als garde-fou gegenüber vorschnellen Totalisierungen sein. Breidbach zeigt, dass Wissenstopologien allenfalls lokal und provisorisch sein können. Das betrifft auch die Darstellung von Wissen bis hin zur Strukturierung von Websites. So wäre zu überlegen, welche Rolle metaphorische Topologien (etwa Wissensnetze) überhaupt bei der Präsentation von Wissen spielen können, und wie sie z.B. mit anderen Formen der Kontextualisierung von Informationen verbunden werden können.

Ich habe mich in den letzten Wochen weiter mit der „Actor-Network-Theory“ (ANT) beschäftigt, wenn auch noch nicht so intensiv, wie ich es wollte. Noch mehr als vor ein paar Wochen sehe ich in ihr eine Möglichkeit, Phänomene im Bereich der „neuen Medien“ und des Web zu analysieren, ohne sich von eingefahrenen Unterscheidungen wie der zwischen „Technischem“ und „Sozialem“ blind machen zu lassen.
Es handelt sich bei der ANT nicht um eine Theorie im Sinne einer Menge von Aussagen über die „Realität“. Ich verstehe die ANT eher als eine Methode, um soziale Wirklichkeiten zu beschreiben und zu analysieren. Ob eine solche Analyse dann „richtig“ ist, was sie „wert“ ist, hängt von ihren Beziehungen zu ihrem Gegenstand und nicht von der Richtigkeit der theoretischen Grundannahmen der ANT ab.
Allerdings — auch zur ANT gehören Verallgemeinerungen über die Gesellschaft. Ich versuche, provisorisch einige davon zu formulieren, und bitte bessere Kenner dieser Theorie um Korrekturen. Ich hoffe, dass sich diese Annahmen als Ausgangspunkt konkreter Analysen verwenden lassen. Die Texte, auf die ich mich beziehe, habe ich hier gesammelt.
(1) Zu sozialen Strukturen gehören immer sowohl menschliche wie nicht-menschliche Akteure. Die nicht-menschlichen Akteure, die „Objekte“, haben eine entscheidende Funktion bei der Stabilisierung von sozialen Strukturen. Die Objekte sind nicht nur Projektionsschirme für soziale Verhältnisse, sondern sie ermöglichen die sozialen Verhältnisse erst. Der portugiesische Fernhandel, den John Law in einer berühmten Studie (pdf) beschrieben hat, hätte zum Beispiel ohne die Beobachtung der Sterne nicht stattfinden können; die Sterne lassen sich aus dem Netzwerk „Fernhandel“ nicht herauslösen.
(2) Soziale Strukturen existieren nicht unabhängig von Akteuren, sondern sie sind „performativ“, sie werden „aufgeführt“ oder „ausgeführt“. Etwas überdeutlich formuliert: Sie werden immer wieder neu erfunden, neu ausgehandelt und bestimmt. In dieses Aushandeln investieren die Akteure ihr Wissen über die Gesellschaft, ihre „Soziologie“.
(3) In jedem sozialen Netz interagieren unterschiedliche menschliche und nichtmenschliche Akteure. Die Voraussetzung dafür sind Übersetzungen, die überhaupt erst eine Kommunikation zwischen den verschiedenartigen Beteiligten ermöglichen. In solchen Übersetzungsprozessen werden Repräsentanten der verschiedenen Gruppen von Akteuren bestimmt. Die Übersetzungen machen Unvergleichbares vergleichbar und integrieren es damit in ein Netzwerk. Durch die Übersetzung bestimmt oder erzeugt das Netzwerk seine besondere Realität. Es wird festgelegt was real und relevant, was unwirklich und unwichtig ist. Es wird auch festgelegt, welche Ebenen die „Realität“ bilden, wo zum Beispiel bei Medien die Grenze zwischen „Technik“ und „Inhalt“ liegt.
(4) Soziale Strukturen oder soziale Netze dienen dazu, Kontrolle auszuüben, sie sind immer Instrumente der Macht. Bei den Übersetzungsprozessen, in denen sich ein Netzwerk konstituiert, wird bestimmt (verhandelt), wer wen kontrolliert, wer für wen spricht, wer wen oder was repräsentiert. Es gibt keine „unschuldigen“ oder „neutralen“ Übersetzungen, bei denen keine Macht ausgeübt würde.
(5) Zu den Akteuren, die an einem Netzwerk beteiligt sind, können wiederum Netzwerke gehören; sie verhalten sich aus der Perspektive des Netzwerks, in das sie integriert werden, wie „black boxes“. Die makrosoziologische Ebene unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der mikrosoziologischen Ebene; damit Netzwerke auf einer Makroebene funktionieren, müssen die Netzwerke, die in das „Makronetzwerk“ integriert werden, Komplexität so weit reduzieren, dass sie zu „einfachen“ Akteuren werden können.
Im Zentrum der ANT steht der Begriff der Übersetzung, und im Grunde interessiert mich, wie sich dieser Begriff bei der Analyse von Kommunikation im Web verwenden lässt. Übersetzungen sind eine Voraussetzung für die Bildung der neuen „soziotechnischen“ Netzwerke, an der wir gerade teilnehmen. Mit dem Instrumentarium der ANT lassen sich, wie ich glaube, solche Übersetzungsprozesse qualifiziert beschreiben, ohne die immanente Logik der neuen Netzwerke absolut zu setzen (sie also als „natürlich“ anzusehen), und ohne sie zu ignorieren (sie also als bloße „Technik“ zu verstehen).
Beispiele für solche Übersetzungen lassen sich leicht finden: Schon indem ich blogge oder mich bei facebook beteilige, übersetze ich meine analoge Identität (die nichts Natürliches, Vorgegebenes war) in eine „netzkompatible“ Version. Man kann die Arbeit an der Wikipedia als einen großen Übersetzungsprozess verstehen, in dem „enzyklopädisches Wissen“ in eine für das Web geeignete Form übertragen wird. Ohne nichtmenschliche Beteiligte wie Rechner und die Internet-Infrastruktur wären diese Übersetzungsprozesse nicht möglich und auch nicht nötig. Aber keiner dieser Prozesse ist „nur“ technisch. In ihnen allen werden soziale Beziehungen neu ausgehandelt, und wir verwenden unser Wissen über soziale Beziehungen in diesen Verhandlungen.
Für tatsächliche Analysen im Sinne der ANT wäre es wohl vor allem wichtig herauszuarbeiten, wie bei diesen Übersetzungsprozessen Äquivalenzen hergestellt werden und nach welchen Kriterien „überprüfbare“ Realitäten definiert werden (z.B. durch Googles Page Rank, der als „objektives“ Kriterium funktioniert.) Die Blogospäre wäre ein gutes Beispiele; interessanter wäre aber vielleicht die Analyse der Bildung von virtuellen Gruppen und Organisationen.
Das liest sich vielleicht kryptisch. Ich werde mich um Klärung bemühen und freue mich über Kommentare. Etwas weiter ausgearbeitete Gedanken zur Untersuchung von sozialen Medien mithilfe einer „Soziologie der Übersetzung“ würde ich gerne bei einer Gelegenheit wie dem nächsten Barcamp in Wien vorstellen.

Eigenwerte sind nach Heinz von Foerster vergleichbar mit dem Symbol der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Gemeint ist damit, daß Resultate der Operationen eines Systems, wieder als Eingangsgrößen in das System eingeführt werden. Das Resultat einer Operation wird somit wieder als Ausgangspunkt für eine neue Operation benutzt usw. [Bazon Brock:Eigenwerte]

Wenn eine systemtheoretische Theorie von Webpublikationen oder des WWW möglich ist, dann könnten sich Eigenwerte identifizieren lassen, die durch Rekursionen zustandekommen. Das Web oder ein bestimmter Bereich des Web müsste sich immer wieder selbst verarbeiten, und in dieser selbstreferentiellen Aktivität würden so etwas wie feste Größen oder "Gegenstände" entstehen. Ein Netzwerk-Effekt (der Wikipedia-Artikel spricht dabei von Feedback), etwa die Verdoppelung der möglichen Beziehungen bei nur einem hinzukommenden Knoten, könnte zum Beispiel dazu führen, dass sich Communities, Dienste oder Unternehmen eines bestimmten Typs immer wieder etablieren. Vielleicht sind auch Basis-Technologien (Hypertext, Newsfeeds) Kandidaten für Eigenwerte.

Technorati Tags: ,