220px-Walter-ongIch habe Walter Ongs Orality and Literacy: The Technologizing of the Word1 vor allem gelesen, weil mich interessiert, was das Besondere an der Schriftlichkeit im Web ist. Ong schreibt in diesem Buch zwar nicht direkt über das Web—es ist Anfang der 80er Jahre erschienen. Aber er beschäftigt sich gründlich und historisch damit, was Schriftlichkeit ist. Dabei formuliert er Thesen, deren Übertragbarkeit auf das Web man untersuchen kann.

Außerdem entwickelt er auch Kategorien, um unterschiedliche Formen von Schriftlichkeit—nämlich die handschriftliche oder chirographische und die typographische Schriftlichkeit— zu beschreiben. Sie lassen sich als Gerüst nutzen, wenn man fragt, ob die Schriftlichkeit im Web etwas Neues ist.

Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Ong fasst in diesem Buch seine eigenen Forschungen zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit zusammen, und er gibt einen Überblick über die Forschungsgeschichte einschließlich einer ausführlichen kommentierten Bibliographie. Ong hat sich sein Leben lang mit orality und literacy beschäftigt, ein Ausgangspunkt für ihn war dabei das Werk des frühneuzeitlichen Logikers und Erfinder des Lehrbuchs Petrus Ramus. Für die Argumentation Ongs spielen ethnologische Untersuchungen mündlicher Kulturen, u.a. die von Claude Lévi-Strauss, die Erforschung der Oralität bei Homer, Untersuchungen zur Schriftlichkeit bei den Griechen, vor allem bei Platon (Havelock), Studien zu mittelalterlichen Manuskripten und zur Geschichte von Erzählgattungen eine wichtige Rolle. Die Basis für seine Begriffsbildung ist wohl phänomenologisch. Wenigstens ein Ausgangspunkt ist die Medientheorie Marshall McLuhans. Ong diskutiert außerdem die Grammatologie Jacques Derridas, die er—meiner Ansicht nach etwas verkürzt—als eine positive Theorie interpretiert.
Ong versteht die Schrift als Technik und fragt nach dem Einfluss dieser Technik auf das Denken und die Kultur. Vor allem geht es ihm dabei um den „Geist“, er spricht (im Anschluss an Husserl) von den „noetischen“ Folgen der Schriftlichkeit und oft auch von der mit der Schriftlichkeit oder Mündlichkeit verbundenen „Psychodynamik“. Sehr verkürzt zusammengefasst sagt Ong, dass unser Denken grundlegend vom Gebrauch der Schrift bestimmt ist, dass wir in allen Begriffen und vor allem darin, dass wir über Begriffe und begriffliche Strukturen nachdenken und an ihnen arbeiten, durch sie determiniert sind.
Unser Verständnis mündlicher Kulturen ist davon geprägt, dass wir in einer Schriftkultur leben; deshalb bezeichnen wir sie als „schriftlos“ und interpretieren entweder Konstrukte in sie hinein, die die Schrift voraussetzen, oder wir sehen in ihnen das Gegenteil unserer eigenen Schriftkultur.

Handschriftliche, typographische und digitale Schriftlichkeit

Innerhalb der Schriftkultur unterscheidet Ong zwischen einer handschriftlichen oder „chirographischen“ Schriftlichkeit, einer an den Druck gebundenen, „typographischen“ Schriftlichkeit und einer dritten Phase, die er, im Anschluss an McLuhan, als sekundäre Mündlichkeit versteht. Sie hängt von den elektronischen Medien und der Verarbeitung der Schrift durch den Computer ab. Über die typographische und die chirographische Schriftlichkeit schreibt Ong ausführlich; Mündlichkeit beschreibt er vor allem in Anschluss an eine Tradition der Homer-Forschung, die die homerischen Epen vor allem als Niederschlag der Kunst von Rhapsoden interpretiert. Ongs Perspektive ist die eines Literaturhistorikers. Geschlossene Erzählformen sind für ihn ein Ergebnis der Schriftlichkeit, von den komplett schriftlich verfassten griechischen Tragödien bis zu den neuzeitlichen Romanen, die für das leise Lesen geschrieben sind.

Web Literacy und ihre Vorfahren

Was hat das mit dem Web und mit Schriftlichkeit im Web zu tun? Ongs Argumentation zum Einfluss der Schrift auf die Kultur und auf die individuelle Psyche ist überzeugend. Ong zeigt dabei vor allem, dass es dabei nicht um die Schrift als solche geht, sondern um eine konkrete Ausprägung der Literacy, für uns bisher vor allem die typographische Literacy. Unsere Institutionen, unser Bildungssystem, die Formen der Innerlichkeit, die wir als selbstverständlich empfinden, hängen von der typographischen Literacy ab. Durch die digitalen Medien, vor allem das Web, in dem alle Texte global miteinander verbunden sind, kommt es zu tiefgreifenden Veränderungen. Auch wenn diese Veränderungen schwer zu beschreiben sind, und wir überhaupt nicht absehen können, was sich aus ihnen ergeben wird, spricht vieles dafür, dass wir es bereits mit einer dritten Form von Literacy, einer „digitalen Literacy“ oder „Web Literacy“ zu tun haben. Auf Ongs Argumentation gestützt kann man sich wenigstens in dreierlei hinsicht mit dieser Web Literacy beschäftigen:

  1. Man kann Kategorien Ongs verwenden, um zu beschreiben, was Literacy heute ist. Ong thematisiert z.B. die Räumlichkeit der Schrift im Gegensatz zur Zeitlichkeit der gesprochenen Sprache. Nur durch die Schrift werden Listen und Tabellen möglich. Zur digitalen Schriftlichkeit gehört darauf aufbauend eine „Data Literacy“ bei der Ausdrücke u.a. noch weitere Dimensionen, z.B. die der Verlinkung haben. Auch Informationsarchitektur und Findbarkeit setzen bei der Räumlichkeit der Schrift an. (Hier kann man auch fragen, worin die „Virtualität“ des Raums der digitalen Schrift besteht und wie sie wahrgenommen wird.) Ein anderes Beispiel: Von der „Abwesenheit“ des Autors, die für das Schreiben in der Druckkultur charakteristisch ist, kann man im Web, indem Texte mit Profilen von Autoren verlinkt sind und Autoren und Leser miteinander öffentlich kommunizieren können, nicht mehr sprechen.
  2. Man kann ausgehend von Ong beschreiben, wie sich Institutionen und die Sozialisation durch die digitale Schriftlichkeit verändern. Es gibt vermutlich keinen Vorgang in unserem Bildungswesen, aber auch in Organisationen und Firmen, der nicht an handschriftliche oder typographische Schriftlichkeit gebunden ist. Wenn sich der Aggregatzustand der Schrift verändert, werden sich die Institutionen entsprechend verändern. Der Rückgriff auf die verschiedenen Ausprägungen der Schriftlichkeit ist ein Weg, diese Veränderungen zu beschreiben und auf ein materielles Substrat, auf Technologien zu beziehen—auch wenn man die digitale Schriftlichkeit nicht monokausal zur Ursache dieser Veränderungen erklären darf.
  3. Die verschiedenen Formen von Schriftlichkeit lösen sich bei Ong nicht einfach ab, sie bauen aufeinander auf. Auch seine „second orality“ ist an die Schrift gebunden. In diesem Sinne kann man digitale Literacy oder Web Literacy wohl am besten verstehen, wenn man davon ausgeht, dass sie die typographische Schriftlichkeit in sich aufnimmt. Aktuelle Literacy macht ihre Vorgänger nicht einfach obsolet, sondern es gibt im einzelnen, z.B. im Bildungswesen, sehr komplexe Übersetzungsvorgänge zwischen verschiedenen Formen der Schriftlickkeit und anderen Akteuren.

Das Wort Literacy wird in Verbindung mit Medien immer häufig verwendet, meist im Sinne von „Kompetenz“. Medienkompetenz und die Kompetenz zur Formulierung von Inhalten im Web ist aber an die Schrift als die fundamentale technology of the mind gebunden. Um zu verstehen, was Literacy heute ist, was sie sein kann und sein sollte, müssen wir deshalb auf Untersuchungen wie die Ongs zur Geschichte der Schriftlichkeit zurückgreifen.

1Ong, Walter J. Orality and Literacy: The Technologizing of the Word. 2. Aufl. Taylor & Francis, 2007. Meine Public Notes dazu für Kindle-Leser hier.

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