Bei einer Veranstaltung des steirischen Herbst hat Dieter Halwachs auf Édouard Glissant und sein positives Verständnis der Kreolisierung hingewiesen.

Glissant hat sich als Dichter und als Theoretiker mit der Globalisierung beschäftigt—wobei er aber dem Begriff der Globalisierung (frz. Mondialisation) einen anderen, den der Mondialité entgegensetzt. Dieses Wort würde ich im Deutschen sowohl mit Globalität wie mit Weltlichkeit oder Welthaftigkeit wiedergeben. Mondialité meint die Welt als Horizont oder Bezugsrahmen der Handlungen der Einzelnen. Mondialisation ist dagegen die Vereinheitlichung der Welt durch ihre Unterwerfung unter kommerzielle, militärische und politische Interessen.

Zur Mondialité gehört es, die Verschiedenheit der menschlichen (und nichtmenschlichen) Akteure in der Welt der Gegenwart nicht zu reduzieren. Für die Erfahrung (Glisssant würde wohl das Wort connaissance benutzen) der Mondialité ist die Wahrnehmung der Verschiedenheit grundlegend, für den Prozess der Modialisation dagegen der Primat des Identischen.

Glissant spricht von

einem noch nie dagewesenen Abenteuer, das uns allen zu leben aufgegeben ist, in einem Zeit-Raum, der sich zum ersten Mal, wirklich, plötzlich und unaufhaltsamn, als zugleich einheitlich und vielfältig begreift, und dabei als unentwirrbar

une aventure sans précédent qu’il nous est donné à tous de vivre, dans un espace‑temps qui, pour la première fois, réellement et de manière foudroyante, se conçoit à la fois unique et multiple, et inextricable).1

Soweit ich es bisher verstanden habe, bezieht sich bei Glissant der Gegensatz von Mondialité und Mondialisation auf Politik, Wirtschaft und Kultur, aber nicht auf die digitale Vernetzung. Er lässt sich aber auf das Netz und vor allem auf das Web übertragen. Denn man kann das Web als das einzige wirkliche Medium der Mondialité verstehen. Das Web ist so definiert, dass aktiv und passiv jede und jeder auf der Welt an ihm teilnehmen kann. Was im Web publiziert ist, ist für alle auf der Welt erreichbar und lässt sich mit jedem anderen Inhalt im Web verknüpfen. Auch durch das Web wird so das realisiert, was Glissant als tout-monde bezeichnet, eine gemeinsame Welt für jedermann (tout le monde), die ein Ganzes (tout) ist.

Diese Öffnung, von Ort zu Ort, alle gleich berechtigt, und jeder von ihnen lebendig und verbunden mit allen anderen, und keiner von ihnen reduzierbar auf was auch immer, ist es, die das Tout-Monde gestaltet.

Cette ouverture, de lieu en lieu, tous également légitimés, et chacun d’eux en vie et connexion avec tous les autres, et aucun d’eux réductible à quoi que ce soit, est ce qui informe le Tout‑Monde).1

Als Medium der Mondialité lässt sich aber nur das dezentrale, unhierarchische Web benutzen, wie es Anfang der 90er Jahre konzipiert und realisiert wurde. Die Entwicklung der großen kommerziellen Monopole ist dagegen ein Prozess der Mondialisation, der Vereinheitlichung auf dem untersten Niveau im Interesse von Profit und Macht.

Dem Gegensatz von Mondialité und Mondialisation entsprechen bei Glissant die räumlichen Metaphern des Archipels und des Kontinents. Mondialité steht für die Beziehungen zwischen den Bewohnern eines Archipels, deren Inseln unterschiedlich groß und verschieden geformt sind, und die sich durch Reisen immer wieder neu und anders miteinander austauschen, aber dabei voneinander entfernt bleiben. Der Mondialisation entspricht das Bild der Erschließung und Unterwerfung eines Kontinents, der Etablierung von Verkehrswegen und von Zentren und Subzentren. Das dezentrale offene Web, das Tim Berners-Lee und seine Mitarbeiter konzipiert haben, ist ein Archipel oder eine Menge von Archipelen. Das Netz, in dem internationale Konzerne und nationale Regierungen um die Vorherrschaft kämpfen, zerfällt in Kontinente—übrigens in Kontinente, die sich gerade nicht nur westliche, sondern auch chinesische und russische Firmen unterwerfen.

„Archipel“ und „Kontinent“ sind poetische Metaphern, um die Praxis des dezentralen Web und ihren Gegensatz zu zentralisierten Systemen zu erfassen. Die Ausdrücke könnten mehr als Metaphern sein, wenn man sie benutzt, um die Beziehung des Web zu Mondialité und Mondialisation im politischen und gesellschaftlichen Sinn zu verstehen. Die kleinen und unterschiedlichen Einheiten des dezentralen Web können sich entsprechend unterschiedlichen lokalen Bedingungen und Bedürfnissen entwickeln, werden von ihren Benutzerinnen und Benutzern kontrolliert und setzen voraus, dass diese ihre Bedürfnisse und Ziele selbst definieren.

Wenn ich das auf mich selbst und auf diese Website hier übertrage, dann bedeutet es, dass ich sie entsprechend meinen Vorstellungen und Wünschen entwickele, als ein persönliches Medium für den Austauch mit wenigen anderen—den mehr oder weniger weit entfernten Menschen in diesem Archipel des Web oder in seiner Nähe. Aber auch für die Contenstrategie lässt sich dieses Bild verwenden. Da, wo eine Firma oder Organisation ihre eigenen Inhalte aktiv definiert—zusammen mit ihren Kunden und Bezugsgruppen—wird sie zu einer eigenen Destination, wenn man so will, zu einer eigenen Insel in ihrem Archipel, statt zu einer Durchgangsstation, zum Teil einer Plantage, um ein weiteres Bild Glissants zu benutzen.


  1. Glissant-Zitate entnommen aus: Brigitte Dodu. Mondialite ou mondialisation ? Le Tout‑monde et le Tout‑empire 

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