Eisenbeton-Ausstellung im Wien Museum. Foto: Klaus Pichler

Im Wien Museum ist gerade die Ausstellung Eisenbeton. Anatomie einer Metropole zu sehen. Thema sind Stahlbeton- oder Eisenbeton-Skelettbauten1 der frühen Wiener Moderne. Am vorletzten Sonntag haben Ana und ich die Ausstellung besucht. Ich habe den Besuch mit dem Material, das ich online dazu gefunden habe (u.a. einem Podcast mit den Ausstellungsmacher:innen, Karr, 2025) und mit dem ausgezeichneten, umfassenden Ausstellungskatalog nachbereitet (Kapfinger, 2025a). Mich interessiert, wie die Ausstellung vor dem Hintergrund der Theorien des sozialen Metabolismus zu verstehen ist, mit denen ich mich seit einiger Zeit beschäftige. Kann man – und wie kann man – eine Verbindung zwischen dem lokalen Prozess des Durchbruchs des Eisenbeton-Baus in Wien und dem globalen Übergang vom agrarischen zum fossil-industriellen Metabolismus herstellen? Und lässt sich die hochkultivierte, über Jahrzehnte in Wien entwickelte Herangehensweise an die Baugeschichte der Stadt, wie sie in dieser Ausstellung und ihrem Katalog zum Ausdruck kommt, mit den Perspektiven verbinden, für die das Wiener Institut für Soziale Ökologie eine internationale Vorreiter-Rolle spielt?

Die Kontrolleurin am Eingang hat entschuldigend festgestellt, dass die Ausstellung „eher klein“ sei. Klein ist vielleicht die Anzahl der präsentierten Objekte, für die ein großer Raum des Wien Museums genügt. Die überschaubare Auswahl ist aber der Niederschlag eines umfassenden Forschungsprojekts, das nicht nur mit enorm viel Detailarbeit verbunden war, sondern auch unterschiedliche Untersuchungsebenen wie Technik- und Wirtschaftsgeschichte bündelt.

Unbekannt, Blick in das Dachgeschoß des Wiener Bankvereins im Rohbau, um
1911, Privatsammlung, Foto: TimTom, Wien Museum

Die Entdeckung der Bedeutung des Eisenskelettbaus in Wien zwischen 1890 und 1914 war der Anlass dieses Forschungsprojekts, das Otto Kapfinger initiiert und geleitet hat. Aus dem Projekt ergab sich nicht nur eine neue Sicht der Wiener Moderne. Es ist auch mit Reflexionen zum Bauen mit Beton heute verbunden. Hätte das Bauen mit Beton nicht angesichts der Klima- und der mit ihr verbundenen Krisen seine Selbstverständlichkeit verloren, wäre seine Frühgeschichte in Wien vielleicht gar nicht zu einem eigenen Forschungsthema geworden. Zwangsläufig führen solche Forschungen zu der Frage, wie heute mit diesem Baumaterial umzugehen ist. Indem die Ausstellung herausarbeitet, was das Bauen mit Beton charakterisiert, bietet sie auch Material für die Diskussion der Frage, was auf die Art zu bauen, deren Beginn in Wien sie zeigt, folgen kann, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Bauen mit traditionellem Zement wegen der damit verbundenen Emissionen nicht mehr gerechtfertigt werden kann.

Diesen Horizont der Ausstellung zeigt Otto Kapfinger differenziert und mit vielen Fragen in einem Essay im Magazin des Wien-Museums auf (2025b). Die Ergebnisse des mehrjährigen Forschungsprojekt, das Kapfinger geleitet hat, sind umfassend im Buch zur Ausstellung dokumentiert. Einen Eindruck von diesem Buch kann man sich online verschaffen.

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Auffälligstes Gestaltungselement der Ausstellung sind die Modelle der Eisenbeton-Skelette von etwa 20 vor 1914 in Wien errichteten Häusern, von denen viele noch stehen. Bilder und Texte dokumentieren die Situation vor und nach der Errichtung dieser Bauten, ihre Verwendung und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Das Material an den Wänden des Ausstellungsraums informiert außerdem über die Geschichte des Eisenbetonbaus in der Monarchie und über spätere Entwicklungen bis zum Brutalismus. Eine Serie von Fotografien Wolfgang Thalers zeigt, wie die damals in Wien errichteten Eisenbetonbauten heute aussehen. Ausstellung und Katalog enthalten viele historische Architekturfotografien, u.a. von Marianne Strobl, die sich als Industriefotografin mit den zeitgenössische Bauten beschäftigte.

Als den eigentlichen Gegenstand der Ausstellung könnte man einen neuen Objekttyp2 – den Stahlskelettbau – und das Akteur-Netzwerk3 bezeichnen, in das dieser Objekttyp in der Wiener Moderne eingebettet war. Zu diesem Netzwerk gehören die Entwicklung und Propagierung der erforderlichen Technik, die Planung der Gebäude als Elemente des öffentlichen Raums, die Finanzierung und Vermarktung der Gebäude, ihre unterschiedliche Nutzung und ihre Gestaltung durch bekannte Architekten der Wiener Moderne. Die Gestaltung der Bauten hat dabei in der Wirkungsgeschichte der Bauten die für sie verwendete, damals hochinnovative Technik in den Hintergrund treten lassen. Bis heute ist das Loos-Haus am Michaelerplatz wegen seiner Fassade und der Debatten darüber berühmt, aber nicht als einer der ersten Wiener Stahlskelettbauten.

Baumaterial und Bautechnik werden bei diesen Bauten teilweise gestalterisch verdeckt – im Gegensatz zum Mainstream der späteren Betonbauten der Moderne. Gropius machte die „Statik der Horizontalen“ (1923, p. 15) auch zu einem Ausgangspunkt der Ästhetik moderner Hochbauten. Der Brutalismus nutzte die Oberflächenqualitäten des Betons programmatisch für die Gestaltung. Im Buch der Ausstellung wird darauf hingewiesen, das Gropius und Le Corbusier das „moderne“ Bauen mit Beton mit Bildern amerkanischer Betonbauten, z.B. von Silos, propagierten, und nicht mit den Stahlskelettbauten der unmittelbaren Vorgängergeneration, deren Vertreter – darunter Otto Wagner, Josef Hoffman und Jože Plečnik – für ihre bahnbrechenden Bauten in Wien und der Donaumonarchie eng mit Ingenieuren, Wissenschaftlern und Bauunternehmen kooperierten (Stiller, 2025, p. 43).

Die frühen Betonbauten der Wiener Moderne erlauben eine freie Gestaltung der Innenräume wie der Fassaden. Als Skelettbauten ermöglichen sie es, auch auf Grundstücken mit geringer Tiefe schnell, genau und hoch zu bauen. Die Skelettbauweise ist für unterschiedliche und schnell wechselnde Nutzungen offen. Mit Stahlbeton lassen sich weite Räume mit wenig Aufwand überspannen. So entstehen Kino- und Versammlungssäle in Untergeschossen sowie repräsentive Hallen für Banken oder ein Schwimmbad.

Die typisch großstädtische kommerzielle und öffentliche Nutzung von Gebäuden – u.a. für großzügige Geschäfte, Bars und Veranstaltungsräume, deren Design sich leicht anpassen lässt – baut zu einem großen Teil auf den Qualitäten des Materials Stahlbeton auf. Die Besitzer, oft aus dem jüdischen Wiener Bürgertum, ließen solche Gebäude als Investitionen, nicht zur Repräsentation errichten. Die Refinanzierung erfolgte zu einem großen Teil durch Konsum. Öffentliche Stahlskelett-Bauten wie das Dianabad waren für eine Massennutzung bestimmt. In ihrer Nutzung wie in ihrer Gestaltung entsprachen die Stahlskelettbauten den Interessen sehr unterschiedlicher Segmente der urbanen Bevölkerung – Segmente, die später vom Austro- und vom Nazifaschismus entmachtet, vertrieben und z.T. physisch vernichtet wurden.


Ich habe mich in den letzten Monaten immer wieder mit ökologischer Ökonomie beschäftigt, vor allem mit Éric Pineaults Buch The Social Ecology of Capital (Pineault, 2023) und – angeregt durch Pineault – mit Texten aus dem Umkreis des Wiener Instituts für soziale Ökologie. In diesen Texten wird zwischen drei großen Regimen des sozialen Metabolismus unterschieden: dem der Jäger und Sammler, den agrarischen Gesellschaften und dem fossil-industriellen Regime. Der Eisenskelettbau, dessen Anfänge in Wien diese Ausstellung zeigt, ist die Bauform des fossil-industriellen Metabolismus, sein Produkt wie sein Instrument.

Die Stahlskelettbauten verwenden maschinell produzierte, z.T. durch Bergbau gewonnene Baumaterialien. Die beiden Komponenten der Eisenbeton-Architektur, Stahl und Portland-Zement, benötigen zu ihrer Herstellung enorme Mengen von Kohleenergie. In ihrer Masse, ihren Dimensionen und ihrer Gestaltung sind sie nicht mehr an die Einschränkungen der agrarischen Welt gebunden, deren Energie, vor allem Muskelkraft, fast ausschließlich der Biosphäre entstammt. Sie werden auch nicht durch ihre ökologischen Folgen (Bevölkerungswachstum, Abfallstoffe) eingeschränkt, die die Regeneration der Biosphäre erschweren und zunehmend unmöglich machen. Das Wachstum von Städten in agrarischen Zivilisationen war dagegen durch die Leistungsfähigkeit der Biosphäre begrenzt. Wie viel und wie groß mit Stahlbeton gebaut wird, hängt vor allem vom Wachstum von Märkten ab, die Kapital, Arbeitskräfte, Konsumierende, Material und Technologien zur Verfügung stellen und absorbieren. Die Stahlskelettbauten sind damit Teil der Transformation des Stadtraums vom Zentrum eines auf landwirtschaftlicher Nutzung seiner Gebiete basierenden Imperiums zu einer mit anderen Metropolen und ihren Märkten vernetzten und konkurrierenden Großstadt – eine Transformation, die weltweit bis heute anhält und deren ökologische Nicht-Nachhaltigkeit immer deutlicher sichtbar wird.

Die Stahlbeton-Architektur ist nicht ein beliebiges Element des fossil-industriellen Metabolismus. Dieser Metabolismus ist so eng mit der Urbanisierung verbunden, dass die Vertreter der Wiener Schule der sozialen Ökologie den ökologischen Impact dieses Metabolismus als Impact der Urbanisierung analysieren:

… we find it legitimate to use the global urban population as an approximation for the size of the population living by the standards of the industrial sociometabolic regime. They rarely hunt and gather anymore; and they do not sustain themselves by working the land; they sustain themselves by earning money for non-foodproducing activities and satisfy their needs via markets. (Fischer-Kowalski et al., 2014)

Die Wiener Eisenbau-Ausstellung zeigt den Durchbruch der neuen Bauweise in Wien. Der Katalog macht deutlich, dass es sich dabei um ein globales Phänomen handelte, und dass die neue Bauweise eng mit der Ausdehnung der Städte und Veränderungen der geografischen Räume um die Städte herum verbunden waren. Damit kann man die Ausstellung auch als Teil der Geschichte des Anthropozäns (oder: Kapitalozäns) lesen.

Ein solches Verständnis des Durchbruchs des Baus mit Stahlbeton bedeutet nicht, dass man das neue Material oder die neue Technologie als Hauptursache einer neuen Epoche bezeichnet. Die Ausstellung und der Katalog zeigen, dass die neue Bauweise mit vielen anderen Faktoren verbunden war, z.B. mit der ingenieurwissenschaftlichen Entwicklung von Bautechniken, mit Veränderungen in der Bürokratie und vor allem mit neuen Unternehmensformen in der Bauindustrie. Es ist auch nicht nötig, das Bauen mit Stahlbeton einer „Essenz“ der Moderne oder des Anthropozäns zuzurechnen. Diese Bauweise monokausal oder essentialistisch zu verstehen würde zu der Gegenargumentation führen, dass man sich damit von den besonderen lokalen Konstellationen, unter denen sie sich durchsetzte, zu weit entfernt und diesen Durchsetzungsprozess selbst nicht erklären kann. Mir erscheint es adäquater, sich am Begriff der social tipping points zu orientieren.

Therefore, a social tipping point can be defined as a point within an SES [= social ecological systems] at which a small quantitative change inevitably triggers a non-linear change in the social component of the SES, driven by a self-reinforcing positive feedback mechanisms, that inevitably and often irreversibly lead to a qualitatively different state of the social system. (Milkoreit et al. 2018), p.10)

Die Haupteigenschaften soziale Kipppunkte charakterisieren den Durchbruch des Bauens mit Eisenbeton: Es war disruptiv, weil es alle Parameter des bisherigen Bauens veränderte und nicht nur neue Bautypen, sondern eine neue Branche möglich machte. Es wurde durch Feedback-Mechanismen vorangetrieben, vor allem, weil es die Urbanisierung beschleunigte, die dann ihrerseits den Bedarf nach weiteren Stahlbeton-Bauten steigerte. Und es trug entscheidend zu einem qualitativ neuen Zustand des sozialen System bei, nämlich zu einer primär urbanen, von fossilen Energien abhängigen Zivilisation. (Ich würde lieber von qualitativ verschiedenen Räumen sprechen, denn „Gesellschaft“ gibt es nur in und als Gestaltung von geografischen Räumen.)

Alternativen zum Stahlbetau-Bau sind nicht das Thema einer Ausstellung, die sich mit seiner Genese beschäftigt. Dass der Ersatz des Betons durch Holz eine nicht nur ökologisch nötige, sondern auch realistische Alternative ist, hat ein Team um John Schellnhuber und gezeigt (Churkina et al., 2020). Sicher ist, dass der Abschied vom Eisenbeton ein ähnlich folgenreicher Kipppunkt wäre wie seine Einführung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Nachweise

Churkina, G., Organschi, A., Reyer, C. P. O., Ruff, A., Vinke, K., Liu, Z., Reck, B. K., Graedel, T. E., & Schellnhuber, H. J. (2020). Buildings as a global carbon sink. Nature Sustainability, 3(4), 269–276. https://doi.org/10.1038/s41893-019-0462-4
Fischer-Kowalski, M., Krausmann, F., & Pallua, I. (2014). A sociometabolic reading of the Anthropocene: Modes of subsistence, population size and human impact on Earth. The Anthropocene Review, 1(1), 8–33. https://doi.org/10.1177/2053019613518033
Gropius, W. (1923). Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses. In Staatliches Bauhaus & Karl Nierdendorf (Eds.), Staatliches Bauhaus in Weimar 1919-1923 (pp. 7–19). Bauhausverlag. https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/TQXQOWFR7GYYJ7C6SABYJMD25KZNJWMX
Kapfinger, O. (Ed.). (2025a). Anatomie einer Metropole: Bauen mit Eisenbeton in Wien 1890-1914 (1st ed.). Birkhäuser.
Kapfinger, O. (2025b, May 22). Eisenbeton in Wien um 1900 und heute. Wien Museum Magazin. https://magazin.wienmuseum.at/eisenbeton-in-wien-um-1900-und-heute
Karr, S. (Director). (2025, June 16). Eisenbeton – ein Baustoff schreibt Stadtgeschichte (20′) [Broadcast]. Architektur & Bau Forum. https://www.podcast.de/episode/689641192/20-eisenbeton-ein-baustoff-schreibt-stadtgeschichte
Milkoreit, M., Hodbod, J., Baggio, J., Benessaiah, K., Calderón-Contreras, R., Donges, J. F., Mathias, J.-D., Rocha, J. C., Schoon, M., & Werners, S. E. (2018). Defining tipping points for social-ecological systems scholarship—an interdisciplinary literature review. Environmental Research Letters, 13(3), 033005. https://doi.org/10.1088/1748-9326/aaaa75
Pineault, É. (2023). A Social Ecology of Capital. Pluto Press.
Stiller, A. (2025). Eisenbeton International. In O. Kapfinger (Ed.), Anatomie einer Metropole: Bauen mit Eisenbeton in Wien 1890-1914 (1st ed., pp. 34–43). Birkhäuser.
  1. Vor 1914 wurde von „Eisenbeton“ gesprochen. Der Ausdruck Stahlbeton wurde erst später eingeführt. Ich benutze hier „Eisenbeton“ und „Stahlbeton“ als Synonyme. ↩︎
  2. Ich benutze den Ausdruck im Sinne von Bruno Latour und John Dewey, siehe: Versuch, Bruno Latours Zugang zur ökologischen Politik verständlich zu machen ↩︎
  3. Ich verwende den Ausdruck hier nicht strikt im Sinn der Actor Network Theory. ↩︎
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