Rainer Ruffings Einführung in das Werk Bruno Latours (Bruno Latour, UTB Profile) habe ich auf dem Weg von München nach Graz im Zug gelesen. Zwischendurch erhielt ich von meinem HTC Desire die Meldung, es habe über 130 übereinstimmende Kontakte gefunden: Personen, die sowohl in meinem Google Adressbuch wie bei meinen Facebook-Freunden oder Twitter-Followern auftauchen. Ich konnte durch Berühren des Bildschirms bestätigen, dass es sich jeweils tatsächlich um dieselbe Person handelt.
Ich glaube, genau dieser Akt der Bestätigung, der Verknüpfung, repräsentiert das, was Latour mit dem Sozialen meint: Das Soziale ist keine gleichbleibende Qualität oder gar etwas mehr oder weniger Stoffliches, sondern etwas Momentanes, die Verbindung von vorher nicht Zusammengehörendem in einem Handlungszusammenhang, in diesem Fall dem kleinen Akteur-Netzwerk, das mein Handy, meine Kontakte und ich darstellten.
Zum Sozialen im Sinne Latours passt auch, dass an ihm ein Ding, ein Mobiltelefon mitwirkt, das wiederum mit vielen anderen Dingen, z.B. den Datenbanken bei Google und Facebook, verbunden ist. Mein Handy, oder besser: der Handybildschirm, auf dem ich die Kontakte miteinander verbinde, ist ein Vermittler, ein Mediator, und ohne diesen Mediator, der die Kontakte übersetzt, würde in diesem Moment keine soziale Beziehung entstehen. (Beziehung nicht im Sinne von etwas Statischem, Vorhandenen, sondern im Sinne von beziehen, verbinden; wenn die Beziehung nur da ist, ist sie nichts Soziales, sondern eine einfache Kopräsenz, die nur durch neue Akte, Vermittlungen und Übersetzungen sozial wird.)
Ruffings Buch ist vor allem eine Inhaltsangabe einiger Hauptwerke Latours. Ruffing vereinfacht Latour, aber er gibt einen guten ersten Zugang zu seinen Texten. Ich würde das Buch allen empfehlen, die eine erste Orientierung suchen, sie aber davor warnen, Latour auf einige Thesen (wie sie Ruffing im Serviceteil des Buchs aus verschiedenen Texten Latours zusammengestellt hat) zu reduzieren. Ich glaube nicht, dass Latour ein System formuliert. Ein großer Teil seiner Texte sind Beschreibungen, Kritiken und Interpretationen. Es bringt mehr, ihrer Bewegung zu folgen, als aus ihnen ein paar Lehrsätze zu destillieren (auch wenn das Latour selbst tut, der sich und die Actor Network Theory immer wieder neu übersetzen muss).
Meine eigene Einführung in das Werk Latours erhielt ich duch eine Übersetzung für einen Katalog: Charlotte Brives, Bruno Latour: Wissenschaft durch den Gefrierschrank betrachtet (PDF). Ein kurzer, einfacher Text, eine diche Beschreibung eines Kühlschranks und seiner Aufgaben in einem mikrobiologischen Labor. Wenn man Latour verstehen will, sollte man außer einem Überblick wie dem Ruffings solche Texte lesen. Gut eignet sich dazu der erste Aufsatz in Die Hoffnung der Pandora über die Erforschung der Grenzzone zwischen Savanne und Amazonasdschungel; er ist allerdings viel länger als der Text über den Laborkühlschrank.
Mir ist beim Lesen des Buchs von Ruffing ein Aspekt Latours zum ersten Mal aufgegangen: Latour bezeichnet das, was er tut, als empirische Philosophie. Statt durch Reflexion zu klären, was Erkenntnis ist, untersucht er empirisch, wie wahre Sätze zustande kommen, etwa in der Praxis des wissenschaftlichen Labors. Latour verzichtet nicht auf philosophische Fragen, aber er hält die Spekulation, das introvertierte Nachdenken nicht für die richtige Methode sie zu beantworten. Er sucht die Antworten in genauen Beschreibungen von soziale Konstellationen, die zeigen, das es sich bei Phänomenen wie Erkenntnis nicht um etwas Subjektives handelt.
Warum glaube ich, dass Latour für unser Projekt der Erforschung von Web Literacy wichtig ist? Weil Web Literacy nur in solchen Netzwerken, wie Latour sie beschreibt zu haben ist, also nur gebunden an soziale Konstellationen, zu denen Objekte gehören, und verständlich nur im Zusammenhang von Handlungen (der miteinander assoziierten Menschen und Dinge). So wie Latour die Praxis von Wissenschaftlern beschreibt, lässt sich auch die Praxis von Gruppen beschreiben, die im Web kommunizieren und dadurch mit bestimmten, für diese Konstellationen typischen Objekten zu tun haben. Literacy ist in diesen Kontexten da, wir müssen sie nicht postulieren, sondern nur beobachten. Sie wird aber immer wieder neu realisiert, und diese permanente Veränderung gehört selbst zu den Eigenschaften der Objekte oder der Umwelt, auf die Web Literacy bezogen ist.