Ich habe mich in dieser Woche weiter mit Éric Pineaults A Social Ecology of Capital (2023) beschäftigt und einige Texte gelesen, die Pineault während der Entstehung dieses Buchs publiziert hat. Sie machen für mich die Probleme deutlicher, mit denen sich Pineault in seinem Buch auseinandergesetzt hat (2016, 2018a, 2018b). Bei der Lektüre suche ich immer noch nach Antworten auf die Fragen, durch die ich auf Pineaults Buch gestoßen bin: Wie ist das exponentielle Wachstum zu erklären, das zur großen Beschleunigung (Steffen et al., 2015) und damit zum Klimanotstand und zur Überschreitung der Planetaren Grenzen geführt hat? Welche Gesellschafts-, Wirtschafts- oder Kapitalismustheorie kann diesen Zusammenhang erklären? Aus welcher Erklärung lassen sich Schlussfolgerungen für ein Engagement gegen das Fortschreiten der Klimakrise (und der mit ihr verbundenen Krisen) ableiten?

Ich habe schon zweimal über Pineaults Buch gebloggt (hier und hier). Erst danach ist mir klar geworden, dass ich ein zentrales Element von Pineaults Analyse des exponentiellen Wachstums des fortgeschrittenen Kapitalismus nicht verstanden hatte. Ich versuche hier zu formulieren, wie ich seine Argumentation jetzt begreife. Sie baut auf sehr viel Literatur auf (die ich zum Teil jetzt gerade durch Pineault kennenlerne) und ist dicht mit anderen Argumentationssträngen des Buchs vernetzt.

Der wichtigste Teil der Antwort Pineaults ist: Das exponentielle Wachstum der Material- und Energieflüsse der modernen kapitalistischen Gesellschaften wird vom Wachstum der großen monopolistischen Korporationen angetrieben. Diese Unternehmen wachsen nicht nur, weil Wachstum mehr Profite verspricht, sondern zugleich, weil sie wachsen müssen, um ihre eigene Profitabilität zu sichern. Das Wachstum dieser Firmen wird nicht nur von einem Wachstumsimpuls, sondern von einem Wachstumsimperativ angetrieben. Zu wenig Wachstum bedeutet Kontrollverlust nach innen (Verlust der Kontrolle über die eigene Organisation und der Fähigkeit, Innovationen zu managen) und nach außen (Verlust der Kontrolle über Märkte und Marktumfeld). Ermöglicht wird das Wachstum dieser Firmen durch immer weiter gesteigerten Überkonsum. Ohne Überkonsum könnten diese Firme ihre Überproduktion nicht monetarisieren.

Pineault unterscheidet zwischen einem älteren kapitalistischen Akkumulationsregime und dem Akkumulationsregime des fortgeschrittenen Kapitalismus, den er im Anschluss an mehrere Theoretiker auch als Monopolkapitalismus bezeichnet.

(Der Ausdruck „Akkumulationregime“ stammt aus der Regulationstheorie (Neumair, 2018) und bezieht sich auf die Institutionen, die entwickelt werden, um eine bestimmte Form des Kapitalismus zu ermöglichen.)

Das ältere Akkumulationsregime ist für den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts charakteristisch, den Marx untersucht hat. In dieser Form des Kapitalismus gibt es Wachstum, weil die erwirtschafteten Überschüsse immer wieder investiert werden. Wenn die Kapitalisten – in dieser Phase handelte sich tatsächlich um einzelne Personen, die Unternehmen besaßen – nicht investieren, schwächen sie ihre Position im Wettbewerb bis zum Bankrott.

Diese Form des Kapitalismus gelangt in Krisen, wenn nicht genug Nachfrage für die erzeugten Produkte vorhanden ist. Der Kapitalismus muss sich ausweiten, um die Akkumulation fortsetzen zu können. Im Anschluss an Rosa Luxemburgs Theorie des Imperialismus (Luxemburg, 1923) hat man von der „Landnahme“ gesprochen, durch die der Kapitalismus Überproduktionskrisen vermeidet (Engster, n.d.).

Etwa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich aber der Kapitalismus so verändert, dass er nicht mehr nur auf die räumliche Ausdehnung angewiesen ist, um Krisen zu vermeiden. Im fortgeschrittenen Kapitalismus agieren nicht mehr vor allem einzelne Unternehmerinnen und Unternehmer auf einem Markt, der sie zum Wachstum durch Wiederverwertung des Überschusses zwingt, sondern große kapitalistische Firmen (am besten passt der englische Ausdruck corporations), die enorme Mengen an gebundenem Kapital vor Entwertung schützen müssen.

Das Agieren dieser Firmen ist nicht mehr vor allem dadurch bestimmt, möglichst kostengünstig für einen von Verbraucherinnen und Verbrauchern bestimmten Markt zu produzieren. Sie müssen den Markt so dominieren, dass sie ihre Existenz langfristig sichern und nicht von innovativeren Konkurrenzunternehmen angegriffen werden. Dazu müssen sie so groß sein wie möglich und sind deshalb gezwungen zu wachsen. Eine vom Wachstum großer Firmen bestimmte Wirtschaft bildet eine Umwelt, die jede dieser Firmen zusätzlich zum Wachstum antreibt, damit sich ihre Marktanteile und damit ihre Dominanz nicht verringern.

Korporationen oder Konzerne erwerben durch Wachstum so viel Macht, dass sie die Regeln des Marktes in einem gewissen Maß außer Kraft setzen können. Sie können durch Management ihrer Innovationsprozesse steuern, in welcher Zeit ihre Investitionen ihren Wert verlieren. Sie erwerben immaterielle Güter, wie Patente, durch die sie ihre Investitionen langfristig sichern. Sie verhindern Konkurrenz und Innovationen, die ihnen gefährlich werden können. Sie schaffen durch ihre marktbeherrschende Stellung Abhängigkeiten und kontrollieren ganze Wertschöpfungsketten. Sie erschweren oder verhindern, dass Verbraucher:innen andere Produkte als die von ihnen produzierten kaufen. Durch die Gestaltung der Produkte selbst, z.B. durch geplante Obsoleszenz, aber auch durch Marketing und Ausweitung ihrer politischen Macht sichern sie den Absatz ihrer Produkte.

Wachstum, Überproduktion und Überkonsum

Pineault spricht davon, dass in dieser Phase das Hauptproblem für den Kapitalismus in der Absorption der Überschüsse besteht. Das Wachstum lässt sich nur aufrechterhalten, wenn die Firmen ihre Produkte absetzen können. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: zusätzliche Märkte („extensive Akkumulation“) und Veränderung bestehender Märkte („intensive Akkumulation“). Meist werden beide Strategien kombiniert. So hat sich Apple zum Beispiel durch zusätzliche Produkte wie die iWatch und kostengünstige Produkte wie relativ billige Telefone zusätzliche Märkte erschlossen. Gleichzeitig sorgt der Innovationsrhythmus der Firma dafür, dass die Kundinnen und Kunden neue Produkte mit zusätzlichen Eigenschaften oder größerer Leistungsfähigkeit kaufen.

Um maximales Wachstum zu ermöglichen, wird in diesem Akkumulationsregime Überproduktion durch Überkonsum absorbiert. „Überkonsum“ ist ein Verbrauch, der von den Wachstumsnotwendigkeiten der großen Konzerne und ihren Möglichkeiten, Märkte zu dominieren, angetrieben wird.

Der Ausdruck „Überkonsum“ ist nicht kulturkritisch oder moralisch gemeint. Er setzt nicht voraus, dass „echte“ von „falschen“ Bedürfnissen unterschieden werden. Charakteristisch für Überkonsum sind Konsumgüter, die selbst weiteren Konsum antreiben, und der schnelle Ersatz von Produkten – die beabsichtigte Produktion von Abfall, die den materiellen Durchsatz in der Gesellschaft antreibt.

In der ersten Phase des Kapitalismus ist Wachstum ein Ergebnis der Akumulation. Im fortgeschrittenen Kapitalismus ist umgekehrt das Wachstum eine Bedingung der Akumulation. Die Akteure sind andere, weil an die Stelle der einzelnen Unternehmen die großen Kooperationen treten.

Fossile Artefakte als Instrumente der Dominanz der Konzerne

Der Zusammenhang zwischen dem Wachstumsimperativ und dem Charakter der monopolistischen oder oligopolistischen Firmen ist komplex. Ich habe versucht, Pineaults Darstellung kurz zusammenzufassen und dabei viele Aspekte ausgeblendet. Pineault bezieht sich auf postkeynesianische (u.a. Marc Lavoie, Alfred S. Eichner) und marxistische (u.a. Paul A. Baran, Paul M. Sweezy und John Bellamy Foster) Ökonomen. Der Schwerpunkt seiner Theorie liegt in der Verknüpfung der Analyse der Wachstumsdynamik des fortgeschrittenen Kapitalismus mit der Analyse der Material- und Energieströme und -Bestände, also im Verständnis der Materialität der Wirtschaft. Pineault verknüpft dabei die Betrachtung der Motive hinter dem Agieren einzelner Firmen mit der Theoriebildung zur gesamten Wirtschaft. Zum fortgeschrittenen Kapitalismus gehört die Sicherstellung der Nachfrage durch einen „Wachstumspakt“ zwischen Kapital, Arbeitenden/Verbrauchenden und Staat. Dieser Pakt ermöglicht die treadmill of production (Schnaiberg, 1980) und damit das exponentielle Wachstum. Dabei verändert sich das Akkumulationsregime des fortgeschrittenen Kapitalismus immer wieder, in den letzten Jahrzehnten u.a. durch Globalisierung, Finanzialisierung und Neoliberalismus.

Wachstum im fortgeschrittenen Kapitalismus ist also mehr als Wachstum der Materialflüsse und Bestände und Wachstum des Kapitals. Es hat die besondere Form der Zunahme von Artefakten und Infrastrukturen, die Instrumente und Ausdruck der organisatorischen Macht der großen Korporationen und damit ihrer Dominanz in der Gesellschaft sind. Im fossilen Kapitalismus sind diese Artefakte zu einem großen Teil aus „geologischen Beständen“ gewonnen und treiben die Nutzung fossiler Energien voran. Die „fossile Infrastruktur“, am deutlichsten sichtbar in Architektur und Verkehr, sichert die Herrschaft der monopolistischen Firmen. Artefakte und Infrastruktur sind nicht nur austauschbare Wirtschaftsgüter sondern Instrumente und Medien der Organisation der Gesellschaft durch große Korporationen.

Die Ausgangssituation für Aktivismus

Pineault (der eine Synthese vieler Untersuchungen formuliert) identifiziert mit diesem Ansatz zentrale Akteure, die für das exponentielle Wachstum der fortgeschrittenen kapitalistischen Wirtschaften verantwortlich: die großen, monopolistischen Korporationen, die durch ihre Größe ihre Märkte weitgehend gestalten können und so schnell wie möglich wachsen, um diese Dominanz zu behalten. Dieses Wachstum vollzieht sich als Entfaltung der „organisatorischen Macht“ der Konzerne und damit als Veränderung der Materialität der Gesellschaft – von der Verkehrs- und Energieinfrastruktur bis zu Konsumgütern wie Mobiltelefonen und Autos, die den Konsum laufend weiter antreiben. Die Macht der Konzerne ist – um einen Ausdruck zu verwenden, den Pineault nicht benutzt – in die materielle Wirklichkeit der fortgeschrittenen Kapitalismus eingeschrieben, und zwar so, dass laufend im Sinne eines weiteren Ausbaus der Dominanz der Konzerne mobilisiert wird.

Pineault hat sein Buch als Ökonom und Soziologe geschrieben. Ich lese es selbst – auch – als einführenden Text zur ökologisch-ökonomischen Theoriebildung und versuche, einige der Ansätze kennenzulernen, auf die er sich stützt. Pineault hat in einem Podcast ein Buch angekündigt, das seine Erkenntnisse für die Praxis des Aktivismus übersetzt (Pineault & Baroncelli, 2023). Sein eigenes Engagement gegen die Ölindustrie in Kanada zeigt, wie eine praktische Umsetzung aussehen kann (Brooks et al., 2023). Der Kampf gegen die materielle Infrastruktur der Fossilindustrie und die mit ihr verbundenen Lock-ins spielt dabei eine zentrale Rolle. Hier in Österreich ist der Kampf gegen den Ausbau von Autobahnen wie in der Lobau auch ein Kampf gegen eine Infrastruktur, die auf möglichst schnelles weiteres Wachstum von Unternehmen und vor allem großen Konzernen ausgerichtet ist.

Brooks, D., Carter, A., Eaton, E., Pineault, É., & Sapinski, J. P. (2023). Mapping Fossil Fuel Lock-In and Contestation in Eastern Canada. Corporate Mapping Project. https://www.policyalternatives.ca/wp-content/uploads/attachments/Mapping%20Fossil%20Fuel%20Lock-v12Final_0.pdf
Engster, F. (n.d.). Das Außen des Kapitals. Landnahme als Produktion zusätzlicher Arbeitszeit und die Krise relativer Mehrwertproduktion. https://kapacc.blog.rosalux.de/files/2014/01/Engster-RLS-Workshop-2014.pdf
Luxemburg, R. (1923). Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus (Vol. 6). Vereinigung Internationaler Verlags-Anstalten. https://dn790008.ca.archive.org/0/items/gesammeltewerke00luxeuoft/gesammeltewerke00luxeuoft.pdf
Neumair, S.-M. (2018). Definition: Regulationstheorie. In Gabler Wirtschaftslexikon. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/regulationstheorie-42980/version-266317
Pineault, É. (2016). Moving Critique Beyond “Moses and the Prophets” Notes for an Ecological Political Economy of Degrowth in Advanced Capitalism. https://www.academia.edu/28940602/Moving_Critique_Beyond_Moses_and_the_Prophets_Notes_for_an_Ecological_Political_Economy_of_Degrowth_in_Advanced_Capitalism
Pineault, É. (2018a). From Provocation to Challenge: Degrowth, Capitalism and the Prospect of “Socialism without Growth”: A Commentary on Giorgios Kallis. Capitalism Nature Socialism, 30(2), 251–266. https://doi.org/10.1080/10455752.2018.1457064
Pineault, É. (2018b). The growth imperative of capitalist society. https://www.researchgate.net/publication/329558644_The_growth_imperative_of_capitalist_society_a_preliminary_exploration_of_some_issues
Pineault, É. (2023). A Social Ecology of Capital. Pluto Press.
Pineault, É., & Baroncelli, T. (Directors). (2023, July 12). Extraction, Destruction of Ecosystems, and Fires in North America [Audio and Video Podcast Episode]. https://theanalysis.news/extraction-destruction-of-ecosystems-and-fires-in-north-america-eric-pineault/
Schnaiberg, A. (1980). The environment, from surplus to scarcity. Oxford University Press.
Steffen, W., Broadgate, W., Deutsch, L., Gaffney, O., & Ludwig, C. (2015). The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. The Anthropocene Review, 2(1), 81–98. https://doi.org/10.1177/2053019614564785

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