Am Montag habe ich endlich Clay Shirkys Buch Here Comes Everybody ausgelesen. Ich habe bereits vor und während der Lektüre darüber gebloggt. Hier noch ein paar Bemerkungen:

Ich empfehle das Buch vor allem Leuten, die nicht jeden Tag mit sozialen Medien umgehen, aber wissen wollen, warum es sich dabei um ein wichtiges Thema handelt. Lehrer, Politiker oder Medienprofis erfahren von Shirky, dass Webmedien nicht ein Hobby von ein paar ausgeflippten Spinnern sind, sondern neue Kommunikationsformen, die die politischen und wirtschaftlichen Institutionen radikal verändern werden. Dabei predigt Shirky nicht, was er wünscht, sondern er verlässt sich auf ökonomische und soziologische Forschungen, die sich nur schwer angreifen lassen. Shirky ist kein Idealist, gegen Ende des Buches schreibt über die Dilemmas jeder Vergesellschaftung, etwa das Gefangenendilemma oder die einfache Tatsache, dass die Erleichterung der Gruppenbildung auch antisoziale Gruppen begünstigt. Soziale Medien sind Antworten auf diese Dilemmas, können sie aber nicht aufheben. Shirky ist nicht technophil: Für ihn erweisen sich die sozialen Folgen von Innovationen erst, wenn die Technik trivial geworden ist.

Ohne Markt und Firma

Shirky stützt sich vor allem auf Yochai Benklers Analysen der Transaktionskosten von Online-Organisationen. Online-Kommunikation verringert den Aufwand für Organisation und Administration radikal; völlig neue Formen der Kommunikation und Kooperation werden konkurrenzfähig. So behauptet sich die commons based peer production wirtschaftlich gegen die Arbeit von zentralisierten Organisationen oder die Akquise von Leistungen auf dem Markt. Weitere Ausgangspunkte bilden Erkenntnisse zur Mathematik kleiner und großer sozialer Gruppen. Shirky zeigt Zwangsläufigkeiten auf; er sucht nach Gesetzen oder Regeln, die sozialen Phänomenen zugrundeliegen. Er diskutiert aber nicht diese Gesetze selbst, sondern stellt ihre Folgen in allgemeinverständlicher Form dar. So hat er ein exzellentes wissenschaftsjournalistisches Buch geschrieben. Über seine Gewährsleute hinaus geht er darin, wie er unterschiedliche Erkenntnisse zu einem weitreichenden Konzept der Möglichkeiten von Online-Organisationen kombiniert.

Vom Teilen über die Kollaboration zur kollektiven Handlung

Shirky entwickelt ein Dreistufenmodell für soziale Praxis oder Gruppenbildung mit sozialen Medien (Web und Mobilkommunikation). Stufe 1 bildet das Teilen von Informationen, Stufe 2 das kollaborative Erstellen von Werken oder Software, Stufe 3 bilden kollektive Handlungen. (Surowiecki spricht zu Beginn von Wisdom of Crowds von drei Ebenen der kollektiven Intelligenz: Kognition, Koordination und Kooperation.) Beispiele für die Stufe 1 sind flickr und del.icio.us, Beispiele für die Stufe 2 Linux oder die Wikipedia. Beispiele für die Stufe 3 sind politische Aktionen, die über das Web organisiert wurden, z.B. Flashmob-Demonstrationen in Weißrussland oder die Durchsetzung einer bill of rights für Flugpassagiere in den USA. Auf allen drei Ebenen werden durch Online-Kommunikation hocheffiziente Organisationen möglich, die völlig unabhängig von bestehenden sozialen Verbänden, z.B. Parteien und Verlagen, sind und mit ihnen nur wenig Gemeinsamkeiten haben. Der Untertitel von Shirkys Buch drückt das aus: The Power of Organizing without Organizations.

publish, then filter und freedom to fail

Zu einer interessanten Lektüre machen Here Comes Everybody (der Titel stammt aus Finnegans Wake) nicht die theoretischen Konzepte, sondern viele Beispiele und Shirkys Fähigkeit zu pointierten Formulierungen. In seinen Fallstudien beschäftigt er sich vor allem damit, wie normale Menschen, nicht etwa Web-Experten, soziale Medien verwenden, um Gruppen zu bilden und ihre Ziele durchzusetzen: Stay at Home Moms verabreden ihre Treffen über Meetup; als Voice of the Faithful schließen sich katholische Laien online erfolgreich dagegen zusammen, dass die Amtskirche den Missbrauch von Kindern durch Geistliche vertuscht. Wie Shirky Dinge auf den Punkt bringt, zeigt die Überschrift seines Kapitels über die redaktionelle Kontrolle in Online-Medien: publish, then filter. Zu den Highlights des Buchs gehören für mich die Abschnitte über die Chancen des Scheiterns (freedom to fail): Gerade weil eine Unmenge von Online-Projekten daneben geht, kommt es zu Vorhaben, die die gesellschaftlichen Möglichkeiten deutlich erweitern — die Mutationsrate ist bei Online-Projekten weit höher als in der realen Welt. Im Gedächtnis bleiben wird mir auch, dass durch die Online-Medien Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit miteinander verschmelzen.

Ich wünsche mir auch, dass meine Studenten das Buch lesen. Ihr Berufsleben wird sich nicht mehr in einer Medienwelt abspielen, die durch den Mangel an Publikations- und Vertriebsmöglichkeiten bedingt war. Von Shirky könnten sie es lernen.

3 Kommentare zu “Organisieren ohne Organisation

  1. Es wird zum Ende hin nicht schlechter … (Hatte beim Schreiben deine Bemerkung vom PolitCamp im Ohr;-).) Habe einiges nicht erwähnt, z.B. was er über die Bildung von Sozialem Kapital/Vertrauen Schreibt, Begriffe wie bridging und bonding capital. Das muss ich mir noch einmal zu Gemüte führen. Einiges, vor allem aus dem letzten Kapitel, lässt sich auch direkt in Praxis übersetzen.

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